Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18.12.2014, Az. VI R 21/13

6. Senat | REWIS RS 2014, 177

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Änderungsbefugnis wegen neuer Tatsachen bei Aufnahme von Vorläufigkeitsvermerken


Leitsatz

1. Wird ein Steuerbescheid geändert und sind dabei bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden, sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen.

2. Ist das FA hingegen im Rahmen der Änderung eines Steuerbescheids zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen nicht verpflichtet, bleibt eine Änderung nach § 173 AO möglich. Davon ist insbesondere bei der Änderung eines Steuerbescheids nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und in Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO auszugehen.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 19. März 2013  8 K 516/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob der Einkommensteuerbescheid 2004 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung ([X.]) geändert werden durfte.

2

Nach Eingang der Einkommensteuererklärung der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) am 29. März 2006 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) mit Bescheid vom 26. Juni 2006 gegenüber der Klägerin die Einkommensteuer für das Streitjahr (2004) fest. Gegen diese Steuerfestsetzung legte die Klägerin am 7. Juli 2006 Einspruch ein. Sie beantragte wegen des Todes ihres Ehemannes im Juli 2004 die Berücksichtigung eines Entlastungsbetrages für Alleinerziehende gemäß § 24b des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 654 €. Darüber hinaus bat sie um Ruhen des Verfahrens hinsichtlich folgender Punkte wegen anhängiger Musterverfahren beim [X.] ([X.]) bzw. beim [X.] (BVerfG):

3

- Vollständiger Abzug der Arbeitnehmeranteile für die
  Rentenversicherung als Sonderausgaben gemäß § 10 EStG
- Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags
- Kürzung des [X.] bei Zusammenveranlagung
- unbeschränkter Abzug von [X.]
  als Vorsorgeaufwendungen.

4

Am 13. Juli 2006 erließ das [X.] einen Änderungsbescheid. In den Erläuterungen dazu heißt es: "Aufgrund Ihres Einspruchs wurde noch ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gewährt. Der Einspruch erledigt sich hierdurch nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Teilabhilfe. Ihrem Antrag auf Ruhen des Verfahrens bzgl. der anhängigen Verfahren wird zugestimmt."

5

Gegen den Änderungsbescheid vom 13. Juli 2006 legte die Klägerin am 17. Juli 2006 erneut Einspruch ein und trug vor, dass der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende zu Unrecht nur in Höhe von 545 € gewährt worden sei. Mit Bescheid vom 24. Juli 2006 berücksichtigte das [X.] den Entlastungsbetrag in voller Höhe. In den Erläuterungen dazu heißt es (wiederum): "Aufgrund Ihres Einspruchs wurde noch ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende in Höhe von 654 € gewährt. Der Einspruch erledigt sich hierdurch nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Teilabhilfe. Ihrem Antrag auf Ruhen des Verfahrens bzgl. der anhängigen Verfahren wird zugestimmt."

6

Mit Schreiben vom 23. April 2009 teilte das [X.] der Klägerin mit, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht länger in Betracht komme. Es stellte der Klägerin jedoch in Aussicht, hinsichtlich einiger im Einzelnen aufgeführter Punkte "im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm" die Steuerfestsetzung vorläufig vorzunehmen. Am Ende des Schreibens heißt es: "Die für Sie in Betracht kommenden Vorläufigkeitspunkte werden programmgesteuert für jeden Veranlagungszeitraum ermittelt! Sie werden gebeten, bis spätestens 10.05.2009 mitzuteilen, ob Sie mit der Erledigung des o.g. Einspruchs in vorgenannter Weise einverstanden sind."

7

Mit Bescheid vom 15. Juni 2009 verfuhr das [X.] wie angekündigt und nahm entsprechende Vorläufigkeitsvermerke in den Bescheid auf. Im Übrigen blieb dieser --auch betragsmäßig-- unverändert. In den Erläuterungen wurde der Klägerin mitgeteilt, dass sich ihr Einspruch/Antrag vom 5. Dezember 2005 dadurch erledigt habe.

8

Am 9. März 2010 erließ das [X.] erneut einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in dem eine Prüfungsmitteilung vom 6. März 2008, resultierend aus einer beim Arbeitgeber der Klägerin durchgeführten [X.], ausgewertet wurde. Angesetzt wurde ein geldwerter Vorteil aufgrund einer Kfz-Überlassung an die Klägerin. Der Bescheid enthält die Feststellung: "Der Bescheid ist nach § 129 [X.] berichtigt."

9

Gegen den geänderten Bescheid legte die Klägerin am 29. März 2010 Einspruch ein. Sie führte aus, dass § 129 [X.] nicht die richtige Änderungsvorschrift sei. [X.] sei vielmehr § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.]. Zum Zeitpunkt der Änderung am 15. Juni 2009 (Vornahme der Vorläufigkeitsvermerke) seien die Feststellungen der [X.] bereits bekannt gewesen. Bei der erneuten Änderung am 9. März 2010 seien die fraglichen Feststellungen nicht mehr neu gewesen. Eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] scheide daher aus.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wies das [X.] ([X.]) als unbegründet ab.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.

Sie beantragt,
das Urteil des [X.] Baden-Württemberg vom 19. März 2013  8 K 516/11 und den Einkommensteuerbescheid 2004 vom 9. März 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 4. Januar 2011 aufzuheben.

Das [X.] beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung ([X.]O). Der [X.] hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 [X.]O). Zu Recht hat das [X.] entschieden, dass der Änderungsbescheid 2004 vom 9. März 2010 rechtmäßig ist.

1. [X.]ach § 173 Abs. 1 [X.]r. 1 [X.] sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.

a) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 [X.] ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. [X.]-Urteil vom 19. Februar 2013 IX R 24/12, [X.], 265, [X.], 484, m.w.[X.]., und [X.] vom 19. Oktober 2011 [X.], [X.], 227, m.w.[X.].).

b) [X.]achträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist ([X.]surteil vom 13. Juni 2012 VI R 85/10, [X.], 295, [X.], 5). Maßgeblich ist grundsätzlich der letzte [X.], der für eine abschließende Sachprüfung in Betracht kommt (von [X.]/[X.] --[X.]--, § 173 [X.] Rz 212).

aa) Ist der ursprüngliche Steuerbescheid (hier der Teilabhilfebescheid vom 24. Juli 2006) geändert und sind im Änderungsbescheid (hier vom 15. Juni 2009) bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt worden (hier die Prüfungsmitteilung vom 6. März 2008), sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 [X.] nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 [X.] Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungs[X.] zu berücksichtigen. Denn der Änderungsbescheid tritt verfahrensrechtlich an die Stelle des ursprünglichen [X.]s ([X.]-Urteil vom 13. September 2001 IV R 79/99, [X.], 195, [X.], 2). Tatsachen und Beweismittel, die bei der abschließenden Zeichnung des Änderungs[X.] schon vorhanden waren, aber nicht berücksichtigt wurden, berechtigen nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zur Korrektur nach § 173 [X.] (von [X.] in [X.], § 173 [X.] Rz 212 f.; [X.]/Rüsken, [X.], 12. Aufl., § 173 Rz 54 f.; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 [X.] Rz 50; von [X.] in [X.], [X.] § 173 Rz 49; [X.] in [X.]/ [X.] [X.], § 173 Rz 18).

bb) Verpflichtet hingegen die beabsichtigte Änderung nach ihrer Art nicht zur weiteren Sachprüfung, bleibt eine spätere Änderung des (vorherigen) Änderungs[X.] nach § 173 [X.] möglich. Eine solche Pflicht zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen besteht insbesondere nicht bei Änderungen nach § 175 Abs. 1 Satz 1 [X.]r. 1 [X.], bei denen das Finanzamt den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernehmen muss ([X.]-Urteil vom 12. Januar 1989 IV R 8/88, [X.], 4, [X.] 1989, 438; von [X.] in [X.], § 173 [X.] Rz 212, 214; [X.]/Rüsken, a.a.[X.], § 173 Rz 54 f.; [X.], a.a.[X.], § 173 [X.] Rz 50; von [X.], [X.] § 173 Rz 49; [X.], a.a.[X.], § 173 Rz 18). Entsprechendes gilt --wie das [X.] zutreffend erkannt hat-- in Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 [X.]r. 3 [X.]. Auch in diesen Massenrechtsbehelfsverfahren, die allein darauf abzielen, dem Steuerpflichtigen eine spätere materielle Änderung zu ermöglichen, wenn das Musterverfahren Erfolg hat, ist das Finanzamt lediglich zu einer punktuellen Überprüfung des Steuer[X.] im Hinblick auf den [X.] verpflichtet. Denn § 165 Abs. 1 Satz 2 [X.] erlaubt eine vorläufige Steuerfestsetzung nur im Rahmen der dort aufgeführten Katalogtatbestände. [X.]ur soweit im Einzelfall eine dort benannte "Ungewissheit über das anzuwendende Recht" vorliegt, darf insbesondere zur Vermeidung von Massenrechtsbehelfsverfahren eine Vorläufigkeitserklärung erfolgen. Darüber haben die Finanzbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 [X.]) zu entscheiden. Dementsprechend wird dem Antrag (Einspruch) des Steuerpflichtigen, den Einkommensteuerbescheid hinsichtlich einer der in § 165 Abs. 1 Satz 2 [X.] benannten [X.] für vorläufig zu erklären, ohne nähere Prüfung stattgegeben, sofern dies verwaltungsinternen Anweisungen entspricht. Deshalb brauchen auch bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 [X.] andere als die die Ungewissheit betreffenden Tatsachen nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie den Finanzbehörden zum Zeitpunkt dieser Änderung bekannt sind oder als Bestandteil der Akten des zu veranlagenden Steuerpflichtigen als bekannt gelten ([X.]surteile in [X.], 295, [X.], 5, und vom 13. Januar 2011 VI R 61/09, [X.], 5, [X.] 2011, 479, jeweils m.w.[X.]). Vielmehr ist insoweit auch nach der Vorläufigkeitserklärung noch eine Änderung nach § 173 [X.] möglich ([X.] in [X.], [X.], § 173 Rz 114; von [X.], a.a.[X.], [X.] § 173 Rz 49; [X.], a.a.[X.], § 173 Rz 18; [X.]/Rüsken, a.a.[X.], § 173 Rz 57; [X.] Düsseldorf vom 18. September 1996  7 K 1562/91 [X.], Entscheidungen der Finanzgerichte 1997, 140).

2. [X.]ach diesen Grundsätzen hat das [X.] zutreffend entschieden, dass der Einkommensteuerbescheid 2004 vom 15. Juni 2009 durch das [X.] nach § 173 Abs. 1 [X.]r. 1 [X.] geändert werden durfte und der Änderungsbescheid 2004 vom 9. März 2010 rechtmäßig ist.

a) Zutreffend gehen die Beteiligten übereinstimmend davon aus, dass der geldwerte Vorteil aus der Überlassung eines betrieblichen PKW auch zur privaten [X.]utzung eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 [X.] ist.

b) Entgegen der Auffassung der Revision ist diese Tatsache dem [X.] erst nach dem Erlass des Einkommensteuer([X.])[X.] vom 15. Juni 2009 und damit nachträglich bekannt geworden. Denn vorliegend hat das [X.] die (mehrfach geänderte) Einkommensteuerfestsetzung 2004 mit [X.] vom 15. Juni 2009 lediglich insoweit geändert, als es die ursprüngliche Steuerfestsetzung im Hinblick auf beim [X.] und beim [X.] anhängige Musterverfahren gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 [X.] für vorläufig erklärt hat. Zu einer über die Rechtmäßigkeit dieser Änderung hinausgehenden materiellen Überprüfung dieses Steuer[X.] war das [X.] dabei nicht verpflichtet. Damit gelten die Erkenntnisse aus der Prüfungsmitteilung vom 6. März 2008 als neu, auch wenn diese zum Zeitpunkt der punktuellen Änderung der Steuerfestsetzung mit [X.] vom 15. Juni 2009 bereits Inhalt der Akten waren.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VI R 21/13

18.12.2014

Bundesfinanzhof 6. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 19. März 2013, Az: 8 K 516/11, Urteil

§ 175 Abs 1 S 1 Nr 1 AO, § 173 Abs 1 Nr 1 AO, § 165 Abs 1 S 2 Nr 3 AO, § 88 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18.12.2014, Az. VI R 21/13 (REWIS RS 2014, 177)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 177

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

VI R 22/13 (Bundesfinanzhof)

(Inhaltsgleich mit BFH-Urteil vom 18.12.2014 VI R 21/13 - Änderungsbefugnis wegen neuer Tatsachen bei Aufnahme …


12 K 560/15 (FG München)

Einkommen, Bescheid, Dienststelle, Einkommensteuerbescheid, Steuerfestsetzung, Feststellung, Gesellschaft, Verletzung, Finanzamt, Einkommensteuer, Einspruch, Kenntnis, Zeitpunkt, Veranlagung, neue …


X R 31/14 (Bundesfinanzhof)

(Irrige Beurteilung als Voraussetzung, einen Steuerbescheid gemäß § 174 Abs. 4 AO zu ändern)


X B 19/20 (Bundesfinanzhof)

(Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, obwohl die Tatsache bei einem vorangegangenen …


III R 12/12 (Bundesfinanzhof)

Überlassung einer komprimierten "Elster"-Einkommensteuererklärung: Grobes Verschulden des steuerlichen Beraters


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.