Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.05.2011, Az. 4 StR 87/11

4. Strafsenat | REWIS RS 2011, 6262

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Gegenstand

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung: Anforderungen an die Darstellung der Ermessensausübung in den Urteilsgründen; Abgrenzung zwischen Hang und Allgemeingefährlichkeit


Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 12. Oktober 2010 im [X.] mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in zwei Fällen, Vergewaltigung und versuchter Nötigung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

2

1. Die Verfahrensrüge, mit welcher die Ablehnung von Beweisanträgen auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens hinsichtlich der Nebenklägerin sowie eines aussagepsychologischen Gutachtens zur Glaubhaftigkeit der Bekundungen der Nebenklägerin beanstandet wird, ist nicht zulässig erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Zur Begründung seines Beweisbegehrens hat sich der Verteidiger des Angeklagten in dem in der Hauptverhandlung am 25. August 2010 gestellten Beweisantrag auf die von der Zeugin [X.]     übergebenen Krankenunterlagen und in dem [X.] vom 12. Oktober 2010 u.a. auf den Inhalt der polizeilichen Vernehmungen der Nebenklägerin am 27. Januar und 9. Februar 2010 bezogen. Die Revision versäumt es, den Inhalt der Krankenunterlagen sowie der Protokolle der beiden polizeilichen Vernehmungen vollständig mitzuteilen.

3

2. Der [X.] kann nicht bestehen bleiben. Die auf § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB aF gestützte Anordnung der Sicherungsverwahrung hält einer rechtlichen Prüfung schon deshalb nicht stand, weil die Urteilsgründe eine Ausübung des tatrichterlichen Ermessens nicht erkennen lassen.

4

Die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB aF liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters, dessen Entscheidung einer revisionsgerichtlichen Kontrolle nur eingeschränkt zugänglich ist. Um eine Nachprüfung der Ermessensentscheidung auf Ermessensfehler durch das Revisionsgericht zu ermöglichen, müssen die Urteilsgründe sowohl erkennen lassen, dass sich der Tatrichter seiner Entscheidungsbefugnis bewusst war, als auch nachvollziehbar darlegen, aus welchen Gründen er von ihr in einer bestimmten Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. [X.], Beschlüsse vom 15. Oktober 2009 - 5 [X.], [X.], 43; vom 21. August 2003  - 3 StR 251/03, [X.], 12; Urteil vom 9. Juni 1999 - 3 StR 89/99, [X.], 473; vgl. auch Urteil vom 3. Februar 2011 - 3 [X.] Rn 13 zu § 66 Abs. 2 StGB aF). Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht. Die [X.] beschränken sich allein darauf, die formellen und materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB aF festzustellen. Ihnen ist weder zu entnehmen, dass die [X.] ihr Ermessen überhaupt betätigt hat, noch legen sie die für eine möglicherweise getroffene Ermessensentscheidung maßgeblich gewesenen Erwägungen näher dar.

5

3. Für die neuerliche Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung weist der Senat auf Folgendes hin:

6

a) Das Merkmal "Hang" im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB nF) verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des [X.], der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. [X.] ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der [X.] ist und aus innerer Haltlosigkeit [X.] nicht zu widerstehen vermag (st. Rspr., vgl. nur [X.], Urteil vom 10. Juni 2010 - 4 StR 474/09, [X.], 143, 145). Der Hang als "eingeschliffenes Verhaltensmuster", bei dem es sich um einen Rechtsbegriff handelt, der als solcher dem [X.] nicht zugänglich ist ([X.], Beschluss vom 12. Januar 2010 - 3 [X.], [X.], 586), bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Seine Feststellung obliegt - nach sachverständiger Beratung - unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des [X.] und seiner Taten maßgeblichen Umstände dem [X.] in eigener Verantwortung ([X.], Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10, [X.], 484; Urteile vom 15. Februar 2011 - 1 StR 645/10 Rn. 5; vom 17. Dezember 2009 - 3 StR 399/09).

7

b) [X.]eigenschaft und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit sind keine identischen Merkmale. Das Gesetz differenziert zwischen beiden Begriffen sowohl in § 66 Abs. 1 Nr. 3 aF (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB nF) als auch in § 67d Abs. 3 StGB a[X.] Der Hang ist nur ein wesentliches Kriterium der Prognose. Während der Hang einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand bezeichnet, schätzt die Gefährlichkeitsprognose die Wahrscheinlichkeit dafür ein, ob sich der Täter in Zukunft trotz seines Hanges erheblichen Straftaten enthalten kann oder nicht ([X.], Urteil vom 8. Juli 2005 - 2 [X.], [X.]St 50, 188, 196; Beschluss vom 30. März 2010 - 3 StR 69/10 aaO; Urteil vom 15. Februar 2011 - 1 StR 645/10 Rn. 7).

8

c) Bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB aF wird die nunmehr zur Entscheidung berufene [X.] die Anforderungen zu beachten haben, die das [X.] in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 - für die befristete weitere Anwendung dieser Norm aufgestellt hat (vgl. Rn. 172 der Entscheidung).

Ernemann     

Ri[X.] Dr. Franke ist
erkrankt und daher gehindert
zu unterschreiben.

Mutzbauer

Ernemann

Bender     

     Quentin     

Meta

4 StR 87/11

25.05.2011

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bielefeld, 12. Oktober 2010, Az: 10 KLs 66 Js 37/10 - 4/10, Urteil

§ 66 Abs 1 Nr 3 StGB vom 27.12.2003, § 66 Abs 3 S 1 StGB vom 27.12.2003

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 25.05.2011, Az. 4 StR 87/11 (REWIS RS 2011, 6262)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 6262

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