Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.03.2024, Az. 1 StR 366/23

1. Strafsenat | REWIS RS 2024, 2600

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Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 28. März 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet er sich mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen sowie die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist bereits auf die – entgegen der Ansicht des [X.] unter Heranziehung des [X.] zulässig erhobene – Rüge des Angeklagten aufzuheben, das [X.] habe ihm unter Verletzung seiner Verfahrensrechte aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) [X.], § 187 Abs. 2 [X.], §§ 200, 265 StPO und Art. 103 Abs. 2 GG keine in die [X.] übersetzte Anklageschrift überlassen.

2

1. Der Beanstandung liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde:

3

a) Der der [X.] nur rudimentär mächtige Angeklagte beantragte zu Beginn der Hauptverhandlung deren Aussetzung. Zur Begründung führte er unter anderem aus, dass er, auch wenn er die [X.] besser spreche als die [X.], geschriebene Texte nur auf [X.] verstehen könne. Eine [X.] Übersetzung der Anklageschrift sei ihm nicht ausgehändigt worden.

4

b) Mit Beschluss vom 20. Dezember 2022 lehnte das [X.] den Aussetzungsantrag unter näherer Darlegung im Einzelnen ab. Soweit der Angeklagte die Übersetzung der Anklageschrift in die [X.] begehre, könne ihm eine solche im Laufe der anderweitig gebotenen Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zum 9. Januar 2023 zur Verfügung gestellt werden.

5

c) Eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift in die [X.] erhielt der Angeklagte bis zum Schluss der Hauptverhandlung nicht. Der [X.] wurde für den Angeklagten während seiner Verlesung mündlich übersetzt, ebenso der weitere Verlauf der Hauptverhandlung. Der Angeklagte ließ sich am sechsten von insgesamt elf Hauptverhandlungstagen zur Sache ein. Er bestritt die ihm zur Last gelegte Tat.

6

2. Die zulässig erhobene (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Verfahrensrüge ist begründet. Der Angeklagte wurde in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) [X.] verletzt, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden.

7

a) Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) [X.] gewährt dem der [X.] nicht hinreichend mächtigen Beschuldigten grundsätzlich das Recht auf Übersendung einer Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache. Dies hat in aller Regel schon vor der Hauptverhandlung zu geschehen. Denn ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist, was nicht zuletzt die Kenntnis der Anklageschrift einschließlich des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen voraussetzt. Die mündliche Übersetzung allein des [X.]es genügt nur in Ausnahmefällen, namentlich dann, wenn der Verfahrensgegenstand tatsächlich und rechtlich einfach zu überschauen ist (vgl. [X.], Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 [X.], [X.]R [X.]. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 23 f.; Beschluss vom 10. Juli 2014 – 3 [X.], [X.]R [X.]. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 4).

8

b) Letzteres trifft auf den dem Angeklagten zur Last gelegten Vorwurf des Mordes, zumal unter Annahme von zwei [X.], nicht zu. Jedenfalls angesichts der Schwere und Komplexität des konkret erhobenen [X.] genügte auch der Haftbefehl vom 29. Juni 2022, der dem Angeklagten in [X.]r Übersetzung ausgehändigt worden war, nicht, um diesen über Art und Grund der in der Hauptverhandlung erhobenen Beschuldigung in allen Einzelheiten zu informieren; der Angeklagte ist nicht gehalten, den Haftbefehl mit der Anklage abzugleichen. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass dem Angeklagten mit dem Haftbefehl – anders als mit dem zu Beginn der Hauptverhandlung verlesenen [X.] (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO) – die Erfüllung von lediglich einem Mordmerkmal angelastet worden war. Ein Angeklagter kann auf die das Strafverfahren abschließende Entscheidung nur dann hinreichend Einfluss nehmen, wenn ihm der Verfahrensgegenstand in vollem Umfang bekannt ist ([X.], Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 [X.], [X.]R [X.]. 6 Abs. 3 Buchst. a Anklageschrift 1 Rn. 24).

9

c) Die vorstehenden Ausführungen gelten entsprechend mit Blick auf die gerügte Verletzung des § 187 Abs. 2 Satz 1, Satz 3 [X.].

d) Dass der Angeklagte einen Verteidiger hat, führt unter den hier gegebenen Umständen – auch unter Berücksichtigung des § 187 Abs. 2 Satz 5 [X.] – zu keiner abweichenden rechtlichen Bewertung (vgl. [X.], Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 [X.] aaO; Beschluss vom 10. Juli 2014 – 3 [X.], [X.]R [X.]. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 4 mwN).

3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil auf einem etwaigen Informationsdefizit des Angeklagten beruht. Es kann dahinstehen, in welchem Umfang und zu welchen [X.] zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte zur Sache eingelassen hat, die Beweisaufnahme bereits durchgeführt worden war. Denn nach der Wiedergabe seiner Einlassung in den Urteilsgründen hat er das Tatgeschehen in weiten Teilen abweichend vom [X.] geschildert. Damit hat er sich in vollem Umfang gegen die ihm angelastete Beschuldigung gestellt, soweit diese sich im bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme bereits abgebildet hatte (insoweit anders: [X.], Beschluss vom 10. Juli 2014 – 3 [X.], [X.]R [X.]. 6 Abs. 3 Buchst. a Unterrichtung 1 Rn. 5 [umfassendes Geständnis]; vgl. Urteil vom 23. Dezember 2015 – 2 [X.] Rn. 12, 26 [überwiegendes Bestreiten]). Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte insgesamt in anderer Weise als tatsächlich erfolgt auf den [X.] Einfluss genommen hätte, wäre er gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) [X.] über Art und Umfang des [X.] in allen Einzelheiten frühzeitig informiert worden.

Jäger     

      

[X.]     

      

Leplow

      

Allgayer     

      

Munk     

      

Meta

1 StR 366/23

05.03.2024

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Karlsruhe, 28. März 2023, Az: 1 Ks 20 Js 8158/22

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 05.03.2024, Az. 1 StR 366/23 (REWIS RS 2024, 2600)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2024, 2600

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