Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 09.01.2023, Az. 10 AV 1/23

10. Senat | REWIS RS 2023, 309

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Gegenstand

Privatrechtlich organisierte Person ist funktional eine Behörde (i. S. d. § 1 Abs. 4 VwVfG)


Leitsatz

Eine beliehene juristische Person des Privatrechts ist jedenfalls dann eine Bundesbehörde im Sinne des § 52 Nr. 2 Satz 1 VwGO, wenn sie durch Gesetz in die Bundesverwaltung organisatorisch eingegliedert ist.

Tenor

Als zuständiges Gericht für die Entscheidung über die Klage wird das [X.] bestimmt.

Gründe

I

1

Die Klägerin stellt verschiedene alkoholfreie Getränkeprodukte her. Sie begehrt die Verpflichtung der [X.], ihr die Einordnung der Getränkeverpackungen des Getränks "[X.] Cuvée Nr. 11 unreifer Apfel/Eichenlaub" als nicht pfandpflichtig zu erteilen. Die Beklagte ist eine rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts mit Sitz in [X.], die durch das [X.] mit der Wahrnehmung im Einzelnen aufgeführter hoheitlicher Aufgaben beliehen ist.

2

Entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid des [X.] hat die Klägerin, deren Sitz im [X.] liegt, Klage beim Verwaltungsgericht [X.] erhoben. Mit Beschluss vom 14. Februar 2022 hat sich das Verwaltungsgericht [X.] für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das [X.] verwiesen. Das [X.] hat sich mit Beschluss vom 18. Mai 2022 für örtlich unzuständig erklärt und dem Verweisungsbeschluss wegen eines Verstoßes gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters die Bindungswirkung abgesprochen. Zugleich hat das [X.] das [X.] angerufen, um das zuständige Gericht innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu bestimmen.

II

3

1. Das [X.] ist für die Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Verwaltungsgericht [X.] und dem [X.] gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 5 VwGO zuständig. Nach dieser Vorschrift wird, wenn verschiedene Verwaltungsgerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben, das zuständige Gericht von dem nächsthöheren Gericht bestimmt. Das ist im vorliegenden Fall des negativen Kompetenzkonflikts zwischen Verwaltungsgerichten verschiedener [X.]länder das [X.] als das gemeinsame nächsthöhere Gericht.

4

2. Über die auf Einordnung von [X.] als nicht pfandpflichtig gerichtete Verpflichtungsklage hat das [X.] zu entscheiden. Das [X.] legt zwar zutreffend dar, dass das Verwaltungsgericht [X.] bei Klageerhebung nach § 52 Nr. 2 Satz 1 und 2 VwGO für die Entscheidung des Rechtsstreits örtlich zuständig war (a). Dem Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts [X.] kann aber entgegen der Auffassung des [X.] nicht die Bindungswirkung des § 83 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG abgesprochen werden (b).

5

a) Nach § 52 Nr. 2 Satz 1 VwGO ist bei [X.] gegen den Verwaltungsakt einer [X.]behörde oder einer bundesunmittelbaren Körperschaft, Anstalt oder [X.] das Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die [X.]behörde, die Körperschaft, Anstalt oder Stiftung ihren Sitz hat. Dies gilt nach § 52 Nr. 2 Satz 2 VwGO auch bei [X.]. Die privatrechtlich organisierte Beklagte ist funktional eine Behörde im Sinne des § 1 Abs. 4 VwVfG, weil sie Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Sie nimmt zudem - wie es für die zuständigkeitsbegründende Anknüpfung an den Sitz der Behörde ([X.]) in § 52 Nr. 2 Satz 1 und 2 VwGO maßgeblich ist - als Zentrale Stelle ihre Aufgabe bundesweit wahr. Sie ist auch durch die Vorschriften des [X.]es (Gesetz über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die hochwertige Verwertung von Verpackungen - [X.]) vom 5. Juli 2017 ([X.]), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 22. September 2021 ([X.]), sowohl hinsichtlich der Art und Weise ihrer Errichtung als Privatrechtssubjekt als auch hinsichtlich der Überwachung der Aufgabenerfüllung und der Eingriffsbefugnisse des [X.], dem nicht nur die Rechts-, sondern auch die Fachaufsicht über die Zentrale Stelle obliegt, in besonderer Weise organisatorisch in die [X.]verwaltung eingegliedert.

6

Gemäß § 24 Abs. 1 [X.] hatten Hersteller, Vertreiber oder Interessenverbände bis zum 1. Januar 2019 unter dem Namen Zentrale Stelle [X.] eine rechtsfähige Stiftung des bürgerlichen Rechts zu errichten. Die Satzung der [X.], die für ihre Existenz konstitutiv ist, sowie jegliche Satzungsänderung bedurften bzw. bedürfen gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 3 [X.] des Einvernehmens bzw. der Zustimmung des [X.], nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Das Fachministerium kann sein Einvernehmen oder seine Zustimmung unter den in § 24 Abs. 4 [X.] genannten Voraussetzungen jederzeit widerrufen. Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 [X.] ist die Zentrale Stelle mit der Wahrnehmung der in Satz 2 aufgeführten hoheitlichen Aufgaben beliehen. Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 [X.] untersteht die Zentrale Stelle hinsichtlich der ihr nach § 26 Abs. 1 [X.] übertragenen Aufgaben der Rechts- und Fachaufsicht des [X.]. Die Haushalts- und Wirtschaftsführung der Zentralen Stelle unterliegt der Prüfung durch den [X.] (§ 29 Abs. 2 [X.]). Erfüllt die Zentrale Stelle die ihr nach § 26 Abs. 1 [X.] übertragenen Aufgaben nicht oder nicht ausreichend, ist das [X.] befugt, die Aufgaben selbst durchzuführen oder im Einzelfall durch einen Beauftragten durchführen zu lassen (§ 29 Abs. 3 Satz 1 [X.]). Für diesen Fall trifft die Zentrale Stelle nach § 29 Abs. 3 Satz 2 [X.] geeignete Vorkehrungen, um die Arbeitsfähigkeit des [X.] oder des von ihm beauftragten Dritten sicherzustellen.

7

Diese umfassende rechtliche Eingliederung in die [X.]verwaltung und die bundesweite Tätigkeit rechtfertigen es, die Beklagte für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit den in § 52 Nr. 2 Satz 1 VwGO genannten [X.]behörden und sonstigen bundesunmittelbaren öffentlich-rechtlichen Einrichtungen organisationsrechtlich gleichzustellen (vgl. zur Vertretungsbefugnis nach § 67 Abs. 4 VwGO auch [X.], Beschluss vom 8. Oktober 1998 - 3 B 71.97 - [X.] 310 § 67 VwGO Nr. 93). Die Konzentration der Streitigkeiten gegen Entscheidungen der Zentralen Stelle bei dem Verwaltungsgericht, in dessen Bezirk die Zentrale Stelle ihren Sitz hat, ist auch aus den von der [X.] in der Beschwerdeerwiderung näher dargelegten Gründen sachgerecht und trägt insbesondere dem mit § 52 Nr. 2 Satz 1 VwGO verfolgten Anliegen der Spezialisierung Rechnung (vgl. [X.], Urteil vom 8. März 1977 - 1 C 39.72 - juris Rn. 12).

8

Die Konzentration der Zuständigkeit bei einem Gericht entspricht dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers. Allerdings ist die Gesetzesbegründung zum [X.] nicht frei von Widersprüchen hinsichtlich der rechtlichen Qualifizierung der [X.]. So finden sich in der Gesetzesbegründung Aussagen dafür, dass der Gesetzgeber die Zentrale Stelle nicht als Behörde im organisatorischen Sinne ansieht, sondern sich bewusst dagegen entschieden hat, weil der Gesetzeszweck "mit einer staatlichen Behörde nicht in der gleichen Weise herzustellen" wäre wie mit einer privaten Stiftung ([X.]. 18/11274 S. 124). An anderer Stelle bezeichnet die Gesetzesbegründung die Zentrale Stelle dagegen als "reine [X.]behörde", die keine organisatorische Vermischung mit Landesbehörden aufweise ([X.]. 18/11274 [X.], 131). Unabhängig hiervon bringt die Gesetzesbegründung jedoch eindeutig zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber des [X.]es eine Konzentrationswirkung bei einem Gericht angestrebt hat, wie die ausdrücklich erwähnte Anlehnung der Zentralen Stelle an das Konzept des [X.] zeigt, für das das [X.] eine Zuständigkeit in Anwendung des § 52 Nr. 2 VwGO bejaht ([X.], Beschluss vom 4. Juli 2007 - [X.], [X.] - juris Rn. 12).

9

b) Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses wird nur bei extremen Rechtsverstößen durchbrochen. So liegt es, wenn sich die Verweisung bei der Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen so weit von dem diese beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfernt hat, dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist ([X.], Beschluss vom 26. Januar 2022 - 7 AV 1.21 - juris Rn. 6). Das ist hier nicht der Fall.

In der Rechtsprechung und Literatur wird die Frage, ob ein Beliehener als [X.]behörde im Sinne des § 52 Nr. 2 VwGO anzusehen ist, unterschiedlich beantwortet und überwiegend verneint (vgl. [X.] ff., der den Beschluss des [X.] vom 11. Mai 2020 - 6 K 28/20 - mit entsprechenden Nachweisen zitiert; a. A. etwa [X.], Beschluss vom 2. Juni 2022 - 26 K 78/22 - juris Rn. 5 ff.). Dieser Mehrheitsmeinung in Schrifttum und Literatur hat sich das Verwaltungsgericht [X.] angeschlossen und hierbei auf den ausführlich begründeten Beschluss des [X.] Bezug genommen und sich diesen zu eigen gemacht. Dass dem [X.] eine andere Fallkonstellation hinsichtlich des Beliehenen und dessen Eingliederung in die behördliche Struktur zugrunde lag, führt dabei nicht auf eine Unhaltbarkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts [X.]. Für das Verwaltungsgericht war - wie es durch Kursivschrift unterstreicht - maßgeblich, dass es sich bei der Zentralen Stelle um eine Stiftung bürgerlichen Rechts und eben nicht des öffentlichen Rechts handelt ([X.]). Ein solches Privatrechtssubjekt könne keine [X.]behörde sein, unabhängig davon, dass es aufgrund eines [X.]gesetzes gegründet und beliehen worden sei und ihm seitens des [X.] eine Vielzahl hoheitlicher Aufgaben überwiesen worden sei ([X.]). Damit geht das Gericht erkennbar davon aus, dass auch bei einer weitgehenden Eingliederung eines Beliehenen in eine [X.]behörde, dieser nur im funktionalen Sinne [X.] erlangt, sie aber im organisationsrechtlichen Sinne nie erlangen kann. Diese Auffassung ist jedenfalls nicht unvertretbar. Darauf, ob sie mehr oder weniger überzeugend ist, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Entsprechendes gilt, soweit das Verwaltungsgericht [X.] davon ausgeht, die örtliche Zuständigkeit richte sich nach § 52 Nr. 3 Satz 2 Alt. 1 VwGO. Seine Auffassung, die Zuständigkeit der bundesweit tätigen Zentralen Stelle erstrecke sich auf "mehrere" [X.] im Sinne dieser Vorschrift, ist entgegen dem Vorbringen der [X.] mit dem Wortlaut der Vorschrift vereinbar und wird auch vom Oberverwaltungsgericht für das [X.], auf das das Verwaltungsgericht Bezug nimmt, vertreten ([X.], Urteil vom 19. November 2010 - 2 A 63/08 - [X.]). Es ist ebenso noch vertretbar, dass das Verwaltungsgericht davon ausgeht, § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO finde auch auf [X.] [X.]recht Beliehene Anwendung. Die Auffassung, es sei für die Zuständigkeitsbestimmung allein entscheidend, dass es sich insoweit nicht um eine [X.]behörde im Sinne des § 52 Nr. 2 Satz 1 VwGO handele, wird in der Rechtsprechung und Literatur vertreten ([X.], Beschluss vom 27. Dezember 2012 - 14 K 260.12 - NVwZ-RR 2013, 485 <486>; [X.]/von [X.], VwGO, 17. Aufl. 2022, § 52 Rn. 14; [X.], in: [X.]/[X.], VwGO, 5. Aufl. 2018, § 52 Rn. 26; Stuttmann, DVBl. 2011, 1202 <1203 f.>).

Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Das Verfahren nach § 53 VwGO ist gerichtskostenfrei und stellt hinsichtlich der Anwaltskosten dieselbe Angelegenheit dar wie das Verfahren, für das der Gerichtsstand bestimmt werden soll (§ 16 Nr. 3a RVG). Die Kosten des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Gerichts sind damit Teil der Kosten des zugrundeliegenden Hauptsacheverfahrens.

Meta

10 AV 1/23

09.01.2023

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AV

vorgehend VG Stuttgart, 18. Mai 2022, Az: 14 K 1009/22, Beschluss

Art 87 Abs 3 S 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 17a Abs 2 S 3 GVG, § 52 Nr 2 S 1 VwGO, § 52 Nr 2 S 2 VwGO, § 53 Abs 1 Nr 5 VwGO, § 83 S 1 VwGO, § 1 Abs 4 VwVfG, § 24 Abs 1 VerpackG, § 24 Abs 2 S 1 VerpackG, § 24 Abs 3 S 3 VerpackG, § 24 Abs 4 VerpackG, § 26 Abs 1 S 1 VerpackG, § 26 Abs 1 S 2 Nr 25 VerpackG, § 29 Abs 1 S 1 VerpackG, § 29 Abs 2 VerpackG, § 29 Abs 3 S 1 VerpackG, § 29 Abs 3 S 2 VerpackG, § 29 Abs 3 S 3 VerpackG, § 30 Abs 2 VerpackG, § 31 VerpackG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 09.01.2023, Az. 10 AV 1/23 (REWIS RS 2023, 309)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 309

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