Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.07.2022, Az. IX ZB 14/21

9. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 4040

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Gegenstand

Zuständigkeit deutscher Gerichte für Entscheidung über Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach Verlegung des Geschäftssitzes


Leitsatz

Die deutschen Gerichte bleiben für die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, wenn der Eröffnungsantrag bei einem örtlich unzuständigen Insolvenzgericht gestellt worden ist und der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Verweisung an das örtlich zuständige Insolvenzgericht den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der Zivilkammer 84 des [X.] vom 28. Januar 2021 wird auf Kosten der Schuldnerin zurückgewiesen.

Der Wert des Verfahrens der Rechtsbeschwerde wird auf 21 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2018 hat die weitere Beteiligte die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin beantragt. Der Antrag ist am 28. Oktober 2018 beim Amtsgericht - Insolvenzgericht - [X.] eingegangen. Mit Beschluss vom 12. Juni 2019 hat das Amtsgericht [X.] die Sache an das Amtsgericht - Insolvenzgericht - [X.] verwiesen.

2

Die Schuldnerin bezweifelt die internationale Zuständigkeit [X.] Gerichte. Im [X.]punkt des Eingangs des Antrags beim Amtsgericht [X.] wies das Handelsregister als Sitz der Schuldnerin eine Ortschaft im Bezirk des Amtsgerichts [X.] aus. Die Schuldnerin war dort jedoch nie tätig geworden. Im März 2017 hatte sie vielmehr in [X.] ein Gewerbe angemeldet. Mit notariellem Vertrag vom 24. April 2019 übertrug der damalige Alleingesellschafter und Geschäftsführer der Schuldnerin seine Anteile auf eine in [X.] ansässige Person. Zugleich wurde der Sitz der Gesellschaft nach [X.] verlegt und eine weitere in [X.] ansässige Person zur Geschäftsführerin bestellt. Diese teilte dem Insolvenzgericht unter dem 25. Juli 2019 mit, sie führe die Geschäfte der Schuldnerin ausschließlich von [X.] aus.

3

Das Amtsgericht - Insolvenzgericht - [X.] hat den Eröffnungsantrag mit Beschluss vom 8. Juli 2019 mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse abgewiesen. Die sofortige Beschwerde der Schuldnerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde will die Schuldnerin weiterhin die Abweisung des [X.] als unzulässig erreichen.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 ZPO, § 34 Abs. 1 Halbsatz 2 [X.] statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie bleibt jedoch ohne Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt: Das Amtsgericht [X.] sei international zuständig gewesen. Nach der Rechtsprechung des [X.] zu Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 bleibe das Gericht eines Mitgliedstaates zuständig, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über die Eröffnung den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlege.

6

Ob dies auch für Art. 3 Abs. 1 der nunmehr einschlägigen Verordnung ([X.]) 2015/848 des [X.] und des Rates vom 20. Mai 2015 und auch dann gelte, wenn der Antrag bei einem örtlich unzuständigen Gericht eingereicht worden sei, habe der [X.] noch nicht entschieden. Diese Frage sei jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Eröffnungsantrag bei demjenigen Gericht gestellt worden sei, in welchem sich der satzungsmäßige Sitz des Schuldners befinde. Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung ([X.]) 2015/848 werde bei Gesellschaften oder juristischen Personen bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des Sitzes sei. Diese Vermutung könne erst im Eröffnungsverfahren widerlegt werden. Maßgeblich für die internationale Zuständigkeit seien in einer solchen Fallgestaltung die Verhältnisse bei Antragstellung.

7

2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

8

a) Die internationale Zuständigkeit [X.] Gerichte richtet sich nach Art. 3 der Verordnung ([X.]) 2015/848 des [X.] und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (fortan: [X.] Verordnung über Insolvenzverfahren oder EuInsVO). Nach Art. 3 Abs. 1 [X.]. 1 Satz 1 EuInsVO sind die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dabei kommt es, wie der [X.] zunächst zu der [X.]. 3 Abs. 1 der Verordnung ([X.]) Nr. 1346/2000 vom 29. Mai 2000 (fortan: EuInsVO 2000) entschieden hat, auf den [X.]punkt der Antragstellung an, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt ([X.], Urteil vom 17. Januar 2006 - [X.]/04, [X.]:[X.]:[X.] = Slg 2006, I - 701 Rn. 22 ff; vgl. auch [X.], Beschluss vom 9. Februar 2006 - [X.] 418/02, [X.], 695; vom 2. März 2006 - [X.] 192/04, [X.], 822 Rn. 10). Nach Erlass der Entscheidung des [X.] hat der [X.] für Art. 3 Abs. 1 EuInsVO entsprechend entschieden ([X.], Urteil vom 24. März 2022 - [X.]/20, [X.]:[X.]:C:2022:209, [X.], 698). Art. 3 Abs. 1 EuInsVO ist ebenfalls dahingehend auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, für die Eröffnung eines solchen Verfahrens weiter ausschließlich zuständig bleibt, wenn der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über diesen Antrag in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird.

9

b) Im [X.]punkt des Eingangs des [X.] beim Amtsgericht [X.], am 28. Oktober 2018, befand sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin im Inland, nämlich in [X.]. Die Geschäftsanteile wurden erst am 24. April 2019 an eine in [X.] ansässige Person veräußert. Die in [X.] ansässige Geschäftsführerin ist ebenfalls erst am 24. April 2019 bestellt worden. Erst nach diesem [X.]punkt können die Geschäfte der Schuldnerin, deren satzungsmäßiger Sitz nach wie vor im Inland lag, von [X.] aus geführt worden sein.

c) Darauf, ob das Amtsgericht [X.] örtlich zuständig war, kommt es bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nicht an.

aa) Nach [X.] Recht lief seit dem 28. Oktober 2018 ein Insolvenzantragsverfahren gegen die Schuldnerin. Ein Insolvenzantrag wird mit Eingang bei dem zuerst angerufenen Insolvenzgericht (vgl. § 2 Abs. 1 und 2 [X.]) anhängig. Das Zulassungsverfahren beginnt (vgl. MünchKomm-[X.]/Ganter/[X.], 4. Aufl., Vor §§ 2 bis 10 Rn. 16). Stellt das zunächst angerufene Gericht seine fehlende örtliche Zuständigkeit fest (vgl. § 3 Abs. 1 [X.]), verweist es die Sache auf Antrag an das örtliche zuständige Insolvenzgericht (§ 4 [X.] iVm § 281 Abs. 1 Satz 1 ZPO; vgl. etwa [X.]/[X.], [X.], § 3 Rn. 44). Durch die Verweisung wird kein neues Eröffnungsverfahren begründet. Das bisher bei dem unzuständigen Gericht geführte Verfahren wird bei dem Gericht fortgesetzt, an welches es verwiesen worden ist, und zwar in dem Stadium, in welchem es sich im [X.]punkt der Verweisung befand (HK-[X.]/Sternal, 10. Aufl., § 3 Rn. 26).

bb) Der [X.] Bezug des vorliegenden Verfahrens ändert hieran nichts. Die [X.] Verordnung über Insolvenzverfahren regelt wie ihre [X.] nur die internationale Zuständigkeit eines angerufenen Gerichts. Dazu, welche Gerichte in den Mitgliedstaaten sachlich und örtlich zuständig sind, sagt sie nichts. Darüber entscheiden die Mitgliedstaaten selbst. Im Erwägungsgrund 26 der EuInsVO heißt es: "Die Zuständigkeitsvorschriften dieser Verordnung legen nur die internationale Zuständigkeit fest, das heißt, sie geben den Mitgliedstaat an, dessen Gerichte Insolvenzverfahren eröffnen dürfen. Die innerstaatliche Zuständigkeit des betreffenden Mitgliedstaats sollte nach dem nationalen Recht des betreffenden Staates bestimmt werden." Folgerichtig verweist Art. 3 Abs. 1 [X.]. 1 Satz 1 EuInsVO nur auf "die Gerichte" des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen habe, ohne nähere Bestimmungen zu treffen. Die Legaldefinition des Begriffs "Gericht" in Art. 2 Nr. 6 lit. ii EuInsVO enthält ebenfalls keine Einschränkungen hinsichtlich der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nach dem jeweiligen nationalen Recht. Der Begriff "Gericht" ist hier funktional auszulegen; er erfasst neben den Justizorganen alle Stellen eines Mitgliedstaats, die befugt sind, ein Insolvenzverfahren zu eröffnen, die Eröffnung eines solchen Insolvenzverfahrens zu bestätigen oder im Rahmen des Verfahrens Entscheidungen zu treffen (HK-[X.]/[X.], 10. Aufl., Art. 2 EuInsVO Rn. 6).

cc) Die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit unabhängig von Einzelfragen der örtlichen und sachlichen Zuständigkeiten nach nationalem Recht entspricht auch dem Sinn und Zweck der [X.]n Verordnung über Insolvenzverfahren. Deren Ziel ist es zu verhindern, dass es für die Parteien vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlagern, um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben. Dieses Ziel würde nicht erreicht, wenn der Schuldner dadurch, dass er in der [X.] zwischen der Stellung des Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens und dem Erlass der Entscheidung zur Eröffnung dieses Verfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, den Gerichtsstand und das anwendbare Recht bestimmen könnte. Ein solcher Wechsel der Zuständigkeit widerspräche zudem dem in den Erwägungsgründen drei und acht der [X.]n Verordnung über Insolvenzverfahren normierten Ziel der Verbesserung der Effizienz und Wirksamkeit grenzüberschreitender Verfahren, da er die Gläubiger zwingen würde, gegen den Schuldner immer wieder dort vorzugehen, wo dieser sich gerade für kürzere oder längere [X.] niederlässt, und dadurch in der Praxis häufig eine Verlängerung des Verfahrens drohen würde ([X.], Urteil vom 24. März 2022 - [X.]/20, [X.]:[X.]:C:2022:209, [X.], 698 Rn. 32, 29, 36). Auch dann, wenn ein Gläubiger den Eröffnungsantrag im zuständigen Mitgliedstaat, aber bei einem örtlich unzuständigen Gericht gestellt hat, sollte der Schuldner keine Gelegenheit zu einem Wechsel der internationalen Zuständigkeit mehr erhalten.

[X.]     

      

[X.]     

      

Schultz

      

Selbmann     

      

Harms     

      

Meta

IX ZB 14/21

07.07.2022

Bundesgerichtshof 9. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Berlin, 28. Januar 2021, Az: 84 T 202/19

Art 3 Abs 1 EGV 1346/2000, § 3 Abs 1 InsO, § 4 InsO, § 281 Abs 1 S 1 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 07.07.2022, Az. IX ZB 14/21 (REWIS RS 2022, 4040)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 4040 WM 2022, 1695 REWIS RS 2022, 4040 MDR 2022, 1181 REWIS RS 2022, 4040

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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