Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.10.2011, Az. 5 StR 267/11

5. Strafsenat | REWIS RS 2011, 1965

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Gegenstand

Sicherungsverwahrung: Zulässiges Verteidigungsverhalten und Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts bei Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen schweren Kindesmissbrauchs


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 9. September 2010 nach § 349 Abs. 4 StPO im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 21 Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 77 Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch Jugendlicher in drei Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs Jugendlicher in 33 Fällen und wegen Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die gegen das Urteil gerichtete Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der [X.] ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des [X.]s nahm der Angeklagte in der [X.] Juni 2002 bis Oktober 2007 an 16 Jungen im Alter zwischen elf und 15 Jahren – oftmals gegen Entgelt – sexuelle Handlungen unterschiedlichen Ausmaßes bis hin zum wechselseitigen Oralverkehr vor.

3

Das [X.] hat Einzelstrafen zwischen sechs Monaten und vier Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verhängt. Das Vorliegen minder schwerer Fälle hat es in allen in Betracht kommenden Fällen verneint. Ferner hat es die Voraussetzungen für eine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und 3 Satz 2 StGB aF angenommen.

4

2. Die Einwendungen gegen den Schuldspruch sind unbegründet. Auch die Zumessung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe hält sachlichrechtlicher Überprüfung stand. Insbesondere besorgt der Senat trotz wiederholter uneingeschränkter Erwähnung noch nicht, dass das [X.] im Rahmen der Einzel- und Gesamtstrafbildung im Nachhinein erkennbar gewordene schwere psychische Schäden von Tatopfern sowie den besonderen Aufwand und das systematische Vorgehen, durch das der Angeklagte die Jungen an sich gebunden hatte, zu weitgehend zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, ferner die Strafen nicht ausreichend differenziert und unter teilweise zu weitreichender Anlastung krimineller Energie gebildet hätte [X.]/[X.]/[X.], Praxis der Strafzumessung, 4. Aufl., Rn. 661).

5

3. Indes hält die Begründung des [X.]s – ungeachtet der Maßgaben der durch das [X.] mit Urteil vom 4. Mai 2011 (NJW 2011, 1931) erlassenen Weitergeltungsanordnung zu § 66 Abs. 2 StGB aF, welche die [X.] noch nicht berücksichtigen konnte – sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand.

6

Die [X.] begründet ihre Überzeugung vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 66 Abs. 2, 3 Satz 2 StGB aF maßgebend auch damit, dass der Angeklagte seine Taten „bagatellisiere und aufgrund seiner histrionischen Persönlichkeit sein eigenes Verhalten schönfärbe, so dass eine echte Einsicht in sein Fehlverhalten nicht zu erkennen“ sei. Diese und weitere Erwägungen zur Einlassung des Angeklagten ([X.] f.) lassen besorgen, dass die [X.] bei der Prüfung des Hangs und im Rahmen der Gefahrenprognose sowie der Ermessensentscheidung zulässiges Verteidigungsverhalten zu dessen Nachteil verwertet hat. Bei der Verwendung der Begriffe der Bagatellisierung oder der mangelnden Einsicht hat es nämlich nicht etwa auf eine Geringschätzung eingestandenen Unrechts abgestellt, sondern im Wesentlichen das Bestreiten von die Strafbarkeit begründenden und das Behaupten von schuldmindernden tatsächlichen Umständen herangezogen. Der Versuch eines Angeklagten, das ihm vorgeworfene Verhalten sachlich anders darzustellen oder wegen tatsächlicher Umstände in einem milderen Licht erscheinen zu lassen, stellt indessen zulässiges Verteidigungsverhalten dar (vgl. [X.], Beschluss vom 4. August 2009 – 1 [X.], [X.], 270), das ihm im Zuge der [X.] nicht angelastet werden darf ([X.], Beschlüsse vom 13. September 2011 – 5 [X.]; vom 5. April 2011 – 3 StR 12/11, [X.], 482; vom 13. November 2007 – 3 [X.], [X.], 301; vom 25. Februar 2000 – 2 [X.], [X.], 19; Urteil vom 16. September 1992 – 2 StR 277/92, [X.], 3247). Andernfalls wäre der Angeklagte gezwungen, seine Verteidigungsstrategie aufzugeben, will er hinsichtlich der Sicherungsverwahrung einer ihm ungünstigen Entscheidung entgegenwirken (vgl. [X.], Beschluss vom 25. Februar 2000 aaO).

7

4. Das neue Tatgericht wird bei seiner Entscheidung über den [X.] die Vorgaben des Urteils des [X.]s vom 4. Mai 2011 zu beachten haben. Danach gelten die hier anzuwendenden und für verfassungswidrig erklärten Vorschriften über die Sicherungsverwahrung bis zum 31. Mai 2013 fort; die Regelungen dürfen aber nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden ([X.] aaO). In der Regel wird die Verhältnismäßigkeit nur dann gewahrt sein, wenn eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist ([X.] aaO Rn. 172; [X.], Urteile vom 7. Juli 2011 – 5 [X.], und vom 4. August 2011 – 3 [X.]). Ein entsprechend strenger Maßstab ist demnach sowohl hinsichtlich der Erheblichkeit der Taten als auch bei der Prüfung der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung anzulegen ([X.], Beschluss vom 13. September 2011 – 5 [X.]; Urteil vom 4. August 2011 – 3 [X.]).

8

Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB können im Hinblick auf die hohe Strafdrohung und die für die Tatopfer oftmals gewichtigen psychischen Auswirkungen grundsätzlich – abhängig von den Umständen des Einzelfalls – als schwere Sexualstraftaten im vorgenannten Sinn bewertet werden (vgl. zur Vergewaltigung [X.], Urteil vom 4. August 2011 – 3 [X.]). Ob die Gefahr künftiger Begehung gerade solcher Taten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Angeklagten abzuleiten ist, wird das neue Tatgericht namentlich unter Berücksichtigung der langen Dauer der Untersuchungshaft sowie der erstmaligen Verhängung einer erheblichen Freiheitsstrafe sorgsam zu prüfen haben.

[X.]                              Schneider

                         König                                 [X.]

Meta

5 StR 267/11

26.10.2011

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Berlin, 9. September 2010, Az: (530) 21 Ju Js 2134/04 KLs (25/08), Urteil

§ 66 Abs 2 StGB vom 27.12.2003, § 66 Abs 3 StGB vom 27.12.2003, § 176a Abs 2 Nr 1 StGB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 26.10.2011, Az. 5 StR 267/11 (REWIS RS 2011, 1965)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1965

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