Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.03.2022, Az. 6 StR 63/22

6. Strafsenat | REWIS RS 2022, 2707

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Gegenstand

Strafverfahren: Absehen von der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ohne vorherige Begutachtung durch einen Sachverständigen


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] i.d. [X.]. vom 5. Oktober 2021 mit den zugehörigen Feststellungen im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des [X.] zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in fünf Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die [X.] der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt mit einer Verfahrensrüge zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs (§ 349 Abs. 4 [X.]). Im Übrigen ist sie unbegründet nach § 349 Abs. 2 [X.].

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s konsumierte der Angeklagte von seinem 14. Lebensjahr an Marihuana. Im Tatzeitraum (Mitte der Jahres 2019 bis zum 16. Januar 2020) hatte er seinen [X.] auf 20 Gramm pro Woche gesteigert. Die [X.] hat von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 Satz 1 StGB) abgesehen, weil sie sich vom Nichtvorliegen eines Hangs im Sinne der Vorschrift überzeugt hat. Dafür spreche vor allem, dass der nicht einschlägig bestrafte und im Zuge des Verfahrens nicht inhaftierte Angeklagte nach seinen eigenen Angaben seinen vorherigen, teils erheblichen [X.] selbstständig eingestellt und diesen Zustand „über den mittlerweile gegebenen Zeitraum eines halben Jahres“ aufrechterhalten habe. Einen Sachverständigen hat die [X.] nicht hinzugezogen.

3

2. Die Revision beanstandet dies im Wege einer Verfahrensrüge im Ergebnis mit Recht.

4

a) Die [X.] ist zulässig erhoben. Zwar weist der [X.] zutreffend darauf hin, dass der Beschwerdeführer die [X.] (§ 344 Abs. 2 Satz 2 [X.]) für die von ihm erhobene [X.] bzw. Aufklärungsrüge in mehrfacher Hinsicht verfehlt hat. Jedoch ist seinem Vorbringen eindeutig zu entnehmen, dass er die Nichtvernehmung eines Sachverständigen zu den medizinischen Voraussetzungen einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angreifen will. Die [X.] sind deshalb als Beanstandung einer Verletzung des in § 246a Abs. 1 Satz 2 [X.] enthaltenen Gebotes zu verstehen (vgl. [X.]/[X.], [X.], 64. Aufl., § 352 Rn. 5 mwN). Insoweit hat der Beschwerdeführer die erforderlichen Tatsachen mitgeteilt (vgl. auch [X.], Beschluss vom 17. Juli 2013 – 2 [X.], [X.], 670). Dass er die einschlägige Vorschrift nicht benannt hat, ist unschädlich (vgl. § 352 Abs. 2 [X.]).

5

b) Die [X.] ist auch begründet.

6

aa) Allerdings vertritt der [X.] über die bisherige Rechtsprechung des [X.] hinaus (vgl. [X.], Beschluss vom 20. September 2011 – 4 [X.], [X.], 463) die Auffassung, dass das Tatgericht von einer Begutachtung auch dann absehen darf, wenn es eine grundsätzlich in Betracht kommende Maßregelanordnung nach § 64 StGB nicht in Erwägung zieht, weil nach den Umständen des Einzelfalls das Fehlen der Anordnungsvoraussetzungen auf der Hand liegt (vgl. BT-Drucks. 16/1110, [X.], 16/1344, [X.]). Dies gilt nicht nur für Fälle offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht (dazu BT-Drucks. 16/1110, 16/1344, jeweils aaO; [X.]/[X.], [X.], 64. Aufl., § 246a Rn. 3; MüKo-StGB/[X.], 4. Aufl., § 64 Rn. 108; KK-[X.], [X.], 8. Aufl., § 246a Rn. 2; [X.]. 16/5137, S. 11; LR-[X.]/[X.], 27. Aufl., § 246a Rn. 8; [X.], [X.], 68, 70; offengelassen von [X.], Beschluss vom 20. September 2011 – 4 [X.], aaO), sondern auch für Konstellationen evident fehlenden Hangs. Verschafft sich das Tatgericht etwa die sichere Überzeugung, dass der Angeklagte unter dem Eindruck des Strafverfahrens den Drogenkonsum vollständig eingestellt hat und nach längerem Zeitablauf im maßgebenden Zeitpunkt des Urteils (MüKo-StGB/[X.], aaO, § 64 Rn. 76 mwN) weiterhin abstinent lebt (einschränkend für [X.] während Haftzeiten [X.], Beschluss vom 22. September 2021 – 1 [X.] Rn. 19), so bedarf es keiner Hilfe durch einen Sachverständigen mehr. Wortlaut und Wortsinn der Vorschrift lassen diese Auslegung ohne Weiteres zu (insoweit auch LR-[X.]/[X.], aaO). Sie entspricht dem legitimen Anliegen, überflüssige Begutachtungen durch forensisch erfahrene Sachverständige zu vermeiden (vgl. MüKo-StGB/[X.], aaO, § 64 Rn. 108). Die gegenteiligen Ausführungen im Bericht des federführenden [X.] (vgl. BT-Drucks. 16/5137, S. 11), die dazu führen, dass der Regelung des § 246a Abs. 1 Satz 2 [X.] kaum noch ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleibt (vgl. LR-[X.]/[X.], aaO), finden in der maßgebenden Gesetzesfassung keinen Niederschlag.

7

bb) Die Entscheidung des [X.]s, von der Vernehmung eines Sachverständigen abzusehen, hält gleichwohl rechtlicher Überprüfung nicht stand. Denn die Feststellung einer stabilen Abstinenz des Angeklagten mit der Folge des Vorliegens eines Evidenzfalls im vorgenannten Sinne ist nicht hinreichend belegt. Abgesehen davon, dass sich die Urteilsgründe widersprüchlich dazu verhalten, wann der Angeklagte seinen Drogenkonsum eingestellt hat ([X.]: „Januar 2020“; [X.]: „Januar 2021“; [X.]: „Zeitraum eines halben Jahres“), stützt sich die [X.] ausschließlich auf die „eigenen Angaben des Angeklagten“, ohne diese jedoch in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Ausweislich der Urteilsgründe sind weder Haarproben entnommen und untersucht noch sonstige Testungen vorgenommen worden. Die Revision weist in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht darauf hin, dass die diesbezügliche Einlassung – erstmals gegenüber der Jugendgerichtshilfe im September 2021 und dann in der Hauptverhandlung – von dem Bestreben bestimmt gewesen sein kann, eine mildere Bestrafung zu erreichen. Damit hätte sich die [X.] auseinandersetzen müssen. Deren Berufung auf in anderen Verfahren gewonnene richterliche Sachkunde vermag diese Defizite in Bezug auf die Befindlichkeiten gerade des Angeklagten nicht zu überwinden.

8

3. [X.] in einer Entziehungsanstalt kann auf dem Verfahrensmangel beruhen (§ 337 Abs. 1 [X.]). Der Rechtsfehler nötigt im Blick auf § 5 Abs. 3 [X.] auch zur Aufhebung des Strafausspruchs. Zwar liegt nach den Feststellungen die Annahme eher fern, dass die Anordnung der Maßregel eine Jugendstrafe entbehrlich machen könnte.

Der [X.] kann aber nicht völlig ausschließen, dass das [X.] bei einer Unterbringungsentscheidung in Anwendung von § 5 Abs. 3 [X.] davon abgesehen hätte, Jugendstrafe zu verhängen (vgl. etwa [X.], Beschlüsse vom 29. April 2003 – 4 [X.]; vom 4. März 2008 – 3 StR 30/08).

[X.]     

      

König     

      

Feilcke

      

Fritsche     

      

von [X.]     

      

Meta

6 StR 63/22

23.03.2022

Bundesgerichtshof 6. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Weiden, 5. Oktober 2021, Az: JK 1 KLs 16 Js 9163/20 jug

§ 64 StGB, § 246a StPO, § 261 StPO, § 267 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.03.2022, Az. 6 StR 63/22 (REWIS RS 2022, 2707)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2707

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