Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 13.12.2012, Az. 4 StR 177/12

4. Strafsenat | REWIS RS 2012, 357

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BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL
4
StR
177/12

vom
13. Dezember
2012
in der Strafsache
gegen

wegen Verdachts des Totschlags

-
2
-
Der 4.
Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 13.
Dezember 2012, an der teilgenommen haben:
[X.] am Bundesgerichtshof
Dr. Mutzbauer

als Vorsitzender,

[X.]in
am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
[X.] am Bundesgerichtshof
Cierniak,
[X.],
Reiter

als beisitzende [X.],

Staatsanwalt

als Vertreter des [X.],

Rechtsanwalt

als Verteidiger,

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:

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3
-
1.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des [X.] vom 1.
Februar 2012 mit den Feststellungen aufgehoben.
2.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des [X.].
Von Rechts wegen
Gründe:
Das [X.] hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung sachlichen Rechts. Das von dem [X.] vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
1.
In der unverändert zugelassenen Anklage ist dem Angeklagten zur Last gelegt worden, am frühen Morgen des 27.
Juli 2011
den Geschädigten E.

[X.]

bei einer tätlichen Auseinandersetzung in der Wohnung der Zeugin S.

absichtlich durch einen Messerstich in die Brust getötet und sich dadurch des Totschlags schuldig gemacht zu haben.
2.
Nach den Feststellungen hielten sich der Geschädigte [X.]

, die Zeugin S.

und der Angeklagte am frühen Morgen des Tattages gemein-1
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sam in der Wohnung der Zeugin S.

auf. Ab 3.30
Uhr kam es zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten zu einem Streit, an dem sich mög-licherweise auch die Zeugin S.

beteiligte. Noch vor 4.40
Uhr schlug dieser Streit in eine tätliche Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und
[X.]

um. Möglicherweise mischte sich die Zeugin S.

auch hier wieder in das Geschehen ein. Auf wessen Seite und wie weit ihre Beteiligung dabei

7). Im Verlauf dieser Auseinandersetzung wurden dem Geschädigten neben einer Verletzung des Kehlkopfes und einer Schnittwunde am Kinn zwei Stiche mit einem Küchenmesser beigebracht. Ein Stich erfolgte in den Rücken und war für sich allein nicht tödlich. Der andere traf ihn von vorne ins Herz.
Wer welchen Stich setzte und in welcher Reihenfolge die Stiche und die übrigen Verletzungen beigebracht wurden, konnte nicht geklärt werden. Es steht jedoch fest, dass der Angeklagte einen von beiden Stichen gesetzt hat. Dabei ist das [X.] in Anwendung des Zweifelsgrundsatzes davon aus-gegangen, dass es sich hierbei um den für sich allein nicht tödlichen Stich in

liegender
Position unter [X.]

Küchenmesser erstmals zu fassen bekam (UA
8). Es ist nicht ausgeschlossen,

für die Annahme

wolle ihn töten und sich ausweglos in die Enge gedrängt sah.
Nach der Rückenverletzung
gelang es dem Angeklagten zumindest kurz-fristig,
die Oberhand zu gewinnen und [X.]

im Flur auf dem Rücken liegend am Boden zu fixieren. Um 4.40
Uhr verließ der schwer verletzte Geschädigte die Wohnung. Nach einer Wegstrecke von ca. 70
Metern brach er
zusammen und verstarb noch vor 5.00
Uhr an den Folgen des Herzstichs.
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3.
Das [X.] hat sich aufgrund der Spurenlage und der Ausfüh-rungen des rechtsmedizinischen Sachverständigen davon überzeugt, dass dem Geschädigten beide Messerstiche in der Wohnung der Zeugin S.

beige-bracht wurden (UA
13). Seine Überzeugung, dass zumindest einer dieser Sti-che von dem
in der Hauptverhandlung
jede Tatbeteiligung abstreitenden Ange-klagten gesetzt worden ist, hat es aus einer Einlassung des Angeklagten vom 27.
Juli 2011 gegenüber dem Polizeibeamten A.

hergeleitet. Dort hatte der Angeklagte über eine tätliche Auseinandersetzung mit dem Geschädigten be-richtet und angegeben, er habe in der
Küche
ein Messer zu fassen bekommen und damit einmal auf den Geschädigten eingestochen (UA
21). Die in diesem Zusammenhang von dem Angeklagten demonstrierte und von dem [X.] A.

in der Hauptverhandlung nachgestellte [X.] sei mit
einem Stich in den Rücken eines direkt gegenüberstehenden Kontrahenten vereinbar (UA
22). Dass der Angeklagte [X.] zugestochen hat, ver-mochte
das
[X.] nicht mit der notwendigen Sicherheit festzustellen, weil der Angeklagte gegenüber dem Polizeibeamten A.

nur einen Stich geschil-dert habe und das übrige Beweisergebnis einen zweiten Stich des Angeklagten nicht belege (UA
29). Die Zeugin S.

habe keine verlässlichen Angaben zum Tatgeschehen gemacht und sei bemüht gewesen, ihr Wissen zu verbergen (UA
37). Das [X.] lasse keine sicheren Schlüsse zur zeitlichen [X.] und zur Körperposition der Beteiligten zu. Aus der Lage der Stichverletzungen (Brustvorderseite und Brustrückseite) sei zu schließen, dass

[X.] eher verändert. Gleichermaßen könnte allerdings auch ein Dritter, sei es die Zeugin S.

, sei es der Angeklagte zu dem Geschehen nach dem ersten Stich durch den jeweils

39). Ein [X.]
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ser Hinweis darauf, dass beide Stiche von derselben Person stammen könnten, ergebe sich allerdings daraus, dass ein aufgefundenes Küchenmesser mit [X.] zu beiden Einstichen von der Größe her passe und ein weiteres Messer mit [X.] nicht gefunden worden sei (UA
40).
Hinsichtlich des festgestellten Stichs in den Rücken hat das [X.] eine durch einen rechtswidrigen Angriff des Geschädigten eingetretene und die g-e-genüber der Polizei am Tattag in mehreren Varianten
über einen Angriff
des Geschädigten berichtet (UA
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ff.). Dem wegen eines Tötungsdelikts vorbe-straften [X.]

seien derartige Angriffe nicht wesensfremd gewesen. Der [X.], dass der Angeklagte von sich aus die Polizei verständigen wollte, spre-che dafür, dass er sich im Recht fühlte (UA
55). Aus der Tatsache, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht mehr auf eine Notwehrlage berufen habe, könne nichts Gegenteiliges hergeleitet werden, weil es der Fall sein könne, dass er sich von einem völligen Bestreiten der Tat eine bessere Verteidigungsposition erhofft habe (UA
56). Dass der Stich in den Rücken erfolgt ist, schließe die An-nahme einer Notwehrsituation nicht aus, da ein solcher Stich nicht notwendig ung erfolgt
sein müsse (UA
58).
II.
Diese Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1.
Spricht der Tatrichter einen Angeklagten frei, weil er Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist dies durch das Revisionsgericht
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in der Regel hinzunehmen. Seiner Beurteilung unterliegt nur, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn der Tatrichter die von ihm festgestellten [X.] nicht unter allen für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten gewürdigt hat oder über schwerwiegende
Verdachtsmomente ohne Erörterung hinweggegangen ist ([X.], Urteil
vom 29.
September 1998

1
StR
416/98, [X.], 153). Der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegt es auch, ob überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewiss-heit gestellt worden sind (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteil vom 11.
August 2011

4
StR
191/11; Urteil
vom 10.
August 2011

1
StR
114/11, [X.], 110 Rn.
11; Urteil vom
18.
Januar 2011

1
StR
600/10, [X.], 302, 303).
Hieran gemessen unterliegt die landgerichtliche Beweiswürdigung [X.] rechtlichen Bedenken.
2.
Die Erwägungen, mit denen das [X.] eine Zurechnung des zweiten Stichs für nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar gehalten hat, lassen besorgen, dass es bei der richterlichen Überzeugungsbildung von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen ist. Auch wurde das vorhandene Beweismaterial nicht erschöpfend gewürdigt.
Voraussetzung für die Überzeugung des Tatrichters von einem bestimm-ten Sachverhalt ist nicht eine absolute, das Gegenteil denknotwendig aus-schließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung aus-reichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lässt. Dabei haben solche Zweifel außer Betracht zu bleiben, die realer Anknüpfungs-punkte entbehren und sich lediglich auf die Annahme einer theoretischen
Möglichkeit gründen ([X.], Urteil vom 1.
September 1993

2
StR
361/93, [X.]R StPO §
261 Überzeugungsbildung
22; vgl. Urteil vom 11.
April 2002
10
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8
-

4
StR
585/01, [X.], 243). Es ist daher rechtsfehlerhaft, wenn eine nach den Feststellungen naheliegende Schlussfolgerung nicht gezogen ist,
ohne dass konkrete Gründe angeführt sind, die dieses Ergebnis stützen könn-ten. Alternative,
für den Angeklagten günstige Geschehensabläufe sind erst dann bedeutsam, wenn für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte erbracht sind und sie deshalb nach den gesamten Umständen als möglich in Betracht kom-men (vgl. [X.], Urteil vom 11.
Januar 2005

1
StR
478/04, [X.], 147; Urteil vom 11.
April 2002

4
StR
585/01, [X.], 243; Beschluss vom 8.
September 1989

2
StR
392/89, [X.]R StGB
§
213 Beweiswürdigung
1).
Vor dem Hintergrund der durch objektive Beweismittel abgesicherten Feststellung, dass dem Geschädigten beide Stiche in der Wohnung der Zeugin S.

beigebracht wurden, dort zur Tatzeit neben dem Angeklagten und dem Geschädigten nur noch die Zeugin S.

anwesend war,
und angesichts der
weiteren
gegen den Angeklagten sprechenden Verdachtsmomente (tätliche Auseinandersetzung mit dem Geschädigten, im Ermittlungsverfahren einge-räumter [X.])
konnte eine Zurechnung auch des zweiten Stichs nur noch dann zweifelhaft sein, wenn eine Stichbeibringung durch die Zeugin S.

als alternativer Geschehensverlauf nach den Umständen in Betracht zu ziehen gewesen wäre. Das [X.] hat es dafür ausreichen lassen, dass die Stichverletzungen auch von zwei Tätern gesetzt worden sein können, die Zeugin S.

unglaubhafte Angaben gemacht
und der Angeklagte keinen eigenen zweiten Stich geschildert hat. Damit werden jedoch noch keine konkre-ten Umstände aufgezeigt, die für einen gegen den Geschädigten gerichteten Messerangriff der Zeugin S.

sprechen könnten.
Hinzu kommt, dass sich das [X.] in diesem Zusammenhang nicht mit den Einlassungen des Angeklagten auseinandergesetzt hat, die dieser im 12
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-
Ermittlungsverfahren zur Rolle der Zeugin S.

bei der Auseinandersetzung mit dem Geschädigten gemacht hat. So hat der Angeklagte noch am Tattag gegenüber dem Zeugen A.

angegeben, die Zeugin habe versucht, ihn von dem Geschädigten wegzuziehen und sei deshalb von ihm geschlagen worden (UA
21). [X.] dem Polizeibeamten E.

hat der Angeklagte ebenfalls noch am Tattag erklärt, dass die Zeugin S.

gerufen habe, was sie da ma-chen
würden; sie habe an ihm gezerrt
und er habe versucht,
sie
wegzustoßen. Dabei habe der Geschädigte weiter auf ihn eingeschlagen (UA
22). In diesem Zusammenhang berichtete der Angeklagte auch über eigene Wahrnehmungen zu der Herzstichverletzung, ohne einen Bezug zu dem Verhalten der Zeugin S.

herzustellen. Stattdessen gab er auf Nachfrage an, dass es sein kön-ne

23). Beide Einlassungen enthalten keinen Hinweis auf einen Messerstich der Zeugin S.

zum Nachteil des Geschä-digten. Stattdessen legen sie nahe, dass die Zeugin lediglich schlichtend
in die Auseinandersetzung eingegriffen hat.
Hiermit stimmt überein, dass auch die (unbeteiligten) Zeugen Sa.

und D.

nur über einen lauten Streit zwischen zwei Männern berichtet
haben.
Vor diesem Hintergrund ist zu besorgen, dass die [X.] verkannt hat, dass sie eine Einlassung des Angeklagten, für die es keine Anhaltspunkte gibt, nicht zu dessen Gunsten unterstellen muss, zumal der Angeklagte erst in der Hauptverhandlung von einer
über [X.] hinausgehenden
Beteiligung der Zeugin S.

an dem Streit berichtet hat.
Die Sache bedarf daher schon aus diesem Grund
neuer Verhandlung und Entscheidung.

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3.
Sollte der neue Tatrichter zu der Überzeugung gelangen, dass der an seinem bisherigen Verteidigungsverhalten festhaltende Angeklagte für einen oder beide Messerstiche verantwortlich ist, wird er zu beachten haben, dass dem Angeklagten kein Nachteil daraus erwachsen darf, dass er die Tat bestrei-tet und deshalb nicht in der Lage ist, zum Vorliegen einer Notwehrsituation vor-zutragen. Sollten insoweit keine sicheren Feststellungen getroffen werden [X.], sind allerdings auch hier Unterstellungen zugunsten des Angeklagten nur gerechtfertigt, wenn es dafür reale Anknüpfungspunkte gibt ([X.], Urteil vom 11.
April 2002

4
StR
585/01, [X.], 243).
Mutzbauer
Roggenbuck
Cierniak

Quentin
Reiter
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Meta

4 StR 177/12

13.12.2012

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 13.12.2012, Az. 4 StR 177/12 (REWIS RS 2012, 357)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 357

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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