Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 03.03.2010, Az. 4 AZB 23/09

4. Senat | REWIS RS 2010, 8807

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Gegenstand

Verhinderung eines Richters an der Unterschriftsleistung - Vorliegen eines Verhinderungsgrundes - subjektiver Kenntnisstand des Vorsitzenden


Leitsatz

1. Die wirksame Ersetzung einer richterlichen Unterschrift unter einem Urteil durch einen Verhinderungsvermerk des Vorsitzenden nach § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO setzt voraus, dass der Vorsitzende sich Kenntnis über diejenigen Tatsachen verschafft hat, die die Annahme einer nicht nur kurzfristigen Verhinderung des Beisitzers an der Unterschriftsleistung rechtfertigen.

2. Maßgebend ist dabei der subjektive Kenntnisstand des Vorsitzenden.Auf den späteren tatsächlichen Gang der Ereignisse kommt es für die Ersetzungswirkung des Verhinderungsvermerks nicht an.

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 19. Februar 2009 - 8 [X.]/08 - aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

[X.] Parteien streiten über die Nachwirkung eines Tarifvertrages und sich daraus ergebende [X.] und Zahlungsansprüche des [X.].

2

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das [X.] hat die hiergegen gerichtete Berufung des [X.] mit Urteil vom 19. Februar 2009 zurückgewiesen und die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.

3

Mit der sofortigen Beschwerde nach § 72b ArbGG begehrt der Kläger die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das [X.]. Die Beklagten beantragen die Zurückweisung der Beschwerde.

4

II. Die sofortige Beschwerde des [X.] ist zulässig und begründet. Das Urteil des [X.]s ist nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben worden, § 72b Abs. 1 ArbGG.

5

1. Die sofortige Beschwerde des [X.] ist zulässig. Sie ist statthaft; die Frist- und Formvorschriften aus § 72b Abs. 2 und 3 ArbGG wurden eingehalten.

6

2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

7

a) Eine sofortige Beschwerde nach § 72b Abs. 1 ArbGG ist begründet, wenn das angefochtene Urteil des [X.]s nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst und mit den Unterschriften sämtlicher Mitglieder der Kammer versehen der Geschäftsstelle übergeben worden ist, § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG. Ist [X.] verhindert, seine Unterschrift beizufügen, wird dies unter Angabe des Verhinderungsgrundes vom [X.]n unter dem Urteil vermerkt, § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Als Verhinderungsgrund im Rechtssinne ist nicht jede zeitweise Unmöglichkeit der Unterschriftsleistung anzusehen. So reicht eine kurzfristige Ortsabwesenheit hierfür nicht aus([X.] 22. August 2007 - 4 [X.] 1225/06 - Rn. 10, [X.] ZPO § 315 Nr. 1 = EzA ArbGG 1979 § 72b Nr. 3; 17. August 1999 - 3 [X.] - [X.] ZPO § 551 Nr. 51 = EzA ArbGG 1979 § 69 Nr. 2), selbst wenn das Abwarten auf die Beendigung der Ortsabwesenheit dazu führte, dass die Fünf-Monats-Frist des § 72b ArbGG nicht eingehalten werden kann ([X.] 24. Juni 2009 - 7 ABN 12/09 - Rn. 7, [X.] 2009, 553, 554). Entfällt der vorübergehende Verhinderungsgrund zB innerhalb einer Woche, etwa wegen einer unmittelbar bevorstehenden Rückkehr des [X.] aus dem Urlaub, liegen die Voraussetzungen des § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht vor (so in den Fällen bei [X.] 24. Juni 2009 - 7 ABN 12/09 - Rn. 10, aaO; BVerwG 9. Juli 2008 - 6 [X.]/08 - Rn. 5, [X.] 2008, 545). Ein Verhinderungsvermerk des [X.]n entfaltet demnach nur die in § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO vorgesehene Wirkung, wenn tatsächlich ein Verhinderungsgrund vorliegt. Hiervon hat sich der [X.] vor der Anbringung des Vermerks zu vergewissern. Er hat für seine Entscheidung, von der Ausnahmeregelung des § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch zu machen, sowohl die zum Zeitpunkt der Unterschriftsreife bestehende Verhinderung zu überprüfen, als auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des [X.] die Prognose der weiter andauernden Verhinderung für mindestens eine weitere Woche zu erstellen; soweit sich der Senat in seiner Entscheidung vom 22. August 2007 (- 4 [X.] 1225/06 - Rn. 10, aaO) insoweit für einen zweiwöchigen Zeitraum ausgesprochen hat, hält er daran aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit im Hinblick auf die oa. Entscheidungen des [X.] des [X.] sowie des [X.] nicht fest. Dabei ist [X.] verpflichtet, sich über die tatsächlichen Grundlagen der Prognose hinreichende Gewissheit zu verschaffen. [X.] er dies, ersetzt der Verhinderungsvermerk die Unterschrift nach § 315 Abs. 1 ZPO auch dann, wenn die Prognose sich im Nachhinein als fehlerhaft herausstellt, etwa wegen einer dem Vorsitzenden unrichtig erteilten Information des Arbeitgebers über den Urlaub des verhinderten [X.]. Maßgebend ist der subjektive Kenntnisstand des [X.]s, dem etwaige ergänzende Kenntnisse der Geschäftsstelle seines Gerichtes zugerechnet werden können. Eine danach unzulässige Ersetzung der Unterschrift durch den Vorsitzenden kann nicht durch einen ihm unbekannten und nicht in die Entscheidung einbezogenen Tatsachenverlauf nachträglich Wirksamkeit entfalten, ebenso wenig wie eine nach diesen Maßstäben gerechtfertigte Anbringung des Verhinderungsvermerks durch eine für ihn nicht erkennbare oder vorhersehbare Abweichung des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse nachträglich unwirksam werden kann.

8

Stellt die beschwerte Partei den Kenntnisstand des [X.]s im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden, notwendig begrenzten Mittel substantiiert in Frage und stützt sie hierauf eine Beschwerde nach § 72b ArbGG, ist das Beschwerdegericht gehalten, im Freibeweisverfahren zu klären, ob [X.] den Rechtsbegriff der Verhinderung verkannt hat und sich nicht die für die Ausnahmeregelung von § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO erforderliche Kenntnis über die aktuelle und die prognostizierte Verhinderung des [X.] verschafft hat; dies kann etwa durch Einholung einer dienstlichen Erklärung des [X.]n erfolgen. Ergibt sich hieraus, dass [X.] von einer Verhinderung iSv. § 315 Abs. 1 Satz 2 ZPO ausgehen durfte, ist der Verhinderungsvermerk wirksam. Es kommt danach regelmäßig nicht darauf an, ob eine nachträgliche Betrachtung die tatsächliche Verhinderung bestätigt oder nicht.

9

b) Nach diesen Maßstäben ist das angefochtene Urteil nicht rechtzeitig mit allen Unterschriften versehen der Geschäftsstelle übergeben worden.

aa) Das angefochtene Urteil ist am 19. Februar 2009 verkündet worden. Die in § 72b Abs. 1 Satz 1 ArbGG vorgesehene Fünf-Monats-Frist lief am Sonntag, dem 19. Juli 2009 ab. Am Freitag, dem 17. Juli 2009, ist den Parteien jeweils eine Ausfertigung des Urteils zugesandt worden. Dieses ist im Original von [X.] D sowie vom [X.] am [X.] R „(zugleich für die wegen Urlaubs an der Unterschrift gehinderte ehrenamtliche Richterin [X.])“ unterzeichnet worden. Ausweislich der vom Senat eingeholten dienstlichen Erklärungen des [X.]n und der Mitarbeiterin der zuständigen Geschäftsstelle hat der Vorsitzende das Urteil am Donnerstag, dem 16. Juli 2009 der Geschäftsstelle übergeben. Bereits vorher, ohne dass das genaue Datum dokumentiert ist, hatte er die Geschäftsstelle gebeten, die Ortsanwesenheit [X.] zu überprüfen. Die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle rief nach der Übergabe des Urteils bei den ehrenamtlichen Richtern an und erfuhr bei einem Anruf an der Arbeitsstelle der Richterin [X.], dass diese sich im Urlaub befinde. Über nähere Kenntnisse, etwa über die Dauer des Urlaubs von Frau [X.], verfügt die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle nicht. Nach dieser Mitteilung versuchte sie erfolglos, Frau [X.] zu Hause zu erreichen. Eine Überprüfung dieser Angaben durch den Vorsitzenden oder der Versuch der Erlangung weiterer Kenntnisse wurde nicht unternommen.

bb) Danach ist der Verhinderungsvermerk des [X.]s am [X.] nicht geeignet, die Unterschrift [X.]in wirksam zu ersetzen. Der subjektive Kenntnisstand des [X.]s rechtfertigt die Annahme einer Verhinderung [X.]in im Rechtssinne nicht.

Die Mitteilung, die ehrenamtliche Richterin sei „im Urlaub“, deckt die Anforderungen an die Tatsachengrundlagen für die rechtliche Annahme einer Verhinderung nicht ab. Für eine Verhinderung im Rechtssinne ist es erforderlich, dass die Verhinderung nicht nur zum Zeitpunkt der frühestmöglichen Unterschriftsleistung besteht, sondern einen Zeitraum von mindestens einer weiteren Woche umfasst. Eine Verhinderung allein an einem Tag ist nicht ausreichend. Der Vorsitzende hätte sich ferner vergewissern müssen, ob die ehrenamtliche Richterin trotz Urlaubs nicht in der Lage ist, die Unterschrift zu leisten. Hierfür ist in der Regel Ortsabwesenheit erforderlich, die bei einer dem Gericht vom Arbeitgeber [X.]in mitgeteilten Urlaubsabwesenheit von der Arbeitsstelle, dh. einer Freistellung von der Arbeitspflicht durch den Arbeitgeber, nicht notwendig gegeben ist.

3. Demnach war das Urteil des [X.]s aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 72b Abs. 5 Satz 1 ArbGG). Für die Wahrnehmung der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit, die Sache an eine andere Kammer des [X.]s zurückzuverweisen (§ 72b Abs. 5 Satz 2 ArbGG), hat der Senat keinen Anlass gesehen.

        

    Bepler    

        

    Winter    

        

    Creutzfeldt    

        

        

        

        

        

        

                 

Meta

4 AZB 23/09

03.03.2010

Bundesarbeitsgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AZB

vorgehend ArbG Hamburg, 3. September 2008, Az: 3 Ca 147/08, Urteil

§ 72b Abs 1 S 1 ArbGG, § 315 Abs 1 S 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 03.03.2010, Az. 4 AZB 23/09 (REWIS RS 2010, 8807)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 8807

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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