Bundessozialgericht, Urteil vom 15.03.2012, Az. B 3 P 1/11 R

3. Senat | REWIS RS 2012, 8084

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Soziale Pflegeversicherung - Ermittlung der Pflegestufe - Grundpflegebedarf - behindertes Kind - Begutachtungs-Richtlinien (BRi) idF vom 11.5.2006 - Abzugswert - Hilfebedarf gesunder gleichaltriger Kinder - generelle Tatsache - Berechnung - Altersabschnitt - Bildung des rechnerischen Mittelwerts aus höchstem und niedrigstem Rahmenwert - keine Bildung von Zwischenwerten nach Maßgabe des Lebensalters des Kindes (Interpolation)


Leitsatz

1. Der von dem gemessenen Grundpflegebedarf eines behinderten Kindes abzuziehende normale Grundpflegebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes (§ 15 Abs 2 SGB 11) ist auch für die Zeit vor dem 1.9.2006 den Tabellenwerten der Begutachtungs-Richtlinien in der zum 1.9.2006 in Kraft getretenen Fassung vom 11.5.2006 zu entnehmen.

2. Als Abzugswert für den normalen Grundpflegebedarf eines gesunden Kindes ist einheitlich für die gesamte Dauer des jeweiligen Altersabschnitts der rechnerische Mittelwert aus den in der Tabelle aufgeführten Höchst- und Mindestzeitwerten heranzuziehen; die Bildung von Zwischenwerten nach Maßgabe des Lebensalters des Kindes im Zeitpunkt der Begutachtung (Interpolation) findet nicht mehr statt.

Tenor

Die Revision des [X.] gegen das Urteil des [X.] vom 7. Oktober 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 [X.], ob dem Kläger für die [X.] vom 1.10.2003 bis zum [X.] Pflegegeld der [X.] statt der zuerkannten [X.] zusteht.

2

Der am 16.7.2002 geborene Kläger war bis zum 15.7.2005 bei der beklagten Pflegekasse sozial pflegeversichert; seit dem [X.] gehört er der Pflegekasse der [X.] an. Er ist seit seiner Geburt körperlich und geistig behindert. Die Beklagte gewährte ihm auf seinen Leistungsantrag vom 31.10.2003 Pflegegeld der [X.] ab 1.10.2003 (Bescheid vom 11.3.2004), Pflegegeld der [X.] ab 1.7.2004 (Bescheid vom 23.11.2004) und Pflegegeld der [X.]I für die [X.] vom 25.4.2005 bis zum 15.7.2005 (Bescheid vom [X.]). Seit dem [X.] zahlt die Pflegekasse der [X.] das Pflegegeld.

3

Der [X.] (1.10.2003 bis [X.]) lag ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ([X.]) vom 4.3.2004 zugrunde, das den bei Kindern allein berücksichtigungsfähigen Mehrbedarf an Hilfen bei der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung im Vergleich zum Hilfebedarf gesunder gleichaltriger Kinder (§ 15 Abs 2 [X.]I) bei der Grundpflege auf 69 Minuten bezifferte (gemessener täglicher Pflegebedarf des [X.] 309 Minuten abzüglich des [X.] eines gesunden gleichaltrigen Kindes 240 Minuten = behinderungsbedingter Mehrbedarf 69 Minuten). Die [X.] (1.7.2004 bis 24.4.2005) beruhte auf einem [X.]-Gutachten vom 3.11.2004, das einen Grundpflege-Mehrbedarf von 168 Minuten auswies (333 - 165 = 168). Die [X.]I (ab 25.4.2005) basiert auf einem [X.]-Gutachten vom 26.6.2006, in dem ein Grundpflege-Mehrbedarf von 244 Minuten festgestellt worden war (379 - 135 = 244 Minuten). Der Mehrbedarf an Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung wurde in den Gutachten auf mindestens 45 Minuten ([X.]) bzw 60 Minuten ([X.] und [X.]) veranschlagt.

4

Mit Schreiben vom 7.11.2006 beantragte der Kläger die Überprüfung der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004, um schon ab 1.10.2003 der [X.] zugeordnet zu werden. Er machte geltend, durch die zum [X.] in [X.] getretenen neuen [X.] ([X.]) vom 11.5.2006 seien die [X.]werte für den normalen [X.] gesunder Kinder im Vergleich zu den bis zum [X.] geltenden alten [X.] deutlich niedriger angesetzt worden. Die [X.]werte der neuen [X.] seien als antizipiertes Sachverständigengutachten rückwirkend anwendbar, weil sich herausgestellt habe, dass die Verfasser der alten [X.] von einer unrichtigen Tatsachengrundlage ausgegangen seien. Demgemäß hätte ihm von Anfang an Pflegegeld der [X.] zugestanden. Die Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag ab, weil die neuen [X.] nur auf Sachverhalte ab [X.] anwendbar seien; die alten [X.] seien nicht nachträglich als rechtswidrig anzusehen (Bescheid vom [X.], Widerspruchsbescheid vom 15.6.2007).

5

Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom [X.]). Das L[X.] hat die Berufung des [X.] zurückgewiesen (Urteil vom 7.10.2010): Es komme im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob die [X.]werte der neuen [X.] auch auf Sachverhalte vor dem [X.] anwendbar seien. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, könne der Kläger die nachträgliche Höherstufung nicht beanspruchen. Für die hier streitige [X.] bis zum [X.] sei allein das zeitnah erstellte [X.]-Gutachten vom 4.3.2004 maßgeblich, das einen täglichen [X.] von 309 Minuten ausgewiesen habe. Hiervon seien statt 240 Minuten nach den alten [X.] nunmehr 205 bis 206 Minuten nach den neuen [X.] als Normalbedarf (§ 15 Abs 2 [X.]I) abzuziehen, sodass sich ein Grundpflege-Mehrbedarf von nur 103 bis 104 Minuten ergebe; der für die [X.] erforderliche zeitliche Mindestwert von 120 Minuten werde also nicht erreicht. Der [X.] von 205 bis 206 Minuten (Zwischenwert) errechne sich im Wege der Interpolation daraus, dass der Kläger bei der Begutachtung am 4.3.2004 knapp 1 Jahr und 8 Monate alt gewesen sei und die neuen [X.] für Kinder von 1½ bis 2 Jahren einen abnehmenden [X.] von anfangs 216 Minuten (Maximalwert) bis hinunter auf 175 Minuten (Minimalwert) vorgäben.

6

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 44 [X.], § 15 Abs 2 [X.]I) sowie die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 [X.]G). Das L[X.] sei ohne weitere Prüfung davon ausgegangen, dass der Umfang der täglichen Grundpflege im streitigen [X.]raum 309 Minuten und nicht, wie von ihm geltend gemacht, 333 Minuten entsprechend dem [X.]-Gutachten vom 3.11.2004 betragen habe. Von diesem Ausgangswert sei weder der im [X.]punkt der Begutachtung geltende höchste Wert an normaler Grundpflege noch ein irgendwie gearteter Zwischenwert, sondern gemäß dem in § 2 Abs 2 [X.]B I niedergelegten Prinzip der möglichst weitgehenden Verwirklichung der [X.] Rechte der Versicherten der für die jeweiligen Altersstufen geltende niedrigste Wert abzusetzen, hier also für die [X.] bis zum 16.1.2004 (Kinder im Alter von 1 bis 1½ Jahren) 216 Minuten und für die Folgezeit bis zum [X.] (Kinder im Alter von 1½ bis 2 Jahren) 175 Minuten. Selbst bei Ansatz von nur 309 Minuten als Ausgangswert ergebe sich ab 17.1.2004 ein Grundpflege-Mehrbedarf von 134 Minuten (309 - 175 Minuten).

7

Der Kläger beantragt,
das Urteil des L[X.] Niedersachsen-Bremen vom 7.10.2010 und den Gerichtsbescheid des [X.] Hildesheim vom [X.] zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom [X.] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.6.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn unter Änderung des Bescheides vom 11.3.2004 weitere 1845 Euro als Differenz des Pflegegeldes der [X.] von monatlich 410 Euro abzüglich des gezahlten Pflegegeldes der [X.] von monatlich 205 Euro für die [X.] vom 1.10.2003 bis [X.] zu zahlen.

8

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision des [X.] ist unbegründet. Das angefochtene Berufungsurteil erweist sich als im Ergebnis zutreffend. Die Beklagte hat zu Recht eine Änderung ihres Leistungsbescheides vom 11.3.2004 abgelehnt, mit dem sie den Kläger für die [X.] vom 1.10.2003 bis zum [X.] der [X.] zugeordnet und das entsprechende Pflegegeld von monatlich 205 Euro bewilligt hatte. Die zeitlichen Voraussetzungen des § 15 Abs 3 S 1 [X.] für die [X.] von täglich mindestens 120 Minuten Grundpflege und 60 Minuten hauswirtschaftlicher Versorgung hat der Kläger nicht erfüllt, weil der allein berücksichtigungsfähige Mehrbedarf bei der Grundpflege (§ 15 Abs 2 [X.]) in diesem [X.]raum immer unter dem erforderlichen Wert von 120 Minuten blieb.

1. Rechtsgrundlage für das vom Kläger mit Schreiben vom 7.11.2006 beantragte Überprüfungsverfahren zur Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 ist § 44 Abs 1 S 1 [X.]: "Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen." Die Rechtsfolgen daraus ergeben sich aus § 44 Abs 4 [X.]: "Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen [X.]raum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der [X.]punkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des [X.]raumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag."

2. Das Überprüfungsbegehren zielt ab auf die bundesrechtliche Regelung des § 15 Abs 2 [X.], wonach bei Kindern für die Zuordnung zu einer der drei Pflegestufen (§ 15 Abs 1 S 1 [X.]) nur der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind (Mehrbedarf) maßgebend ist, der normale bzw übliche Hilfebedarf von Kindern also bei der Bemessung des behinderungsbedingten zeitlichen Aufwandes bei der Grundpflege 14 Abs 4 [X.] bis 3 [X.]) und der hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs 4 Nr 4 [X.]) außer Ansatz bleiben muss. Ein Kind kann deshalb nur dann der [X.] (§ 15 Abs 1 S 1 [X.] [X.]) zugeordnet werden, wenn es bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wobei der behinderungsbedingte zeitliche Mehraufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt (gemeint: täglich im Wochendurchschnitt, vgl [X.]-3300 § 15 [X.]) mindestens 3 Stunden betragen muss, wovon wenigstens 2 Stunden auf die Grundpflege entfallen müssen. Die Beklagte ist bei der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 von einem täglichen [X.] von 309 Minuten ausgegangen, hat den [X.] gesunder gleichaltriger Kinder auf 240 Minuten veranschlagt und ist deshalb zu einem nach § 15 Abs 2 [X.] berücksichtigungsfähigen Mehrbedarf von 69 Minuten gelangt, was lediglich die zeitlichen Mindestanforderungen der [X.] von täglich "mehr als 45 Minuten" (§ 15 Abs 3 S 1 [X.] [X.]) erfüllte. Einen Mehrbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung von mindestens 45 Minuten ([X.]) bzw 60 Minuten (Pflegestufen II und [X.]) hat der [X.] in seinen Gutachten jeweils als gegeben festgestellt.

Das Begehren des [X.] betrifft den Abzugswert von 240 Minuten für den normalen [X.] gesunder Kinder, die - wie er - im Juli 2002 geboren worden sind. Der Kläger stellt nicht in Frage, dass der Abzugswert von 240 Minuten nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem [X.] ([X.] <[X.]>) vom [X.] idF vom [X.], die bis zum [X.] in [X.] waren, für Kinder im Alter zwischen 1 und 2 Jahren galt und deshalb korrekt in Ansatz gebracht worden ist, sondern er macht geltend, die [X.] der neuen [X.] idF vom 11.5.2006, die am [X.] in [X.] getreten und vom [X.] in seinen [X.] vom [X.] übernommen worden sind, seien auch für die [X.] vor dem [X.] maßgeblich, weil es sich bei dem üblichen Hilfebedarf gesunder gleichaltriger Kinder um eine generelle Tatsache handele und die [X.] insoweit als ein antizipiertes Sachverständigengutachten zu einer seit Einführung der Pflegeversicherung zum 1.1.1995 streitigen Tatsache anzusehen seien. Diese durch bestimmte altersabhängige [X.]werte konkretisierte generelle Tatsache könne vor dem [X.] und für die [X.] danach nur in gleicher Weise in Ansatz gebracht werden, weil sich am tatsächlichen Hilfebedarf der Kinder nichts geändert habe. Nur die [X.]werte hätten sich aufgrund neuerer empirischer Erkenntnisse über die Art und den Umfang des [X.]s gesunder Kinder in den verschiedenen Altersstufen verändert. Die [X.] der alten [X.] seien deutlich zu hoch angesetzt gewesen und nunmehr durch realistischere und auf kürzere [X.]abschnitte bezogene Werte ersetzt worden, die nach § 44 [X.] zugunsten der versicherten Kinder auch rückwirkend berücksichtigt werden müssten. Deshalb müsse hier ein Abzugswert aus den neuen [X.]en für Kinder im Alter zwischen 1 und 1½ Jahren (abnehmend von 222 bis 216 Minuten) für die [X.] bis zum 15.1.2004 sowie für Kinder im Alter zwischen 1½ und 2 Jahren (abnehmend von 216 bis 175 Minuten) für die Folgezeit in Ansatz gebracht werden, wobei nach seiner Auffassung der für die Betroffenen jeweils günstigste Abzugswert (hier: 216 Minuten bis 15.1.2004, danach 175 Minuten) zugrunde zu legen sei.

3. Der Kläger geht zutreffend davon aus, dass die Beklagte bei der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 hinsichtlich des [X.]s gesunder gleichaltriger Kinder (§ 15 Abs 2 [X.]) von einem Sachverhalt (Abzugswert 240 Minuten) ausgegangen ist, der sich nachträglich, nämlich durch die den neuen [X.] zugrunde liegenden verbesserten Erfahrungswerte, die erst in den Jahren ab 2000 gewonnen worden sind, als unrichtig erwiesen hat. Der normale Hilfebedarf von Kindern war in den alten [X.] durchweg zu hoch veranschlagt und zu großen [X.]korridoren zugeordnet worden. Die neuen [X.] sind der täglichen Praxis der Kindererziehung und Kinderpflege entnommen, damit empirisch gesichert und deutlich realistischer. Es geht bei den [X.]werten um generelle Tatsachen, die in den neuen, ab [X.] geltenden [X.] ihren Niederschlag gefunden haben und die altersentsprechenden Entwicklungsschritte wesentlich differenzierter abbilden. Dem neuen [X.]werte-Katalog liegt also nicht nur eine bloße Änderung in der Bewertungspraxis zugrunde, sondern ein verbesserter Erkenntnisstand über den tatsächlichen [X.] von Kindern. Da sich die Praxis vor dem [X.] nicht anders dargestellt haben kann, sich der als generelle Tatsache darstellende Sachverhalt also nicht geändert hat, sind die [X.] der neuen [X.] grundsätzlich auch für die [X.] vor dem [X.] anzuwenden. Daher ist der Ausgangspunkt des [X.] zutreffend, die Beklagte sei seinerzeit "von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erwiesen" hat (§ 44 Abs 1 S 1 [X.]).

4. Die Revision ist dennoch unbegründet, weil es an der in § 44 Abs 1 S 1 [X.] normierten Kausalität zwischen der fehlerhaften Sachverhaltsfeststellung und der rechtswidrigen Nichterbringung einer Sozialleistung mangelt. Der Kläger kann nämlich auch auf der Grundlage der [X.] der neuen [X.] die begehrte Besserstellung nicht beanspruchen, weil die Neuberechnung des Hilfebedarfs bei der Grundpflege unverändert zu dem Ergebnis führt, dass der für die [X.] erforderliche zeitliche Mindestwert von täglich 120 Minuten (§ 15 Abs 3 S 1 [X.]) nicht erreicht wird. Dies gilt für den gesamten streitigen [X.]raum vom 1.10.2003 bis zum [X.] gleichermaßen. Rechtlich ist allerdings zwischen dem ersten [X.]raum vom 1.10.2003 bis zum 15.1.2004 und dem Folgezeitraum vom 16.1. bis zum [X.] zu differenzieren:

a) Der am 16.7.2002 geborene Kläger wäre am 16.1.2004 18 Monate bzw 1½ Jahre alt geworden. Nach den neuen [X.] beläuft sich der normale [X.] gesunder Kinder im Alter zwischen 1 und 1½ Jahren abnehmend auf 222 bis 216 Minuten und im Alter zwischen 1½ Jahren und 2 Jahren abnehmend auf 216 bis 175 Minuten. Da sich die relevanten [X.]abschnitte nicht überschneiden dürfen, was sie am [X.] (16.1.2004) aber täten, ist der jeweils vorausgehende [X.]abschnitt jeweils um einen Tag zu verkürzen, sodass sich der Abzugsrahmen von 222 bis 216 Minuten hier auf die [X.] bis zum 15.1.2004 bezieht und der nächste [X.]abschnitt am 16.1.2004 beginnt.

Für die [X.] bis zum 15.1.2004 ist die Klage schon nach dem eigenen Vorbringen des [X.] unbegründet, weil der Mehrbedarf an Grundpflege nicht den Mindestwert von täglich 120 Minuten erreicht, sondern nur bei maximal 117 Minuten liegt. Er legt den Gesamtbedarf an Grundpflege aus dem zweiten [X.]-Gutachten vom 3.11.2004, das erst die [X.] ab 1.7.2004 betrifft, auch der [X.] ab 1.10.2003 zugrunde (333 Minuten) und befürwortet den Ansatz des für den Versicherten jeweils günstigsten - also niedrigsten - [X.] des entsprechenden Lebensabschnitts, hier also 216 Minuten. Die sich daraus ergebende Differenz von 117 Minuten (333 - 216 = 117) erfüllt nicht die Voraussetzungen der [X.] (§ 15 Abs 3 S 1 [X.]). Bei Ansatz des [X.] an Grundpflege aus dem ersten [X.]-Gutachten vom 4.3.2004 (309 Minuten), das für die [X.] bis zum [X.] gilt, ergäbe sich ein berücksichtigungsfähiger Wert von nur 93 Minuten (309 - 216 = 93). Noch ungünstiger für den Kläger wäre der Ansatz des oberen [X.]s von 222 Minuten (333 - 222 = 111 bzw 309 - 222 = 87 Minuten). Es kommt also für die [X.] bis zum 15.1.2004 nicht einmal darauf an, welcher Gesamtbedarf an Grundpflege der Berechnung zugrunde zu legen ist (333 oder 309 Minuten).

b) Für den zweiten [X.]abschnitt vom 16.1. bis zum [X.] ist die Frage, von welchem Gesamtbedarf an Grundpflege auszugehen ist, allerdings entscheidungserheblich. Dies zeigt die folgende Berechnung:

(1)     

Geht man von dem für den Versicherten ungünstigsten (höchsten) Abzugswert von 216 Minuten aus, ergibt sich ein behinderungsbedingter [X.] von 117 Minuten bei einem Ausgangswert von 333 Minuten (333 - 216 = 117) und ein Bedarf von nur 93 Minuten bei einem Ausgangswert von 309 Minuten (309 - 216 = 93). Unabhängig vom jeweiligen Ausgangswert wären also die zeitlichen Voraussetzungen der [X.] nicht erreicht.

(2)     

Im Gegensatz dazu kommt es bei Ansatz des für den Versicherten günstigsten (niedrigsten) [X.] von 175 Minuten auf den umstrittenen Ausgangswert nicht an, weil in beiden Fällen ein Mehrbedarf von mindestens 120 Minuten erreicht würde (333 - 175 = 158 bzw 309 - 175 = 134 Minuten). Dies entspricht der Rechtsauffassung des Klägers.

(3)     

Das auf der Grundlage der alten [X.] mit ihren pauschalen [X.]en und relativ weiten [X.]korridoren (im ersten Lebensjahr abnehmend 5,25 bis 4,25 Stunden, im zweiten Lebensjahr einheitlich 4 Stunden, im dritten Lebensjahr abnehmend 2,75 bis 2,50 Stunden, im vierten bis sechsten Lebensjahr abnehmend 2,50 bis 1,75 Stunden und im siebten bis zwölften Lebensjahr abnehmend 1,75 bis 0 Stunden) entwickelte Verfahren der Interpolation, also das Berechnen von Zwischenwerten aus den einschlägigen [X.]en entsprechend dem Lebensalter zum [X.]punkt der Begutachtung, käme im vorliegenden Fall zu einem gerundeten Abzugswert (Zwischenwert) von 205 Minuten (216 - 175 = Differenz 41 Minuten für 6 Monate, was pro Monat einem Abzug von gerundet 7 Minuten entspricht bzw 3,5 Minuten pro halbem Monat; 216 - 10,5 Minuten für 1,5 Monate = gerundet 205 Minuten) und damit zu einem gerundeten Mehrbedarf von 104 Minuten bei einem Ausgangswert von 309 Minuten (309 - 205 = 104) und von 128 Minuten bei einem Ausgangswert von 333 Minuten (333 - 205 = 128). Dies entspricht der Berechnung des [X.]. Auch bei dieser Berechnungsmethode käme es darauf an, ob ein Gesamtbedarf an Grundpflege von 333 oder nur 309 Minuten in Ansatz zu bringen ist, weil nur bei einem Ausgangswert von 333 Minuten die zeitlichen Voraussetzungen der [X.] erfüllt wären.

(4)     

Als vierte Berechnungsmethode bietet sich die Bildung eines rechnerischen Mittelwertes aus höchstem und niedrigstem [X.] an. Auch danach ergäbe sich je nach dem Ausgangswert eine differenzierte Lösung: Aus dem Rahmen zwischen 216 und 175 Minuten errechnet sich ein Mittelwert von gerundet 196 Minuten, der bei einem Ausgangswert von 333 Minuten zum vom Kläger gewünschten Ziel führt (333 - 196 = 137 Minuten), während ein Ausgangswert von nur 309 Minuten nicht ausreicht (309 - 196 = 113 Minuten), um die [X.] zu erreichen.

Die Aufstellung zeigt, dass das Ergebnis des Überprüfungsverfahrens davon abhängt, welcher Ausgangswert der Berechnung nach § 15 Abs 2 [X.] zugrunde zu legen ist (333 oder 309 Minuten) und welcher Abzugswert für den normalen [X.] gesunder gleichaltriger Kinder anzusetzen ist (216, 205, 196 oder 175 Minuten).

c) Es ist im vorliegenden Fall ein Ausgangswert von 309 Minuten zugrunde zu legen. Maßgeblich für den streitigen [X.]raum vom 1.10.2003 bis zum [X.] ist allein das zeitnah erstellte erste [X.]-Gutachten vom 4.3.2004, das diesen Gesamtbedarf an täglicher Grundpflege ausweist und Grundlage des - seinerzeit bindend gewordenen - Bewilligungsbescheides vom 11.3.2004 geworden ist. Den Widerspruch vom 24.3.2004 gegen die Zuerkennung der [X.] hatte der Kläger am 14.12.2004 zurückgenommen, nachdem ihm durch Bescheid vom 23.11.2004 auf der Grundlage des zweiten [X.]-Gutachtens vom 3.11.2004 rückwirkend zum 1.7.2004 das Pflegegeld der [X.] zugebilligt worden war. Damit hat der Kläger zum Ausdruck gebracht, dass er mit der Feststellung des [X.] und der Beklagten einverstanden war, bis zum [X.] habe der behinderungsbedingte Mehrbedarf an Grundpflege den zeitlichen Mindestwert der [X.] nicht erreicht, weil der Gesamtbedarf an Grundpflege nur 309 Minuten betrug (309 - 240 = 69 Minuten).

Da der Kläger das [X.]-Gutachten vom 4.3.2004 augenscheinlich nunmehr doch für sachlich unrichtig erachtet und er die Feststellung des [X.]-Gutachtens vom 3.11.2004, der Gesamtbedarf an Grundpflege belaufe sich ab 1.7.2004 auf täglich 333 Minuten, auch auf die [X.] ab 1.10.2003 beziehen will, hätte es sich angeboten, dies schon im Zuge des Verwaltungsverfahrens nach § 44 [X.], spätestens aber im Widerspruchsverfahren geltend zu machen und sich insoweit nicht auf die Beanstandung des [X.]s von 240 Minuten zu beschränken. Das Argument, der Hilfebedarf habe von Anfang an 333 Minuten betragen, ist von ihm jedoch erstmals im Berufungsverfahren vorgetragen worden; vorher war davon nicht die Rede. Die Beklagte hatte daher keinen Anlass, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nach § 44 [X.] oder im Widerspruchsverfahren den Hilfebedarf von 309 Minuten, wie er durch das [X.]-Gutachten vom 4.3.2004 für den streitigen [X.]raum festgestellt worden war, zu überprüfen. [X.] war allein der normale [X.] gesunder gleichaltriger Kinder, der seinerzeit mit 240 Minuten angesetzt worden war.

Die Beschränkung des [X.]es auf diese generelle Tatsache gilt allerdings nicht für das gerichtliche Verfahren. Dabei kann offenbleiben, ob das [X.] mit dem Hinweis, zu der erst im Berufungsverfahren streitig gewordenen Frage des zutreffenden [X.] für die Grundpflege (333 oder 309 Minuten) fehle es an einem Verwaltungsverfahren nach § 44 [X.], eine sachliche Entscheidung zu dem nunmehr streitigen Ausgangswert hätte ablehnen können. Denn das [X.] hat nicht auf diesem formalen Gesichtspunkt abgestellt, sondern ist - prozessual unbedenklich - sachlich auf das Argument des [X.] eingegangen und hat die Tatsachengrundlage der Leistungsbewilligung vom 11.3.2004 auch in dieser Hinsicht geprüft. Dadurch ist eine umfassende Prüfung dieser Frage auch im Revisionsverfahren eröffnet. Das [X.] hat insoweit ausgeführt: "Streitig ist die Frage, ob der Kläger in dem [X.]raum vom 1.10.2003 bis zum [X.] Anspruch auf Leistungen entsprechend der [X.] - anstelle der [X.] - hat. Die maßgebliche Beurteilung des Pflegebedarfs in diesem [X.]raum ist dem [X.]-Gutachten vom 4.3.2004 zu entnehmen, entgegen der Auffassung des [X.] nicht aber dem Gutachten vom 3.11.2004. Denn das letztgenannte Gutachten ist vier Monate nach dem hier streitigen [X.]raum eingeholt worden. Aus dem Krankheitsbild und dem Verlauf des Hilfebedarfs wird im vorliegenden Fall deutlich, dass Letztgenannter sich stetig erhöhte, sodass das Gutachten vom November 2004 keine zuverlässige Aussage über den Hilfebedarf bis einschließlich Ende Juni 2004 trifft." Diese Feststellung des [X.] ist im Revisionsverfahren für den erkennenden Senat nach § 163 SGG verbindlich, weil der Kläger hiergegen keine zulässige Verfahrensrüge erhoben hat.

d) Von dem maßgeblichen Gesamtbedarf an Grundpflege des [X.] von 309 Minuten sind für die [X.] vom 16.1.2004 bis zum [X.] 196 Minuten an normaler Grundpflege gesunder gleichaltriger Kinder abzuziehen, sodass ein berücksichtigungsfähiger Mehrbedarf von 113 Minuten verbleibt, der den zeitlichen Mindestwert der [X.] von 120 Minuten unterschreitet. Die Klage ist daher auch für diesen [X.]raum unbegründet.

Die neuen [X.] enthalten eine Tabelle zum "Pflegeaufwand eines gesunden Kindes in Minuten pro Tag" (§ 15 Abs 2 [X.]), die die drei Bereiche der Grundpflege nach § 14 Abs 4 [X.] bis 3 [X.] (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) umfasst, die nicht in jedem Haushalt anfallende Hilfe beim Treppensteigen gesondert ausweist und bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres in [X.] und danach - und mit der Vollendung des 10. Lebensjahres endend - in [X.] gegliedert ist. Da nach den [X.]-Gutachten im elterlichen Haushalt des [X.] Treppen vorhanden sind, sind hier nicht die [X.]rahmen ohne das Treppensteigen, sondern die [X.]rahmen einschließlich der Hilfe beim Treppensteigen heranzuziehen.

Auf der Grundlage der neuen [X.] hat die Berechnung der [X.] für den normalen [X.] von Kindern (§ 15 Abs 2 [X.]) entgegen der bisherigen, auf der Basis der alten [X.] gerechtfertigten Praxis nicht mehr durch die Bildung von Zwischenwerten mittels Interpolation zu erfolgen, sondern durch die Bildung rechnerischer Mittelwerte gemäß der oben dargestellten vierten Berechnungsmethode. Wegen der stärkeren Ausdifferenzierung der neuen [X.]korridore ist eine Berücksichtigung von Zwischenwerten nicht mehr geboten; eine Interpolation gemäß der dargestellten dritten Berechnungsmethode findet also nicht mehr statt. Die [X.] sind auch nicht nach dem jeweils höchsten [X.] eines Lebensaltersabschnitts zu bestimmen, weil dies einseitig den Pflegekassen zugute käme, aber auch nicht nach dem jeweils niedrigsten [X.] festzulegen, weil dies einseitig die Versicherten bevorteilen würde. Diese Berechnungsmethoden sind daher auch in der Vergangenheit zu Recht nicht praktiziert worden.

Für die [X.] vom 16.1.2004 bis zum [X.] ist der Lebensabschnitt von 1½ bis 2 Jahren maßgeblich, der unter Berücksichtigung des Hilfebedarfs beim Treppensteigen [X.]e zwischen 216 und 175 Minuten ausweist. Daraus errechnet sich ein Durchschnitts- oder Mittelwert von - gerundet - 196 Minuten. Der sich daraus ergebende Mehrbedarf an Grundpflege von 113 Minuten (309 - 196 = 113) erfüllt nicht die zeitlichen Voraussetzungen der [X.] (§ 15 Abs 3 S 1 [X.]).

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Meta

B 3 P 1/11 R

15.03.2012

Bundessozialgericht 3. Senat

Urteil

Sachgebiet: P

vorgehend SG Hildesheim, 16. Juli 2009, Az: S 51 P 41/07, Gerichtsbescheid

§ 14 SGB 11, § 15 Abs 1 S 1 SGB 11, § 15 Abs 2 SGB 11, § 15 Abs 3 SGB 11, § 44 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 15.03.2012, Az. B 3 P 1/11 R (REWIS RS 2012, 8084)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 8084

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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L 5 P 21/12 (LSG München)

Kein Anspruch auf höheres Pflegegeld allein wegen psychischer Erkrankung


S 17 P 54/14 (SG München)

Pflegeversicherungsleistungen nach Pflegestufe I


L 8 SO 50/13 (LSG München)

Pflegegeld in der Sozialhilfe - Keine Erhöhung des Pflegegeldes in der Sozialhilfe entsprechend § 123 …


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