Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.05.2012, Az. IV ZR 1/11

IV. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 6602

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
IV ZR 1/11

Verkündet am:

9. Mai 2012

Heinekamp

Justizhauptsekretär

als Urkundsbeamter

der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk: ja

[X.]Z: nein

[X.]R: ja

BGB § 313; [X.] §§ 23 ff., 194 Abs. 1 Satz 2

Die Geschlechtsumwandlung eines ursprünglich männlichen Versicherungsnehmers berechtigt den privaten Krankenversicherer nicht, die versicherte Person abweichend vom vertraglich vereinbarten [X.] in den [X.] einzustufen.

[X.], Urteil vom 9. Mai 2012 -
IV ZR 1/11 -
LG Coburg

[X.]

-
2
-

Der IV.
Zivilsenat des [X.] hat durch die
Vorsitzende Richterin
Mayen, die Richter [X.], [X.],
Lehmann
und die Richterin Dr. Brockmöller
auf die mündliche Verhandlung vom 9.
Mai
2012

für Recht erkannt:

Auf die
Revision der Klägerin wird
das Urteil des [X.]

3.
Zivilkammer

vom 10.
Dezember
2010 aufgehoben.

Die Berufung der [X.] gegen das Teilurteil des Amtsgerichts Coburg
vom 10.
Mai
2010 wird zurückge-wiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten der Rechtsmittelverfahren.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

[X.] Die transsexuelle Klägerin, die als [X.] geboren wurde, sich aber als dem weiblichen Geschlecht zugehörig empfand, ließ im Jahre 2005 gemäß §
1 des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen

Trans-sexuellengesetz ([X.])

ihren Vornamen ändern und nahm einen weibli-chen Vornamen an; sie ließ ferner operative Eingriffe zur deutlichen An-näherung an das Erscheinungsbild des weiblichen Geschlechts durchfüh-ren. Einen Antrag nach §
8 [X.] auf Feststellung der Zugehörigkeit zum 1
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weiblichen Geschlecht hat sie nicht gestellt, obwohl unstreitig alle [X.] dafür vorliegen, dass einem entsprechenden Antrag stattgegeben werden müsste. Die Parteien streiten darüber, ob die
Klä-gerin
nunmehr für
die bei der [X.] unterhaltene Kranken-
und Pfle-geversicherung den Männer-
oder den [X.] zu zahlen hat.

Die Beklagte, die die durchgeführten Operationen bezahlt hatte, stufte die Klägerin ab 1.
Januar 2009 in den [X.] ein. Sie meint,
die Klägerin müsse sich als Frau behandeln lassen.

Die verheiratete Klägerin, die die Prämien insoweit unter Vorbehalt zahlte, um ihren Versicherungsschutz nicht zu gefährden, meint, solange kein Gerichtsbeschluss nach §
10
[X.] vorliege, mit dem festgestellt wird, dass sie als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist, ha-be die Beklagte keinen Anspruch auf die für Frauen geltenden Beiträge. Ob sie, die Klägerin, einen solchen Antrag stelle, sei ihre [X.] Entscheidung. Sie
behauptet, den Antrag nach §
8 [X.] nicht stellen zu wollen, weil es ihrer Ehefrau nicht zuzumuten sei, rechtlich mit einer Frau verheiratet zu sein.

Mit der Klage begehrt sie einerseits die Feststellung, dass die [X.] lediglich die für Männer geltenden Beiträge erheben darf, ande-rerseits im Wege der Stufenklage Auskunft über die diesbezüglichen [X.] und 2010 und
die Erstattung gezahlter und zukünftig zu zah-lender Differenzbeträge.

Das Amtsgericht hat durch Teilurteil dem Feststellungs-
und dem Auskunftsanspruch stattgegeben. Auf die Berufung der [X.] hat 2
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das Landgericht die Klage insgesamt abgewiesen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision,

Entscheidungsgründe:

Die Revision hat Erfolg.

[X.] Das Berufungsgericht
hat ausgeführt, die Klägerin sei eine Frau,
da die Voraussetzungen gemäß §
8 [X.] bei ihr unstreitig vorlägen. [X.] könne sie sich nach [X.] und Glauben nicht darauf berufen, ei-nen Antrag gemäß §
8 [X.] nicht gestellt zu haben.

Die Vorschrift des §
162 BGB,
die den allgemeinen Rechtsgedan-ken enthalte, dass niemand aus einem von ihm treuwidrig [X.] oder verhinderten Ereignis Vorteile herleiten dürfe, sei entsprechend anzuwenden. Vorliegend verstoße die Berufung der Klägerin auf die noch nicht
ergangene Entscheidung gemäß §
10 [X.] gegen das Verbot des [X.], nachdem die Beklagte im Zuge der Geschlechtsumwandlung nicht unerhebliche Aufwendungen geleistet ha-be. Auch der von ihr beauftragte Sachverständige habe bescheinigt, dass eine Personenstandsänderung für die Klägerin aus psychologi-schen Gründen sinnvoll und erforderlich sei und sie entsprechend ihrer Geschlechtsidentität behandelt werden solle.
Aus §
10 [X.] sei kein Ver-bot zu entnehmen,
eine [X.]-zur-Frau-Transsexuelle schon
vor dieser Entscheidung im bürgerlichen Rechtsverkehr als Frau zu behandeln.

I[X.] Das
hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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1. Der Senat lässt offen, ob unterschiedliche Krankenversiche-rungstarife mit Geschlechterdifferenzierung und damit die Ausnahmere-gelung des §
20 Abs.
2 Satz
1 AGG vor Art.
3 Abs.
2 GG Bestand haben. Auf diese im Schrifttum kontrovers beantwortete Frage (vgl. nur [X.]/
[X.], NJW 2004, 1623
ff.
einerseits und Wandt, [X.], 1341
ff.
andererseits) kommt es nicht an, weil
ein Recht der [X.], die Klä-gerin in einen anderen als den bei Vertragsschluss vereinbarten Tarif einzuordnen, auch bei einer Verfassungskonformität der gesetzlichen Regelung des §
20 Abs.
2 Satz
1 AGG nicht besteht.

2. Die Beklagte dürfte die Klägerin nur dann abweichend von dem vertraglich vereinbarten Tarif einstufen, wenn ihr ein entsprechender [X.] auf Vertragsänderung zustünde. Eine Anspruchsgrundlage hierfür ist jedoch nicht ersichtlich.

a) Sie findet sich insbesondere nicht in den
Vorschriften des [X.].

aa) Selbst nach Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung ge-mäß
§
10 [X.]
verpflichten weder dieses Gesetz noch der Versiche-rungsvertrag in der bestehenden Fassung die Klägerin zur Zahlung einer höheren Prämie als im Vertrag vereinbart.

Das Gesetz regelt die Höhe der Versicherungsprämie nicht. Es ist auch nicht vorgetragen, dass der konkret abgeschlossene Vertrag eine Vereinbarung zu unterschiedlichen Prämienhöhen je nach Geschlecht des Versicherten enthält.
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bb) Besteht auch nach Erlass eines Beschlusses gemäß §
10 [X.] kein Anspruch der [X.] auf eine höhere Prämie, kann es sich inso-weit nicht zum Nachteil der Klägerin auswirken, dass sie keinen
Antrag nach §
8 [X.] gestellt hat. Auf die Nachvollziehbarkeit der von
ihr hierfür angegebenen Gründe kommt es nicht an. Der Rechtsgedanke des §
162 BGB ist nicht einschlägig.

b)
Ferner liegt kein
Fall einer Prämienanpassung nach §
203 Abs.
2 [X.] vor. Diese Bestimmung regelt allein die Prämienanpassung innerhalb eines konkreten Tarifs. Einen Anspruch auf Tarifwechsel hat der Gesetzgeber in
§
204 [X.]
nur als einseitiges Recht des [X.] geregelt.

c) Schließlich ergibt sich ein Anspruch der [X.] auf [X.] nicht aus einer Störung
der Geschäftsgrundlage, §
313 BGB.

aa) Hierfür kann es dahinstehen, ob die Eigenschaft der Klägerin als "[X.]", die mitbestimmend für die ursprüngliche Tarifeinstufung ge-wesen sein dürfte,
damit
als Geschäftsgrundlage für den [X.] mit seinem konkret vereinbarten Inhalt anzusehen
ist.

bb) Selbst wenn man dieses annimmt, berechtigt die Geschlechts-änderung der Klägerin

mag sie auch
ungeachtet des gesetzlichen Per-sonenstands
in physischer, psychischer und [X.] Hinsicht vollzogen sein, wie das Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht unangegriffen festgestellt hat

die Beklagte nicht zur Vertragsanpassung, wie sich aus den spezialgesetzlichen Bestimmungen im [X.] ergibt.

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(1)
Die höheren Tarife für Frauen in der Krankenversicherung sind wesentlich einer statistisch höheren Lebenserwartung geschuldet, nach-dem die Kosten für Schwangerschaft und Geburt gemäß §
20 Abs.
2 Satz
2 AGG nicht mehr in eine differenzierende Prämienkalkulation ein-fließen dürfen. Geht man davon
aus, dass die Klägerin in physischer, psychischer und [X.] Hinsicht nunmehr der

versicherungsrechtlich zulässig gebildeten

Risikogruppe "Frau" angehört, so hat sich damit das von individuellen Umständen unabhängige und abstrakt zu sehende Leistungsrisiko für die Beklagte
erhöht.

Grundsätzlich sind die Folgen nachträglicher Risikoerhöhungen nach Abschluss des Versicherungsvertrages vom Gesetzgeber in den Vorschriften über die Gefahrerhöhung (§§
23
ff. [X.]) geregelt. Insoweit lässt sich §
25 [X.] der Grundsatz entnehmen, dass der Versicherer ein nachträglich erhöhtes Risiko nur gegen Zahlung einer erhöhten Prämie abdecken muss.

(2) Jedoch kann dieser Grundsatz hier nicht zum Zuge kommen, weil der Gesetzgeber ihn für die Krankenversicherung gerade ausge-schlossen hat.
Die Ausnahmevorschrift des §
194 Abs.
1 Satz 2 [X.] be-stimmt, dass die §§
23 bis 27 und 29 auf die Krankenversicherung nicht anzuwenden sind. Damit hat der Gesetzgeber dem Versicherer das [X.] nachträglicher Gefahrerhöhungen in der Krankenversicherung [X.] auferlegt. Ob es dabei um eine individuelle Risikoerhöhung beim Versicherungsnehmer oder um eine Erhöhung des abstrakt zu sehenden [X.] aufgrund statistischer Zuordnungen geht, ist unerheblich (vgl. [X.] in [X.]/[X.], [X.] 28. Aufl.
§
23 Rn.
14 und §
25 Rn.
6). Diese gesetzliche Risikoverteilung ist gemäß §
313 Abs.
1 BGB bei der Frage nach der Zumutbarkeit eines unveränderten Festhaltens am Ver-20
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trag für den Versicherer zu berücksichtigen; sie schließt einen Anspruch auf Tarifänderung
aus.

(3) Im Streitfall kommt hinzu, dass die Gefahrerhöhung auf einem Versicherungsfall beruht. Die jetzt eingetretene Zugehörigkeit der Kläge-rin zu einer unter [X.] gebildeten anderen [X.]gruppe ist eine Folge der bei ihr aufgetretenen Transsexualität, die als Krankheit von Anfang an versichert war. Eine darin liegende Gefahrerhö-hung wäre deshalb selbst bei einer Anwendbarkeit der §§
23 ff. [X.] als ein nach den Umständen mitversichertes Risiko anzusehen, §
27 [X.].

Mayen

[X.]

[X.]

Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 10.05.2010 -
14 C 1712/09 -

LG Coburg, Entscheidung vom 10.12.2010 -
33 [X.]/10 -

23

Meta

IV ZR 1/11

09.05.2012

Bundesgerichtshof IV. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 09.05.2012, Az. IV ZR 1/11 (REWIS RS 2012, 6602)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6602

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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IV ZR 1/11

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