Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.06.2023, Az. 5 AZR 335/22

5. Senat | REWIS RS 2023, 7249

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - Beweiswert


Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 9. Mai 2022 - 4 Sa 505/21 - wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten - soweit mit Blick auf die beschränkte Zulassung der Revision noch erheblich - über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und dabei insbesondere über den Beweiswert der vom Kläger eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.

2

Der Kläger war vom 16. Januar 2020 bis zum 30. September 2020 bei der [X.], die Personalvermittlung und -verleih betreibt, als technischer Sachbearbeiter beschäftigt. Zwischen den Parteien waren eine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden bei einer [X.] und (zuletzt) eine Bruttostundenvergütung von 12,42 Euro vereinbart. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund [X.] Kündigung der [X.] vom 1. September 2020, die der Kläger am 2. September 2020 zur Kenntnis nahm. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen der Vorinstanzen arbeitete er noch bis zum 4. September 2020 für die [X.] in einem Entleiherbetrieb.

3

Für die [X.] vom 7. September 2020 bis zum 30. September 2020 legte der Kläger zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, eine Erstbescheinigung vom 7. September 2020 über Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. September 2020 und eine Folgebescheinigung vom 21. September 2020 über fortbestehende Arbeitsunfähigkeit bis zum 30. September 2020. Im Laufe des Verfahrens hat der Kläger die Ausfertigungen für den Versicherten zur Akte gereicht, aus denen die „die [X.] Diagnose(n) ([X.])“ ersichtlich sind. Die behandelnde Ärztin hat jeweils „[X.]“ angegeben ([X.] gesichert rechts). Der Kläger hat außerdem Folgebescheinigungen für die [X.] bis zum 15. November 2020 vorgelegt, die ab dem 16. Oktober 2020 zusätzlich zu „[X.]“ die [X.]-Codes „75.5 G R“ (Bursitis im Schulterbereich gesichert rechts) und „75.8 G R“ (Sonstige Schulterläsionen gesichert rechts) enthalten. Weiter hat er den Befundbericht/Arztbrief vom 17. September 2020 zu einer MRT-Untersuchung seines rechten Schultergelenks am 16. September 2020 vorgelegt.

4

Die [X.] zahlte für September 2020 weder Arbeitsvergütung noch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Für die [X.] bis zum 4. September 2020 haben die Vorinstanzen dem Kläger rechtskräftig Vergütung für geleistete Arbeit zugesprochen.

5

Mit seiner Klage hat der Kläger - soweit für die Revision noch erheblich - vom 7. bis zum 30. September 2020 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall iHv. 1.788,48 Euro brutto nebst Zinsen verlangt. Er hat gemeint, seine Arbeitsunfähigkeit habe er durch die der [X.] vorgelegten Bescheinigungen nachgewiesen, deren Beweiswert nicht erschüttert sei. Aufgrund starker Schmerzen und Bewegungseinschränkungen habe er die geschuldete Arbeitsleistung als technischer Sachbearbeiter nicht ausführen können. Er hat sinngemäß - soweit für die Revision von Bedeutung - zuletzt beantragt,

        

die [X.] zu verurteilen, an den Kläger 1.788,48 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. Oktober 2020 zu zahlen.

6

Die [X.] hat Klageabweisung beantragt und gemeint, der Beweiswert der für die [X.] ab dem 7. September 2020 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Sie seien nicht entsprechend den Vorgaben der „Richtlinie des Gemeinsamen [X.] über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V“ (im Folgenden: [X.]) ausgestellt worden. Nach § 5 Abs. 1 Satz 4 der [X.] (in der im September 2020 geltenden Fassung) müssten Symptome - hier „Schulterschmerzen“ - nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose ersetzt werden.

7

Das Arbeitsgericht hat der Klage ganz überwiegend stattgegeben und lediglich das Zinsdatum korrigiert. Das [X.] hat die Berufung der [X.] zurückgewiesen. Mit der vom Senat beschränkt zugelassenen Revision verfolgt die [X.] im Umfang der Zulassung die von ihr begehrte Klageabweisung weiter, während der Kläger die Zurückweisung der Revision beantragt.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision der [X.]eklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben. Sie sind in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass die [X.]eklagte keine Umstände aufgezeigt hat, die geeignet sind, den [X.]eweiswert der streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 7. und vom 21. September 2020 zu erschüttern.

9

I. Das [X.] hat die [X.]erufung der [X.]eklagten gegen das klagestattgebende Urteil des Arbeitsgerichts im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 7. bis zum 30. September 2020 einen Anspruch Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall aus § 3 Abs. 1 [X.] in (unstreitiger) Höhe von 1.788,48 Euro brutto.

1. Ein Arbeitnehmer hat nach § 3 Abs. 1 Satz 1 [X.] Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.

2. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und [X.]eweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 [X.] ([X.] 11. Dezember 2019 - 5 [X.] - Rn. 16, [X.]E 169, 117).

a) Der [X.]eweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 [X.] geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste [X.]eweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 [X.] reicht die Vorlage einer ärztlichen [X.]escheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 [X.] aus, um dem Arbeitgeber das Recht zur Leistungsverweigerung zu entziehen. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung strahlt auch auf die beweisrechtliche Würdigung aus. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt daher aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher [X.]eweiswert zu. Die Gesetzesbegründung zur elektronischen Meldung nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SG[X.] IV hat die in § 5 Abs. 1a Satz 2 [X.] vorgesehene Papierbescheinigung „als gesetzlich vorgesehenes [X.]eweismittel mit dem ihr von der Rechtsprechung zugebilligten hohen [X.]eweiswert“ bezeichnet ([X.]. 19/13959 S. 37) und sich damit diese [X.]ewertung zu eigen gemacht ([X.] 2022, 235, 239 f.). Der Tatrichter kann normalerweise den [X.]eweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt. Aufgrund des normativ vorgegebenen hohen [X.]eweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt ein „bloßes [X.]estreiten“ der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen durch den Arbeitgeber nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit mit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Vielmehr kann der Arbeitgeber den [X.]eweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im [X.] beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen [X.]escheinigung kein [X.]eweiswert mehr zukommt. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit iSd. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der [X.]eweis des Gegenteils zulässig wäre ([X.] 8. September 2021 - 5 [X.] - Rn. 13 mwN, [X.]E 175, 358; zust. [X.]/Mai NZA 2022, 97; [X.]. [X.] § 5 Nr. 11; [X.] [X.][X.] 2022, 1396; teilweise kritisch [X.] 2022, 235, 239 f.).

b) Der [X.]eweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 [X.] kann nach den Umständen des Einzelfalls auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der [X.] erschüttert sein.

aa) Die [X.] wird vom Gemeinsamen [X.] erlassen (§ 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SG[X.] V), dem obersten [X.]eschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im [X.] Gesundheitswesen. Als untergesetzliche Rechtsnorm muss sie mit dem geltenden höherrangigen Recht vereinbar sein ([X.]SG 15. Mai 2019 - [X.] [X.] 27/18 [X.] - Rn. 15). Die [X.]eschlüsse des Gemeinsamen [X.]es sind nach § 91 Abs. 6 SG[X.] V (nur) für die Träger des Gemeinsamen [X.]es - die Kassenärztlichen [X.]undesvereinigungen, die [X.] und den Spitzenverband [X.]und der Krankenkassen -, deren Mitglieder und Mitgliedskassen sowie für die Versicherten und die Leistungserbringer verbindlich (vgl. [X.]eckOGK/[X.] Stand 1. Dezember 2020 SG[X.] V § 91 Rn. 21; [X.]/[X.]/[X.] 8. Aufl. SG[X.] V § 91 Rn. 62), nicht jedoch für den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer als Parteien des Arbeitsverhältnisses ([X.] 2022, 235, 243).

bb) In § 5 [X.] - sowohl in der für den vorliegenden Fall maßgeblichen alten Fassung, wie auch in ab 1. Januar 2023 geltenden neuen Fassung - wird die [X.] nicht erwähnt und ihre Anforderungen werden nicht explizit in [X.]ezug genommen. Vielmehr ist dort nur die Rede von „einer ärztlichen [X.]escheinigung“. § 5 Abs. 1 Satz 2 und Satz 5 [X.] stellen eigene Anforderungen dazu auf, welche Informationen eine dem Arbeitgeber zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit vorzulegende [X.]escheinigung enthalten muss (vgl. [X.]eckOK ArbR/[X.] Stand 1. März 2023 [X.] § 5 Rn. 18; MüKo[X.]G[X.]/[X.] 9. Aufl. [X.] § 5 Rn. 17; [X.]/[X.] 9. Aufl. [X.] § 5 Rn. 98 ff.; [X.]/[X.] Stand 2022 Entgeltfortzahlung/Krankengeld/Mutterschaftsgeld § 5 Rn. 39). Danach sind lediglich in Schriftform das [X.]estehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer anzugeben. Die [X.] entfaltet keine unmittelbare Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber und einem Arzt, der kein Vertragsarzt ist oder als Privatarzt gegenüber nicht gesetzlich versicherten Arbeitnehmern tätig wird. Auch Versicherte der Krankenkassen können einen solchen Arzt - auf eigene Kosten - frei wählen und müssen sich nicht an einen Vertragsarzt wenden (MüKo[X.]G[X.]/[X.] 9. Aufl. [X.] § 5 Rn. 16; [X.]/[X.] 9. Aufl. [X.] § 5 Rn. 109).

cc) Soweit der Senat in seiner Rechtsprechung darauf abgestellt hat, dass die „ordnungsgemäß“ iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 [X.] ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste [X.]eweismittel des Arbeitnehmers für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ist ([X.] 8. September 2021 - 5 [X.] - Rn. 12 mwN, [X.]E 175, 358), sind bei der Prüfung, ob der [X.]eweiswert einer [X.]escheinigung erschüttert wurde, nicht alle [X.]estimmungen der [X.] relevant. Formale Vorgaben, die in erster Linie kassenrechtliche [X.]edeutung haben und das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse betreffen, wie Formulare und Angaben für die Abrechnung, sind hierfür grundsätzlich ohne [X.]elang (vgl. [X.]eckOK ArbR/[X.] Stand 1. März 2023 [X.] § 5 Rn. 18; [X.]/[X.] 9. Aufl. [X.] § 5 Rn. 111 ff.; im Ergebnis auch [X.]/Mai NZA 2022, 97, 99 ff.). Damit wird berücksichtigt, dass diese Richtlinienbestimmungen für Ärzte, die nicht Vertragsärzte sind oder als Privatarzt gegenüber nicht gesetzlich versicherten Arbeitnehmern tätig werden, ohne rechtliche [X.]edeutung sind.

Anders zu beurteilen sind hingegen die Regelungen in § 4 und § 5 der [X.], die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen. Hierzu gehören beispielsweise die [X.]estimmungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund persönlicher ärztlicher Untersuchung und zur Dauer der zu bescheinigenden Arbeitsunfähigkeit. Es handelt sich dabei zwar bereits von Gesetzes wegen nicht um zwingende Vorgaben, die die Arbeitsvertragsparteien und Arbeitsgerichte binden. Solche [X.]estimmungen enthalten aber eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit [X.] ZMGR 2018, 279, 281; [X.] GesR 2018, 409, 410). Sie bilden den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ab ([X.] 2022, 235, 243). So verstanden können Verstöße hiergegen nach der Lebenserfahrung und der Expertise des Normgebers der [X.] geeignet sein, den [X.]eweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzunehmenden [X.]eweiswürdigung zu erschüttern.

dd) Dieses Verständnis des [X.]eweiswerts einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entspricht weitgehend dem des [X.]undessozialgerichts zum [X.] (vgl. z[X.] zur Verwendung der [X.] [X.]SG 29. Oktober 2020 - [X.] 3 [X.] - Rn. 15; 14. August 2018 - [X.] 5/18 [X.] - Rn. 9). Der [X.]escheinigung mit der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit wird hierin die [X.]edeutung einer gutachterlichen Stellungnahme beigemessen. Sie bilde eine Grundlage für den über den [X.] zu erteilenden Verwaltungsakt der Krankenkasse, ohne dass Krankenkasse und Gerichte an den Inhalt der ärztlichen [X.]escheinigung gebunden seien ([X.]SG 29. Oktober 2020 - [X.] 3 [X.] - Rn. 15; 16. Dezember 2014 - [X.] 1 KR 37/14 R - Rn. 16, [X.]SGE 118, 52; 8. November 2005 - [X.] 18/04 R - Rn. 20). Im sozialgerichtlichen Verfahren sei eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein [X.]eweismittel wie jedes andere, so dass der durch sie bescheinigte Inhalt durch andere [X.]eweismittel widerlegt werden könne ([X.]SG 8. November 2005 - [X.] 18/04 R - aaO). Sowohl bei der Erstfeststellung der Arbeitsunfähigkeit als auch bei nachfolgenden Feststellungen besteht nach dieser Rechtsprechung ein Krankengeldanspruch aus § 46 Satz 1 Nr. 2 SG[X.] V nur nach einer persönlichen Untersuchung des Versicherten durch einen Arzt. Eine telefonische [X.]efragung genüge nicht ([X.]SG 16. Dezember 2014 - [X.] 25/14 R - Rn. 13). Zur [X.]egründung hat das [X.]undessozialgericht auf die Regelungen zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit in § 4 [X.] und auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SG[X.] V [X.]ezug genommen. Hieraus hat es die Notwendigkeit hergeleitet, dass Krankengeld nur auf der Grundlage einer bestmöglich fundierten ärztlichen Einschätzung gewährt werden darf. Im neueren sozialrechtlichen Schrifttum wird ergänzend die Auffassung vertreten, eine mittelbare persönliche Untersuchung im Rahmen einer Videosprechstunde stehe der unmittelbaren persönlichen Untersuchung im Sinne dieser Rechtsprechung gleich ([X.]eckOGK/[X.] Stand 1. März 2022 SG[X.] V § 46 Rn. 56; [X.]/[X.] Stand September 2022 SG[X.] V § 44 Rn. 27; dazu auch instruktiv [X.] 2022, 235, 242 ff.). Ein weitgehend einheitliches Verständnis der Verbindlichkeit der [X.] bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und den damit in Zusammenhang stehenden beweisrechtlichen Fragen ist bedeutsam, weil das Krankengeld eine Entgeltersatzfunktion hat (§ 47 Abs. 3 SG[X.] V). Nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 SG[X.] V ruht der Anspruch auf Krankengeld, soweit und solange Versicherte beitragspflichtiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erhalten. Hierdurch soll einen [X.] von Entgelt und Entgeltersatzleistungen verhindert werden ([X.]/[X.] 23. Aufl. SG[X.] V § 49 Rn. 1). Hauptanwendungsfall des § 49 Abs. 1 Nr. 1 SG[X.] V ist die Entgeltfortzahlung nach §§ 3 und 4 [X.] ([X.]/[X.] 2. Aufl. SG[X.] V § 49 Rn. 3; [X.]eckOGK/[X.] Stand 1. August 2022 SG[X.] V § 49 Rn. 14).

3. Nach diesen Grundsätzen kann ein Verstoß gegen die Regelungen in § 5 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 der [X.] (in der im September 2020 geltenden Fassung, entspricht § 5 Abs. 1 Satz 4 und Satz 5 der [X.] in der seit April 2023 geltenden Fassung), auf den die [X.]eklagte sich vorliegend beruft, grundsätzlich zu einer Erschütterung des [X.]eweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen.

a) Die Kodierung nach [X.] betrifft allerdings primär das Abrechnungsrecht und damit zunächst das Verhältnis zwischen Vertragsärzten und Kassen. § 295 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SG[X.] V, der in § 5 Abs. 1 Satz 3 der [X.] in [X.]ezug genommen wird, regelt die Verpflichtung der Vertragsärzte zur versichertenbezogenen Übermittlung der Leistungsdaten, darunter die nach [X.] kodierten Diagnosen. Die Diagnose ist [X.]estandteil einer ordnungsgemäßen Leistungsbeschreibung und zur Abrechnung vertragsärztlicher Leistungen zwischen Leistungserbringern, Abrechnungsstellen, Krankenversicherungen und -kassen erforderlich (vgl. [X.]eckOGK/[X.] Stand 1. Mai 2021 SG[X.] V § 295 Rn. 4; [X.]/[X.]/[X.] 8. Aufl. SG[X.] V § 295 Rn. 1). Die Kodierung nach [X.] ist ua. Voraussetzung für die elektronische oder maschinelle Verarbeitung der Abrechnungen im Rahmen des Fallpauschalensystems und soll diagnose- und leistungsbezogene Analysen zur Weiterentwicklung der Abrechnungs- und Versorgungssysteme ermöglichen ([X.]/[X.]/[X.] 8. Aufl. SG[X.] V § 301 Rn. 6). Dennoch kann ein Verstoß gegen die Vorgabe in § 5 Abs. 1 Satz 4 der [X.], Symptome wie Fieber oder Übelkeit nach spätestens sieben Tagen durch eine Diagnose oder Verdachtsdiagnose auszutauschen - je nach den im Einzelfall vom Arzt angegebenen [X.]-Codes - in Zusammenschau mit der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Zweifel an der Richtigkeit der [X.]escheinigung aufwerfen.

b) Einer [X.]erücksichtigung von Verstößen gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der [X.] steht - anders als das [X.] meint - nicht entgegen, dass die nach § 5 Abs. 1 [X.] aF für den Arbeitgeber vorgesehene Durchschrift der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Angaben zur Ursache und Art der Arbeitsunfähigkeit und der zugrundeliegenden Erkrankung zu enthalten hat (vgl. dazu MüKo[X.]G[X.]/[X.] 9. Aufl. [X.] § 5 Rn. 17 mwN). Dies trifft zwar zu und der Arbeitnehmer ist grundsätzlich auch nicht verpflichtet, diese Informationen offen zu legen. Etwas anderes gilt aber, wenn sich wie vorliegend ein Arbeitnehmer - ohne dazu vom Gericht oder der Gegenseite aufgefordert zu sein - freiwillig zu den zugrundeliegenden Diagnosen bzw. [X.]-Codes erklärt und sie selbst ins Verfahren einführt. In dem Fall kann sich der Arbeitgeber auf diese Informationen für eine eventuelle Erschütterung des [X.]eweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung stützen.

4. Ob es dem Arbeitgeber gelungen ist, den [X.]eweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, ist eine Frage der [X.]eweiswürdigung. Diese ist grundsätzlich gemäß § 286 ZPO dem Tatrichter vorbehalten. [X.] ist nur zu überprüfen, ob die [X.]eweiswürdigung in sich widerspruchsfrei und ohne Verletzung von Denkgesetzen und allgemeinen [X.] erfolgt ist, ob sie rechtlich möglich ist und ob das [X.]erufungsgericht alle für die [X.]eurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (vgl. [X.] 11. Dezember 2019 - 5 [X.] - Rn. 25, [X.]E 169, 117).

5. Ausgehend hiervon ist die Annahme der Vorinstanzen, der Kläger sei im maßgeblichen Klagezeitraum infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert gewesen, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) Das [X.] hat zwar angenommen, eine Erschütterung des [X.]eweiswerts komme durch einen Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 3 und Satz 4 [X.] schon deshalb nicht in [X.]etracht, weil diese Regelungen ausschließlich das Verhältnis zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse beträfen. Vorangestellt hat es aber eine vollumfängliche [X.]ezugnahme auf die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts. Es hat sich diese zu eigen gemacht und dies ausdrücklich festgestellt (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Da das Arbeitsgericht nach Würdigung des [X.]eklagtenvortrags zu - vermeintlichen - Verstößen gegen die [X.] zu dem Ergebnis gekommen ist, der [X.]eweiswert der streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei nicht erschüttert, handelt es sich insoweit lediglich um eine Hilfsbegründung des [X.]erufungsgerichts.

b) Das Arbeitsgericht hat in seiner Entscheidung ausgeführt, dass und weshalb es nach Würdigung der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und des weiteren Parteivortrags davon ausgeht, dass der Kläger seine Arbeitsunfähigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum nachgewiesen habe. Diese Würdigung, die sich das [X.] zu eigen gemacht hat, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

aa) Zwar dürfte grundsätzlich davon auszugehen sein, dass ein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der [X.] den [X.]eweiswert einer für zwei Wochen ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf der [X.]asis von „Symptomen“ wie z[X.] Fieber oder Übelkeit erschüttern könnte. Ein solcher Verstoß hätte Auswirkungen auf die gesamte [X.]escheinigung. Er würde - anders als das Arbeitsgericht meint - nicht erst nach Ablauf des „zulässigen“ Zeitraums von sieben Tagen eingreifen.

bb) Das Arbeitsgericht stellt aber maßgeblich auch darauf ab, dass unklar sei, „in welchen konkreten Umständen die [X.]eklagte einen Verstoß gegen die genannte Richtlinienvorschrift erkenne“. Es meint im Ergebnis, dass ein relevanter Verstoß gegen § 5 Abs. 1 Satz 4 der [X.] nicht vorliege. Die ärztliche Feststellung, die hinter dem [X.] Code [X.] stehe, kann nach Auffassung des Arbeitsgerichts durchaus eine Diagnose darstellen. Sie unterscheide sich qualitativ von der bloßen Feststellung unspezifischer Symptome. § 5 Abs. 1 Satz 4 der [X.] fordere - anders als die [X.]eklagte meine - nicht, dass der Arzt ab der zweiten Woche der Arbeitsunfähigkeit bereits konkrete Schmerzursachen attestiere. Zudem sei auch der weitere Klägervortrag zu ärztlichen [X.]ehandlungen und Untersuchungen zu berücksichtigen.

c) Diese Würdigung ist in sich widerspruchsfrei und verletzt weder Denkgesetze noch allgemeine Erfahrungssätze. Sie ist rechtlich möglich und berücksichtigt alle für die [X.]eurteilung wesentlichen Umstände.

aa) Zutreffend hat das Arbeitsgericht bei der Prüfung, ob der [X.]eweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert ist, eine Gesamtbetrachtung der Umstände des Falls vorgenommen und dabei den weiteren Vortrag des [X.], auch zu medizinischen [X.]ehandlungen und ärztlich angeordneten Untersuchungen, berücksichtigt. Diesen Vortrag hat die [X.]eklagte nicht substantiiert bestritten. Sie hat lediglich gemeint, er könne - ausgehend von der von ihr angenommenen Erschütterung des [X.]eweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - hinsichtlich der Frage, ob tatsächlich Arbeitsunfähigkeit vorlag, eine [X.]eweiserhebung nicht ersetzen. Eine Kongruenz zwischen der Kündigungsfrist und der Dauer der insgesamt bescheinigten Arbeitsunfähigkeit hatte das Arbeitsgericht - anders als die [X.]eklagte meint - nicht zu berücksichtigen. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen der Vorinstanzen hat der Kläger, nachdem er die Kündigung zur Kenntnis genommen hatte, noch für die [X.]eklagte in einem Entleiherbetrieb gearbeitet.

bb) Auch die [X.]ewertung des Arbeitsgerichts, ein den [X.]eweiswert erschütternder Verstoß gegen Vorgaben der [X.] liege nicht vor, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

(1) Die Annahme des Arbeitsgerichts, die mit [X.] kodierte ärztliche Feststellung könne eine Diagnose darstellen und somit im Einklang mit § 5 Abs. 1 Satz 4 [X.] stehen, ist in der Systematik und Struktur des [X.]-Systems angelegt. Die von der Ärztin des [X.] verwendete Schlüsselnummer [X.] stammt aus dem Kapitel [X.] zu Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des [X.]indegewebes. Sie befindet sich in der Gruppe Arthropatien (M00-M25) unter der Überschrift „Sonstige Gelenkkrankheiten, anderenorts nicht klassifiziert“ ([X.]) als [X.] ([X.]). Damit hat die Ärztin eine Schlüsselnummer gewählt, die sowohl nach Kapitel wie auch nach Untergruppe „Krankheiten“ umfasst. Dass das Arbeitsgericht bei der vorliegenden Kodierung aus dem [X.]ereich der Gelenkerkrankungen keine Erschütterung des [X.]eweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen angenommen hat, unterliegt deshalb keinen revisionsrechtlichen [X.]edenken.

(2) Soweit die [X.]eklagte dies anders gesehen und gemeint hat, eine Diagnose könne nur bei „objektivierbaren“ Zuständen vorliegen, zeigt sie keine Rechtsfehler der Vorinstanzen auf. Sie argumentiert, der ärztlichen Sachkunde könne eine ausschlaggebende [X.]edeutung nur zukommen, wenn die ärztliche [X.]escheinigung auf einem festgestellten objektiven [X.]efund beruhe. Damit versucht sie letztlich - allgemein und bezogen auf den konkreten Fall - ihre Wertung an die Stelle der Wertung des Arbeitsgerichts zu setzen, ohne sich mit der [X.]egründung des Arbeitsgerichts inhaltlich auseinanderzusetzen. Es entspräche im Übrigen weder der Lebenserfahrung noch den normativen Vorgaben des Entgeltfortzahlungsgesetzes, jeder ärztlichen [X.]eurteilung „eines vom Patienten (subjektiv) geschilderten Gesundheitszustandes“ einen [X.]eweiswert abzusprechen.

6. Die erstinstanzlich - pauschal - erhobenen Einwände der [X.]eklagten, eine Schultererkrankung müsse nicht zur Arbeitsunfähigkeit für die arbeitsvertragliche Tätigkeit als technischer Sachbearbeiter führen bzw. der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeit durch „Fitnesstraining“ selbst verschuldet, haben die Vorinstanzen zu Recht als unsubstantiiert bzw. durch Klägervortrag widerlegt zurückgewiesen.

II. Dem Kläger stehen gesetzliche Zinsen jedenfalls ab dem vom Arbeitsgericht ausgeurteilten Zeitpunkt zu.

III. [X.] folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

        

    [X.]    

        

    [X.]iebl    

        

    [X.]ubach    

        

        

        

    E. [X.]ürger    

        

    [X.]    

                 

Meta

5 AZR 335/22

28.06.2023

Bundesarbeitsgericht 5. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Braunschweig, 13. April 2021, Az: 2 Ca 372/20, Urteil

§ 5 Abs 1 AURL, § 4 AURL, § 5 Abs 1 S 2 EntgFG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.06.2023, Az. 5 AZR 335/22 (REWIS RS 2023, 7249)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 7249

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

5 AZR 137/23 (Bundesarbeitsgericht)

Entgeltfortzahlung bei Krankheit und an Feiertagen - Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung


5 AZR 93/22 (Bundesarbeitsgericht)

Darlegungslast bei Fortsetzungserkrankungen


5 AZR 149/21 (Bundesarbeitsgericht)

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - Beweiswert


5 AZR 505/18 (Bundesarbeitsgericht)

Entgeltfortzahlung - Einheit des Verhinderungsfalls


3 Sa 468/22 (Landesarbeitsgericht Düsseldorf)


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.