Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 11.01.2012, Az. 9 B 55/11

9. Senat | REWIS RS 2012, 10236

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Gegenstand

Versäumung der Beschwerdefrist; Verschulden; Organisationsmangel


Leitsatz

Die Berechnung der Frist für die Beschwerdeeinlegung nach § 133 Abs. 2 Satz 1 VwGO gehört - anders als die Beschwerdebegründungsfrist nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO - zu den Fristen, deren Überwachung einer zuverlässigen Büroangestellten übertragen werden darf. Die Versäumung der Beschwerdefrist ist dem Prozessbevollmächtigten dann nicht zuzurechnen, wenn sie auf dem Verschulden einer sonst zuverlässigen Büroangestellten beruht, ohne dass ein Organisationsmangel hierfür ursächlich gewesen wäre. Ein Organisationsmangel liegt vor, wenn nicht durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt ist, dass der Tag des Urteilseingangs dokumentiert und Beginn und Ende der Beschwerdefrist unverzüglich eingetragen werden. Entsprechende organisatorische Maßnahmen sind insbesondere erforderlich, wenn die Aufgaben der Posteingangs- und Fristenkontrolle im zeitlichen Wechsel von verschiedenen Mitarbeitern wahrgenommen werden.

Gründe

1

Die [X.]eschwerde ist unzulässig. Denn sie ist nicht innerhalb der einmonatigen Frist gemäß § 133 Abs. 2 Satz 1 VwGO eingelegt worden. Dem Kläger ist auch nicht auf seinen Antrag hin wegen der Versäumung der [X.]eschwerdefrist gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er hat nicht glaubhaft gemacht, dass seine Prozessbevollmächtigten, deren Verhalten ihm gemäß § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert waren.

2

Die Prozessbevollmächtigten des [X.] haben mit dem Wiedereinsetzungsantrag unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung vorgetragen, die für die Fristenkontrolle zuständige Mitarbeiterin habe als Datum für den [X.]eginn der Rechtsmittelfrist versehentlich den Tag nach dem Eingang des Urteils notiert, weil ihr an diesem Tag das Urteil zur Fristenkontrolle vorgelegt worden sei und sie das tatsächliche Eingangsdatum nicht wahrgenommen habe. Demzufolge sei der Fristablauf auch einen Tag zu spät festgelegt worden. Rechtsanwalt E. sei die [X.]eschwerdeschrift erst an diesem Tag zur Unterschrift vorgelegt worden. Die zuständige Mitarbeiterin sei im Wechsel mit anderen Mitarbeiterinnen für die Posteingangs- und Fristenkontrolle zuständig gewesen. Ihre Arbeit habe keine Veranlassung zu [X.]eanstandungen gegeben. Die Rechtsanwälte der Kanzlei hätten sich darauf verlassen können, dass von ihr bearbeitete und notierte [X.] ordnungsgemäß gewesen seien.

3

Damit ist nicht glaubhaft gemacht, dass die Prozessbevollmächtigten des [X.] kein Verschulden an der Versäumung der [X.]eschwerdefrist trifft (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Zwar darf der Rechtsanwalt die [X.]earbeitung prozessualer Fristen und damit auch die Fristenkontrolle geschultem und bewährtem [X.]üropersonal überlassen, wenn es sich um einfache, in dem [X.]üro geläufige Fristen handelt. Der Rechtsanwalt muss aber durch organisatorische Vorkehrungen sicherstellen, dass die jeweilige Frist in geeigneter Form zuverlässig notiert wird ([X.]eschlüsse vom 26. Juni 1986 - [X.]VerwG 3 C 46.84 - [X.]VerwGE 74, 289 <293 f.> und vom 3. Dezember 2002 - [X.]VerwG 1 [X.] - [X.] 310 § 124a VwGO Nr. 24 S. 27). Er hat darauf zu achten, dass unverzüglich nach Eingang eines fristauslösenden Schriftstücks [X.]eginn und Ende der Frist in das Fristenbuch oder den Fristenkalender eingetragen werden ([X.]eschluss vom 29. November 2004 - [X.]VerwG 5 [X.] 105.04 - [X.] 310 § 60 VwGO Nr. 255; [X.]GH, [X.]eschluss vom 5. Februar 2003 - VIII Z[X.] 115/02 - NJW 2003, 1815 <1816>; vgl. auch [X.]ier, in: [X.]/[X.]/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand Juni 2011, § 60 Rn. 42). Die Fristversäumung ist dem Prozessbevollmächtigten dann nicht zuzurechnen, wenn sie auf dem Verschulden einer sonst zuverlässigen [X.]üroangestellten beruht, ohne dass ein Organisationsmangel hierfür ursächlich gewesen wäre.

4

Die Prozessbevollmächtigten des [X.] haben keine Tatsachen dargelegt, die den Schluss zulassen, dass sie diesen Anforderungen genügt haben. Zwar gehört die Frist für die [X.]eschwerdeeinlegung nach § 133 Abs. 2 Satz 1 VwGO - anders als die [X.]eschwerdebegründungsfrist nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO - zu den Fristen, deren Überwachung einer zuverlässigen [X.]üroangestellten übertragen werden darf (vgl. [X.]eschlüsse vom 4. August 2000 - [X.]VerwG 3 [X.] 75.00 - [X.] 310 § 60 VwGO Nr. 235 S. 23 und vom 18. Juni 2009 - [X.]VerwG 5 [X.] 32.09 - [X.] 310 § 60 VwGO Nr. 265 Rn. 2). Dem Vorbringen lässt sich jedoch nicht entnehmen, durch welche organisatorischen Maßnahmen sichergestellt ist, dass zugestellte Urteile unverzüglich und unter sorgfältiger Prüfung des [X.] im Fristenbuch erfasst werden. Wie die Prozessbevollmächtigten unter Vorlage der eidesstattlichen Versicherung der zuständigen Mitarbeiterin vorgetragen haben, wurde dieser das Urteil erst am Tag nach dessen Eingang zur Fristeneintragung vorgelegt. Erst dadurch, verbunden mit dem Fehlen eines Eingangsstempels auf dem Urteil selbst, konnte bei ihr der Eindruck entstehen, dass das Urteil an diesem Tag eingegangen sei, weshalb sie die Fristberechnung entsprechend vornahm. Aus dem Vorbringen ergibt sich jedoch nicht, dass der Eingang jedes fristauslösenden Schriftstückes sofort durch einen Eingangsstempel oder eine entsprechende Eintragung zu dokumentieren war. Ebenso wenig ist ihm zu entnehmen, dass [X.]eginn und Ende der Frist unverzüglich zu notieren waren und welche Vorkehrungen getroffen waren, um für den Fall, dass dies ausnahmsweise nicht sofort erfolgen konnte, sicherzustellen, dass die Frist später richtig eingetragen wurde. Derartige organisatorische Maßnahmen sind gerade dann erforderlich, wenn, wie hier, die Aufgaben der Posteingangs- und Fristenkontrolle im zeitlichen Wechsel von verschiedenen Mitarbeitern wahrgenommen werden. Die Eintragung in das Fristenbuch am Tag nach dem Eingang legt den Schluss nahe, dass es keine solche Anweisung gab. Dass bisher die Tätigkeit der zuständigen Mitarbeiterin zu keinerlei [X.]eanstandungen veranlasst hat, gebietet keine andere [X.]eurteilung. Selbst wenn es bisher nicht zu Komplikationen bei [X.] gekommen ist, belegt dies die Tauglichkeit der [X.]üroorganisation für eine zuverlässige Fristenkontrolle nicht.

Meta

9 B 55/11

11.01.2012

Bundesverwaltungsgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 7. April 2011, Az: 14 A 1575/09, Urteil

§ 133 Abs 2 S 1 VwGO, § 85 Abs 2 ZPO, § 60 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 11.01.2012, Az. 9 B 55/11 (REWIS RS 2012, 10236)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 10236

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