Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.03.2019, Az. IX R 29/17

9. Senat | REWIS RS 2019, 9490

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Änderung wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsache


Leitsatz

1. NV: Bekannt sind alle Tatsachen, die dem für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständigen Sachbearbeiter zur Kenntnis gelangen .

2. NV: Die Finanzbehörde muss sich den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Akte als bekannt zurechnen lassen .

3. NV: Dies gilt auch, wenn der Bearbeiter den ihm vorliegenden Akteninhalt nicht vollständig prüft, z.B. weil er nur überschlägig prüft, ihm keine Prüfhinweise dazu vorliegen oder die vorliegenden Prüfhinweise andere im Änderungsverfahren nicht streitige Tatsachen betreffen .

Tenor

Auf die Revision der Kläger werden das Urteil des [X.] vom 6. April 2017  13 K 8108/15 und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 7. April 2015 sowie der Einkommensteuerbescheid 2010 des Beklagten vom 22. Februar 2013 aufgehoben.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

[X.]ie Beteiligten streiten um eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung ([X.]).

2

[X.]ie steuerlich vertretenen Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr 2010 unter der Steuernummer ...001 beim Beklagten und Revisionsbeklagten, dem Finanzamt [X.] ([X.]), zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. [X.]ie Klägerin ist Eigentümerin eines [X.]s in der [X.] in [X.] Aus diesem Objekt erzielte sie im Streitjahr 2010 Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 34.698 €.

3

[X.]ie Kläger reichten im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärung für 2010 eine Anlage V ein. In der Zeile 24 erklärten die Kläger unter der [X.] ([X.].) 25.857 Einkünfte aus einer Grundstücksgemeinschaft in Höhe von 34.698 € unter Verweis auf die Steuernummer ...001. Weitere Einträge auf der Seite 1 der Anlage V in den Zeilen 4 ff. zur Lage des Grundstücks, in den Zeilen 8 ff. zu den Einnahmen und in den Zeilen 22 und 23 unter [X.]. 25.20 und 25.21 zum erzielten Überschuss und seiner Verteilung auf die Kläger erfolgten nicht. [X.]ie Seite 2 der Anlage V zu den Werbungskosten wurde überhaupt nicht befüllt. [X.]ie Kläger fügten ihrer Steuererklärung zudem zahlreiche Belege bei, die vom [X.] in der Steuerakte abgeheftet wurden. [X.]arin enthalten war eine "Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG" für die Steuernummer ...001 (Finanzamt [X.]) mit Gewinneinkünften aus der Vermietung "[X.] [Wohnanschrift der Kläger]" in Höhe von 34.698 €.

4

[X.]em [X.] lag außerdem hinsichtlich der [X.] der Kläger bei der Veranlagung 2010 eine ESt4B-[X.]itteilung des Finanzamts [X.] vom 11. April 2011 über Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Kläger vor. [X.]anach erzielten diese aus einer Beteiligung an einem geschlossenen Immobilienfonds "Grundstücks-, Vermögens- und [X.] ..., Fonds Nr. ..." Einkünfte in Höhe von ./. 351,51 €.

5

Am 7. [X.]ai 2012 vermerkte der Sachbearbeiter des [X.] auf dem [X.]atenblatt für 2010, dass von der Steuererklärung abgewichen worden sei und die Abweichungen im Bescheid erläutert würden. Auf der Anlage V oder der "Gewinnermittlung" finden sich keine Streichungen oder Anmerkungen des [X.]. Im erstmaligen Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 18. [X.]ai 2012 berücksichtigte das [X.] Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Kläger in Höhe von jeweils ./. 176 €. Ferner minderte das [X.] die in der Anlage N erklärte Anzahl der Arbeitstage sowie der einfachen Entfernung zur Arbeitsstätte der Klägerin. Im Erläuterungsteil des Einkommensteuerbescheids verwies das [X.] auf die eigenen Ermittlungen zu den Entfernungskilometern sowie den Arbeitstagen der Klägerin. Weiter heißt es darin: "[X.]ie Abweichung von den erklärten Angaben ergibt sich aus dem Feststellungsbescheid vom 11.4.2011". [X.]a die ESt4B-[X.]itteilung umgesetzt wurde, erging bezogen auf die Anlage V kein Risiko- oder [X.]. Aufgrund der Einkommensteuerfestsetzung im Bescheid vom 18. [X.]ai 2012 erhielten die Kläger für 2010 eine Erstattung von ca. 12.000 €.

6

[X.]as [X.] stellte im Januar 2013 anlässlich einer "[X.]" fest, dass die Kläger erhebliche Einkünfte aus einem eigenen [X.] erzielt hatten und diese aus "Versehen" bisher nicht erfasst worden seien. [X.]ies hielt die Veranlagungssachbearbeiterin am 16. Januar 2013 in einem Aktenvermerk fest. [X.]araufhin erließ das [X.] am 22. Februar 2013 einen auf § 129 [X.] gestützten Änderungsbescheid. In diesem berücksichtigte es beim Kläger Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 34.698 €.

7

[X.]er von den Klägern dagegen eingelegte Einspruch hatte nur dahingehend Erfolg, dass das [X.] mit Einspruchsentscheidung vom 7. April 2015 die streitigen [X.] der Klägerin zurechnete. Im Übrigen wies das [X.] den Einspruch zurück. Zur Begründung stützte es sich darauf, dass es die streitigen Einkünfte aus der Vermietung des Objekts [X.] übersehen habe und kein Rechtsirrtum vorliege. Aus den Akten ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Bearbeiter bei der Veranlagung die Einkünfte bewusst habe außer Ansatz lassen wollen.

8

[X.]ie von den Klägern gegen die Einspruchsentscheidung erhobene Klage hatte keinen Erfolg. Zur Begründung führte das Finanzgericht ([X.]) aus, die Änderung könne nicht auf § 129 [X.] gestützt werden. [X.]enn diese Vorschrift sei nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte [X.]öglichkeit bestehe, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einem sachverhaltsbezogenen [X.]enk- oder Übertragungsfehler begründet sei. [X.]as sei vorliegend der Fall, weil die Sachbearbeiterin der Steuererklärung die Anlage V zur Kenntnis genommen und bewusst die allein erklärten [X.] der Höhe nach korrigiert habe. [X.]ie Sachbearbeiterin habe fälschlicherweise angenommen, die [X.]itteilung des Finanzamts [X.] beziehe sich auf die erklärten Einkünfte. Anders könne der im Einkommensteuerbescheid 2010 vom 18. [X.]ai 2012 enthaltene [X.] nicht verstanden werden. [X.]enn dort sei von einer "Abweichung von den erklärten Angaben" die Rede, die sich "aus dem Feststellungsbescheid vom 11.4.2011" ergeben hätten. [X.]ie Sachbearbeiterin habe die erklärten Einkünfte in der Anlage V demnach gesehen und diese nicht nur versehentlich außer Ansatz gelassen. [X.]as [X.] habe die Änderung jedoch nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] vornehmen können. [X.]er Sachbearbeiterin sei zur [X.] der Erstellung des [X.] vom 18. [X.]ai 2012 nicht bekannt gewesen, dass die Klägerin positive Einkünfte aus dem [X.] "[X.]" erzielt habe. Stattdessen habe die Sachbearbeiterin angenommen, nur Verluste aus Vermietung und Verpachtung aus der Beteiligung an einem geschlossenen Immobilienfonds berücksichtigen zu müssen. Erst nach der Bekanntgabe des Bescheids sei einer anderen [X.]itarbeiterin aufgefallen, dass die [X.] in Höhe von 34.698 € nicht erfasst gewesen seien. Wie sich aus dem Aktenvermerk vom 16. Januar 2013 ergebe, habe die Sachbearbeiterin im Januar 2013 erstmals die Kenntnis erlangt, dass die Klägerin im Veranlagungszeitraum 2010 [X.] aus zwei Quellen und nicht nur aus einer bezogen habe. [X.]as [X.] sei an einer Änderung auch nicht wegen Treu und Glauben gehindert. [X.]em [X.] sei kein so erheblicher Verstoß gegen die [X.]itwirkungspflichten vorzuwerfen, der den Verstoß der Kläger gegen die [X.]itwirkungspflichten aufhebe. Zweifel an der Richtigkeit der eingereichten Steuererklärung hätten sich nicht aufgedrängt. Zwar habe die Bearbeiterin bei sorgfältiger [X.]urchsicht der Steuererklärung, der eingereichten Anlagen sowie der [X.]itteilung des Finanzamts [X.] feststellen können, dass die Klägerin [X.] aus zwei Quellen beziehe und die angegebenen [X.] in Höhe von 34.698 € tatsächlich Einkünfte aus dem Objekt "[X.]" seien. [X.]ie gegenüber zu stellende Verletzung der [X.]itwirkungspflichten der Kläger sei jedoch erheblich. So sei die Anlage V völlig unzureichend ausgefüllt. Eintragungen zum Grundstück sowie zu Einnahmen und Ausgaben fehlten vollständig. Ein Verweis auf die eingereichte "Gewinnermittlung" zu den [X.]n fehle. [X.]ie Anlage V weise lediglich eine Einkunftsquelle aus, und zwar [X.] aus einer Beteiligung. Hierauf habe das [X.] vertrauen dürfen, da bei [X.]itwirkung eines Steuerberaters auf die vollständige [X.]arstellung aller entscheidungserheblichen Umstände vertraut werden dürfe. Auch die Beifügung der "Gewinnermittlung" führe zu keiner anderen Wertung. [X.]iese deute auf das Vorliegen von Gewinneinkünften und nicht von [X.] hin. Aus diesem Grund liege allenfalls ein gleichwertiges Verschulden der Beteiligten vor.

9

[X.]it ihrer Revision bringen die Kläger vor, in Zeile 24 der Anlage V würden regelmäßig nur Feststellungseinkünfte eingetragen, die bei Fehlen eines Feststellungsbescheids noch gar keine Berücksichtigung finden dürften. [X.]ie Eintragung der positiven Einkünfte sei hier in der falschen Zeile erfolgt. [X.]ie Klägerin habe Einkünfte in Höhe von 34.698 € erklärt, dazu eine Gewinnermittlung vorgelegt und damit den Rechenweg offengelegt. [X.]ie Tatsache, dass die Klägerin positive Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielt habe, sei dem [X.] daher bekannt gewesen. Zudem hätte die Sachbearbeiterin hier nachfragen müssen, warum keine Einkünfte für das Objekt "[X.]" erklärt worden seien oder eine offensichtlich fehlerhafte Eintragung in der Anlage V vorgenommen worden sei. Es sei nicht ihre Aufgabe, das [X.] auf Abweichungen von den erklärten Werten hinzuweisen. [X.]urch Unachtsamkeit nicht bemerkte Erklärungen des Steuerpflichtigen, die Eingang in die Steuerakte gefunden hätten, stellten keine neue Tatsache dar. Eine unsachgemäße Bearbeitung seitens des [X.] und das Unterlassen sich aufdrängender Nachfragen führe dazu, dass eine nachträgliche Änderung nicht möglich sei.

[X.]ie Kläger beantragen,
unter Abänderung des Urteils des [X.] Berlin-Brandenburg vom 6. April 2017  13 K 8108/15 wird der Einkommensteuerbescheid des [X.] vom 22. Februar 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. April 2015 betreffend Einkommensteuer 2010 in der Weise geändert, dass die Einkünfte der Klägerin aus Vermietung und Verpachtung um 34.698 € niedriger festgesetzt werden.

[X.]as [X.] beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Nachträglich bekannt gewordene Tatsache seien nicht die [X.] als solche, sondern die [X.], die von den Klägern als "eigene", also nicht als Beteiligte, erzielt worden seien. [X.]er Umstand, dass die Kläger [X.] in Höhe von 34.698 € als eigene Einkünfte erzielt hätten, sei dem [X.] nicht bekannt gewesen. [X.]ie Kläger hätten den Betrag nämlich nur als [X.], nicht aber als eigene Einkünfte erklärt. Treu und Glauben stehe einer Änderung nicht entgegen. [X.]as [X.] sei seiner Ermittlungspflicht nachgekommen. [X.]ie Eintragungen seien eindeutig gewesen und hätten keinen Anlass zu weiteren Ermittlungen gegeben. Ein verständiger [X.]ritter habe den Inhalt der Erklärung nicht in Zweifel ziehen müssen. Selbst wenn man annähme, das [X.] sei seiner Ermittlungspflicht nicht vollständig nachgekommen, seien die [X.] von Klägern und [X.] gegeneinander abzuwägen. Hier überwiege der Pflichtverstoß des [X.] aber nicht den Pflichtverstoß der Kläger. [X.]en Klägern sei entgegenzuhalten, dass sie die [X.] fehlerhaft als [X.] erklärt hätten. Wären diese zutreffend als "eigene" Einkünfte erklärt worden, hätte die zuständige Sachbearbeiterin nicht angenommen, dass die erklärten Einkünfte in Höhe von 34.698 € im Zusammenhang mit den vom Finanzamt [X.] mitgeteilten [X.]n stünden. [X.]ie Kläger wären dann von vornherein zutreffend veranlagt worden.

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

Das [X.] hat rechtsfehlerhaft das [X.] als berechtigt angesehen, den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 18. Mai 2012 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] wegen einer neuen Tatsache zu ändern. Es sind jedoch nach den Feststellungen des [X.] keine Tatsachen nachträglich bekannt geworden, die zu einer höheren Einkommensteuer führen.

1. Das [X.] hat ohne Rechtsfehler eine Änderung nach § 129 [X.] wegen einer offenbaren Unrichtigkeit abgelehnt. Insoweit verweist der Senat auf die ständige Rechtsprechung des [X.] ([X.]), wonach bei unzutreffender Tatsachenwürdigung, der Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts, einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Übertragungsfehler oder bei mangelnder Sachaufklärung eine Änderung nach § 129 [X.] ausscheidet (vgl. [X.]-Urteile vom 13. Juni 2012 VI R 85/10, [X.]E 238, 295, [X.], 5, Rz 16 f.; vom 26. Oktober 2016 X R 1/14, [X.]/NV 2017, 257, Rz 13; vom 3. Mai 2017 X R 4/16, [X.]/NV 2017, 1415, Rz 13; vom 17. Mai 2017 X R 45/16, [X.]/NV 2018, 10, Rz 25; jeweils vom 16. Januar 2018 VI R 41/16, [X.]E 260, 397, [X.] 2018, 378, Rz 13, und VI R 38/16, [X.]/NV 2018, 513, Rz 13; [X.]-Beschluss vom 15. Oktober 2018 VIII B 79/18, [X.]/NV 2019, 102, Rz 10).

2. Das [X.] hat jedoch rechtsfehlerhaft eine Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] wegen des Vorliegens einer nachträglich bekannt gewordenen "neuen" Tatsache bejaht.

a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 [X.] ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Keine Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 [X.] sind demgegenüber Schlussfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen (ständige Rechtsprechung, z.B. [X.]-Urteile vom 29. November 2017 II R 52/15, [X.]E 260, 306, [X.] 2018, 419, Rz 25, und vom 21. Februar 2017 VIII R 46/13, [X.]E 257, 198, [X.], 745, Rz 34, jeweils m.w.N.; Senatsurteil vom 19. Februar 2013 IX R 24/12, [X.]E 240, 265, [X.], 484, Rz 9). Einkünfte sind als eine Tatsache anzusehen und nicht in Einnahmen und Ausgaben aufzuspalten ([X.]-Urteile vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, [X.]E 172, 397, [X.] 1994, 346, unter 1., Rz 9; vom 10. Juli 2008 IX R 4/08, [X.]/NV 2008, 1803, unter [X.], Rz 16, m.w.N., und in [X.]E 240, 265, [X.], 484, Rz 10).

Nachträglich bekannt geworden ist eine Tatsache, wenn sie das Finanzamt beim Erlass des geänderten Steuerbescheids noch nicht kannte (z.B. [X.]-Urteile in [X.]E 238, 295, [X.], 5, Rz 23; in [X.]E 257, 198, [X.], 745, Rz 35, und in [X.]E 260, 306, [X.] 2018, 419, Rz 25). Die Tatsache muss daher zu dem für eine Aufhebung oder Änderung nach § 173 [X.] maßgebenden Zeitpunkt bereits vorhanden, aber noch unbekannt sein. Dies gilt auch für Hilfstatsachen, die den sicheren Schluss auf eine (innere) Haupttatsache (wie z.B. eine Kenntnis oder eine Absicht) zulassen (vgl. [X.]-Urteil vom 6. Dezember 1994 IX R 11/91, [X.]E 176, 221, [X.] 1995, 192, unter 1., Rz 12; [X.] in Tipke/[X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 [X.] Rz 25).

Bekannt sind alle Tatsachen, die dem für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständigen Sachbearbeiter zur Kenntnis gelangen (vgl. [X.]-Urteil vom 16. Juni 2004 [X.], [X.]/NV 2004, 1502, unter [X.], Rz 17; [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 173 [X.] Rz 30, 33; von [X.] in [X.]/[X.]/[X.] --[X.]--, § 173 [X.] Rz 183). Dabei ist grundsätzlich bekannt, was sich aus den bei der Finanzbehörde geführten Akten ergibt, ohne dass es auf die individuelle Kenntnis des Bearbeiters ankommt ([X.]-Urteile vom 28. April 1998 IX R 49/96, [X.]E 185, 370, [X.] 1998, 458, unter [X.], Rz 19; in [X.]E 238, 295, [X.], 5, Rz 25; in [X.]E 257, 198, [X.], 745, Rz 35; von [X.] in [X.], § 173 [X.] Rz 188; [X.] in BeckOK [X.], [X.]/[X.]/Wagner, 7. Edition Stand 01.01.2019, § 173 Rz 78). Dazu gehören alle Schriftstücke, die bei der Dienststelle vorliegen oder sie im [X.] erreichen. Unerheblich ist, ob der Sachbearbeiter den Vorgang tatsächlich liest, in sein Wissen aufnimmt oder ihn nur überfliegt. Die Finanzbehörde muss sich den gesamten Inhalt der bei ihr geführten Akte als bekannt zurechnen lassen (vgl. [X.]-Urteile in [X.]E 185, 370, [X.] 1998, 458, unter [X.], Rz 21; vom 5. Dezember 2002 IV R 58/01, [X.]/NV 2003, 588, unter 2.c, Rz 24; vom 19. November 2008 II R 10/08, [X.]/NV 2009, 548, unter [X.], Rz 13; vom 13. Januar 2011 VI R 61/09, [X.]E 232, 5, [X.] 2011, 479, Rz 15; in [X.]E 238, 295, [X.], 5, Rz 25; [X.] in Tipke/[X.], a.a.[X.], § 173 [X.] Rz 34; [X.]/Rüsken, [X.], 14. Aufl., § 173 Rz 62; [X.] in BeckOK [X.], a.a.[X.], § 173 Rz 51, 77). Dies gilt auch, wenn der Bearbeiter den ihm vorliegenden Akteninhalt nicht vollständig prüft, z.B. weil er nur überschlägig prüft, ihm keine [X.]e dazu vorliegen oder die vorliegenden [X.]e andere im Änderungsverfahren nicht streitige Tatsachen betreffen (vgl. [X.]-Urteil vom 13. Juli 1990 VI R 109/86, [X.]E 161, 11, [X.] 1990, 1047, unter 2.b, Rz 20; [X.]/Rüsken, a.a.[X.], § 173 Rz 49, 62; [X.], Abgabenordnung, 3. Aufl., § 173 Rz 62; v.[X.] in [X.], [X.] § 173 Rz 62, - August 2015 -). Eine andere Sichtweise würde es dem [X.] ermöglichen, durch einseitige Beschränkung seiner steuerlichen Ermittlungspflichten das Bekanntwerden bestimmter Tatsachen zu vermeiden und damit den gesetzlich geregelten Umfang der Bestandskraft nach eigenem Belieben zu verschieben. Verzichtet das [X.] daher auf die Sichtung ihm vorliegender Belege und damit auf die Nutzung ihm zugänglicher Erkenntnisquellen, so fällt dies in seinen eigenen Risikobereich (so auch [X.]-Urteil in [X.]E 161, 11, [X.] 1990, 1047, unter 2.b, Rz 20).

b) Diesen Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht das angefochtene Urteil nicht. Es ist daher aufzuheben.

Das [X.] hat den Sachverhalt rechtsfehlerhaft dahin gewürdigt, dass die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für das [X.] nachträglich bekannt geworden sind. Hier ergab sich nach den Feststellungen des [X.] der Umstand, dass die Klägerin positive Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 34.698 € erzielt hatte, aus den in den Akten befindlichen Unterlagen. Die Sachbearbeiterin und damit das [X.] müssen sich diesen Akteninhalt als positive Kenntnis zurechnen lassen. Die Kläger hatten ihrer Steuererklärung eine "Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG" beigefügt, aus der sich unter Bezugnahme auf die Klägerin und ihre Wohnanschrift [X.] in Höhe von 34.698 € aus dem Objekt [X.] ergaben.

Der Umstand, dass die Sachbearbeiterin des [X.] nach § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a, § 182 Abs. 1 [X.] verpflichtet war, den Betrag in Höhe von ./. 351,51 € aus der [X.] zu übernehmen, führt ebenfalls nicht dazu, dass die Einkünfte in Höhe von 34.698 € als nicht bekannt gelten. Der Sachbearbeiterin war bereits aufgrund der Kenntnisnahme der in der Anlage V unter der [X.]. 25.857 erklärten Zahl und der vorliegenden [X.] bekannt, dass zwei verschiedene [X.] vorlagen. Die von den Klägern eingereichte "Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG" wies keinen Bezug zu der in den Akten befindlichen [X.] auf. Nach den Feststellungen des [X.] bezog sich die [X.] eindeutig auf die "Grundstücks-, Vermögens- und [X.] ..., Fonds Nr. ...". Die eingereichte "Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG" enthielt eindeutig Einkünfte für das Objekt "[X.]" und damit für ein anderes Objekt.

Dass die Sachbearbeiterin die der Steuererklärung beigefügten Unterlagen bezogen auf die Anlage V keiner näheren Betrachtung unterzogen hat, rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Der Umstand, dass die erhebliche Abweichung zwischen den unter der [X.]. 25.857 erklärten Einkünften in Höhe von 34.698 € und dem Wert der [X.] von ./. 351,51 €, die ebenfalls erhebliche Abweichung zu den im Vorjahr erklärten Einkünften und die darauf folgende hohe Steuererstattung zu keinem [X.] führten, schließt nicht aus, dass die Höhe der Einkünfte der Sachbearbeiterin zur Kenntnis gelangt war. Denn die unter den jeweiligen Kennziffern in den Steuererklärungsformularen erklärten Besteuerungsgrundlagen sind dem [X.] bekannt, und zwar unabhängig davon, ob es zu einer näheren Betrachtung der eingereichten Belege sowie zu einer weiteren Aufklärung, z.B. zu einer Nachfrage bei den Klägern, hätte kommen müssen.

3. Die Sache ist spruchreif. Aus den Feststellungen des [X.] ergibt sich eindeutig, dass die Tatsache, wonach die Klägerin Einkünfte in Höhe von 34.698 € erzielt hatte, aus den Akten folgt. Die Entscheidung des [X.], der Einkommensteuerbescheid 2010 vom 22. Februar 2013 und die Einspruchsentscheidung vom 7. April 2015 sind daher aufzuheben und der Klage stattzugeben.

4. [X.] beruht auf § 135 Abs. 1 [X.]O.

Meta

IX R 29/17

12.03.2019

Bundesfinanzhof 9. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 6. April 2017, Az: 13 K 8108/15, Urteil

§ 129 AO, § 173 Abs 1 Nr 1 AO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 12.03.2019, Az. IX R 29/17 (REWIS RS 2019, 9490)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 9490

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

IX R 17/22 (Bundesfinanzhof)

(Keine Änderung eines Steuerbescheids nach § 173a der AbgabenordnungAO) bei fehlerhaftem Datenimport ins ELSTER-Portal


IV R 2/12 (Bundesfinanzhof)

Korrektur eines Gewinnfeststellungsbescheids bei nachträglichem Bekanntwerden einer Betriebsaufspaltung


15 K 35/14 (FG München)

Offenbare Unrichtigkeit: Keine Übernahme elektronisch übermittelter Daten in die Datenverarbeitung - Verstoß gegen Dienstanweisung - …


X R 49/08 (Bundesfinanzhof)

(Änderungsbefugnis gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO - Rechtmäßigkeit eines Änderungsbescheids - Gewerbesteuerzerlegungsbescheid …


I R 58/16 (Bundesfinanzhof)

Wohnsitz eines Piloten bei mehrjähriger Auslandsabordnung


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.