Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.11.2017, Az. 1 StR 150/17

1. Strafsenat | REWIS RS 2017, 1850

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Gegenstand

Verhängung kurzer Freiheitsstrafen bei einer Tatserie von Fällen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt und der Steuerhinterziehung: Erforderlichkeit der Erörterung der Unerlässlichkeit kurzer Freiheitsstrafen bei Überschreitung einer Schadensschwelle von 2.000 Euro


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 14. Oktober 2016

a) in den Fällen C.I.5. Nr. 73 bis 107 der Urteilsgründe aufgehoben und das Verfahren insoweit eingestellt; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;

b) im Schuldspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 347 Fällen sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer in 59 Fällen schuldig ist;

c) im Strafausspruch aufgehoben

aa) hinsichtlich der Einzelstrafen in den Fällen C.I.5. Nr. 128, 175, 176, 179, 212 bis 217, 222, 234 bis 237, 322 bis 327, 330, 333 bis 338, 342 bis 350, [X.] Nr. 26 bis 30, C.I.8. Nr. 1 bis 7, 9, 10, 12 bis 19, 21, 22 und 24 bis 29 der Urteilsgründe sowie

bb) bezüglich der Gesamtstrafe.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung zum Strafausspruch wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 382 Fällen in Tatmehrheit mit 59 Fällen der Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Hinblick auf eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung hat es hiervon vier Monate für vollstreckt erklärt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel erzielt den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg.

2

1. Soweit das [X.] den Angeklagten in den Fällen [X.] bis 107 der Urteilsgründe ([X.] f., 143 f.) wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB) für die Monate November 2005 bis September 2008 zum Nachteil der D.           verurteilt hat, ist das Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und das Verfahren einzustellen (§ 206a Abs. 1 StPO). Der Verurteilung steht entgegen, dass das [X.] das Verfahren hinsichtlich dieser Taten in der Hauptverhandlung gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt hat ([X.]. 137, 139 f., vgl. auch [X.]). Mit dieser Verfahrenseinstellung entstand ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis, zu dessen Beseitigung ein förmlicher [X.] gemäß § 154 Abs. 5 StPO erforderlich ist (vgl. [X.], Beschlüsse vom 3. August 2016 - 5 StR 313/16 und vom 18. April 2007 - 2 [X.], [X.], 476 mwN). Einen solchen Beschluss hat das [X.] jedoch nicht erlassen.

3

Das Verfahrenshindernis hat zur Folge, dass der Angeklagte - neben den Taten der Steuerhinterziehung - lediglich in 347 Fällen wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt verurteilt ist. Der Schuldspruch ist daher entsprechend abzuändern. Die für die Fälle [X.] bis 107 der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen entfallen.

4

2. Die in den 67 Fällen, in denen die „Schäden“ die [X.] von 2.000 Euro erreicht oder überschritten hatten, verhängten Einzelstrafen - zugleich die Einsatzstrafe - von jeweils drei Monaten Freiheitsstrafe halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

5

a) Zwar begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass das [X.], das die Einzelstrafen den Strafrahmen des § 266a Abs. 1 und 2 StGB und des § 370 Abs. 1 AO entnommen hat, angesichts der gleichgelagerten Begehungsformen eine Kategorisierung nach der Schadenshöhe vorgenommen hat (vgl. [X.], Urteil vom 25. April 2017 - 1 [X.], Rn. 32 mwN, [X.], 400). Jedoch fehlt es an einer tragfähigen Begründung für die Wertung des [X.]s, dass kurze Freiheitsstrafen „jedenfalls bei Schäden ab 2.000 Euro in jedem einzelnen Fall unerlässlich“ waren ([X.] 196).

6

Gemäß § 47 Abs. 1 StGB verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe von unter sechs Monaten nur dann, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des [X.] liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen. Dies kann auch bei einer Vielzahl von Einzelfällen mit insgesamt hohem Schaden der Fall sein (vgl. [X.], Beschlüsse vom 5. September 1995 - 1 [X.] [insoweit in NStZ 1996, 351 nicht abgedruckt] und vom 6. Juni 1994 - 5 StR 229/94; Urteil vom 8. April 2004 - 3 [X.], [X.], 554 sowie [X.] in Satzger/Schluckebier/[X.], StGB, 3. Aufl., § 47 Rn. 13). In Fällen sachlich und zeitlich ineinander verschränkter Vermögensdelikte, von denen die gewichtigeren die Verhängung von [X.] von sechs Monaten und mehr gebieten, liegt dabei die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen nach § 47 StGB auch in den Einzelfällen mit geringeren Schäden nahe ([X.], Urteile vom 19. Dezember 2000 - 5 StR 490/00, [X.]R StGB § 47 Abs. 1 Umstände 8 und vom 17. März 2009 - 1 [X.] Rn. 48, [X.]St 53, 221, 232).

7

Eine solche Fallkonstellation liegt hier jedoch nicht vor. Das [X.] hat in keinem der Fälle [X.] von sechs Monaten oder mehr für erforderlich gehalten. Zudem ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass trotz der vorliegenden Tatserie bei Schäden bis zu 1.999 Euro Einzelgeldstrafen von nicht mehr als 60 Tagessätzen schuldangemessen sind. Das [X.] hätte deshalb darlegen müssen, weshalb bei dem nicht vorbestraften Angeklagten gerade die Überschreitung der Schwelle von 2.000 Euro ein Umstand sein soll, der für die betroffenen Einzelfälle die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich macht (vgl. auch [X.], Beschluss vom 1. September 1989 - 2 StR 387/89, [X.]R StGB § 47 Abs. 1 Umstände 3). Dieser Erörterungsmangel führt zur Aufhebung aller kurzen [X.].

8

b) Mithin kommt es nicht mehr darauf an, dass das [X.] in den Fällen C.I.5. Nr. 235 bis 237 der Urteilsgründe von einem zu hohen Schuldumfang ausgegangen ist. Es hat nicht beachtet, dass es gemäß § 154a Abs. 2 StPO von der Verfolgung der Taten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) betreffend die Einzugsstelle S.                  für die Monate Juli bis September 2008 im Hinblick auf die auf die Zeugin     L.    entfallenden Beiträge zur Sozialversicherung abgesehen hatte ([X.]. 144, vgl. auch [X.] 91).

9

c) Angesichts der Aufhebung aller [X.] kann auch die Gesamtfreiheitsstrafe keinen Bestand haben.

3. Einer Aufhebung von Feststellungen bedarf es nicht, da diese von dem Rechtsfehler bei der Festsetzung der [X.] nicht betroffen sind. Der neue Tatrichter darf ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht im Widerspruch stehen.

4. Die weitergehende Revision des Angeklagten ist aus den in der Antragsschrift des [X.] genannten Gründen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

5. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass das Verfahren hinsichtlich des [X.] der Hinterziehung von Lohnsteuer betreffend die      [X.] für den [X.] April 2006 (Fall [X.]. Ziff. 27 der Anklageschrift vom 31. Juli 2013, [X.], [X.]. [X.]) noch beim [X.] anhängig ist, weil dieses hierüber keine Entscheidung getroffen hat (vgl. [X.], Beschluss vom 16. März 2010 - 4 StR 48/10, [X.], 251 mwN). Das Hauptverfahren wurde auch insoweit eröffnet und die Anklageschrift ohne Änderungen zugelassen ([X.], [X.]. 276 d.A.). Lediglich bezüglich der Tatvorwürfe [X.]. Ziff. 1 bis 26 dieser Anklageschrift hat das [X.] die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Verjährung abgelehnt ([X.], [X.]. 277 d.A.). Hinsichtlich Fall [X.]. Ziff. 27 dieser Anklageschrift sind daher Anklage und Eröffnungsbeschluss noch nicht erschöpft.

Graf          

      

Jäger          

      

Bellay

      

Fischer          

      

Hohoff          

      

Meta

1 StR 150/17

23.11.2017

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG München II, 14. Oktober 2016, Az: W5 KLs 68 Js 8356/12

§ 47 Abs 1 StGB, § 266a StGB, § 370 Abs 1 AO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.11.2017, Az. 1 StR 150/17 (REWIS RS 2017, 1850)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 1850

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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