Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.02.2004, Az. 1 StR 437/03

1. Strafsenat | REWIS RS 2004, 4512

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[X.] DES VOLKESURTEIL1 StR 437/03vom17. Februar 2004in dem [X.] des [X.] hat in der Sitzung vom17. Februar 2004, an der teilgenommen haben:[X.] am [X.] [X.] am [X.]. Wahl,[X.],[X.],[X.],Staatsanwältin als Vertreterin der [X.],Rechtsanwalt als Verteidiger,Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,für Recht erkannt:- 3 -Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil [X.] München I vom 17. Januar 2003 mit den Fest-stellungen aufgehoben.Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auchüber die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere [X.] des [X.] zurückverwiesen.Von Rechts wegenGründe:Das [X.] hat es abgelehnt, den Beschuldigten gemäß § 63 StGBin einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, da er "lediglich lästige",geringfügige Taten begangen habe und schwerwiegendere Taten auch in [X.] nicht zu erwarten seien.Die gegen dieses Urteil gerichtete Revision der Staatsanwaltschaft [X.] der Sachrüge Erfolg.I.1. Bei dem jetzt 48 Jahre alten Beschuldigten liegt als Folge einer früh-kindlichen Hirnentzündung eine hirnorganisch begründete psychische We-sensveränderung vor, die im wesentlichen von "paranoiden Befürchtungen so-wie einer Störung der Affektivität" geprägt ist. Der Beschuldigte fühlt sich "[X.] aus seiner nächsten Umgebung beeinträchtigt und bedroht", was- 4 -immer wieder zu "aggressiven Spannungszuständen" führt. Insgesamt liegt ei-ne krankhafte seelische Störung im Sinne des § 20 StGB vor.2. Im Zustand der krankheitsbedingten Schuldunfähigkeit hat der Be-schuldigte etwa den Hausmeister der Wohnanlage, in der er seit 1990 wohnt,beschimpft und mit dem Tode bedroht, ebenso weitere Personen- überwiegend Nachbarn - beschimpft, ohne daß in allen Fällen klar würde,wodurch die Vorgänge ausgelöst wurden. Soweit festgestellt, handelt es sichdarum, daß sich die Nachbarn, teilweise durch Einschalten der Polizei, gegenBelästigungen durch den Angeklagten - Lärmen oder Herumwerfen von [X.] - zu schützen versuchten. Neben bloß verbalen Ausfällen kam es aber auchzu Sachbeschädigungen - so [X.] er einen Reifen des [X.], die sich dagegen verwahrt hatte, daß er immer wieder Knochen inihren Garten warf - und zu Körperverletzungen. Er gab etwa der [X.] eine Ohrfeige, als sie ihn zur Ruhe mahnte, nachdem sie durch seinintensives Lärmen im Hausflur aus dem Schlaf gerissen war. Den [X.] versuchte er mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, wobei er [X.] nur streifte. Vorausgegangen war, daß der Beschuldigte den [X.] - wie dieser seinem [X.] mitgeteilt hatte - aus nicht erkennbaren Gründenbeleidigt und zu schlagen versucht haben soll.3. Zutreffend geht die [X.] davon aus, daß bei der [X.] Taten des Beschuldigten auch frühere Taten mit zu berücksichtigen sind.Insoweit hat sie, teils anhand früherer Urteile, in einem Fall durch Beweisauf-nahme über einen von einem anderen Gericht gemäß § 154 StPO eingestelltenVorwurf; unter anderem folgendes festgestellt:a) 1989 zerschlug der Beschuldigte in der Wohnung seiner Eltern vierTüren und trat auf den Vater ein. Einige Stunden nach diesem Vorfall zerschlug- 5 -er die Schlafzimmertür und ging mit einem Hammer auf den Vater los. Als die-ser ihm den Hammer entreißen und flüchten konnte, warf er die Mutter zu Bo-den und brach ihr den [X.]. Als schließlich die Polizei kam, kratzte er, [X.] schlug auf die Polizisten ein. Einer von ihnen wurde an Händen und Armenverletzt. Er entriß einem Polizisten die Dienstwaffe, deren "Benutzung ...scheiterte, da der Abzug ... blockiert war".Wegen dieser Taten wurde der Beschuldigte in einem psychiatrischenKrankenhaus untergebracht, wobei die Unterbringung zur Bewährung ausge-setzt wurde. Näheres ist nicht mitgeteilt.b) Erneut wurde 1998 die Unterbringung in einem psychiatrischen Kran-kenhaus angeordnet und zur Bewährung ausgesetzt. Der Beschuldigte hatteauf offener Straße einen Herrn [X.] - ob Nachbar oder nicht, bleibt offen -ohne erkennbaren Grund beleidigt, angegriffen, zu Boden geworfen und sichauf ihn gesetzt. [X.] erlitt eine Trümmerfraktur eines Fingers und mußtewochenlang einen Gips tragen.c) Wegen dieser Verurteilung wurde ein weiteres Verfahren gemäߧ 154 StPO eingestellt. Der Beschuldigte hatte auf der Straße einen verstorbe-nen Arbeitskollegen gegenüber dessen Witwe beschimpft und ihr und ihremBegleiter vorgeworfen, ihm einige Wochen zuvor in einem Park [X.] haben. Als sich der Begleiter diese Beleidigungen und Belästigungen [X.], "schob" er sein Fahrrad gegen ihn und schlug ihn mit der Faust ins Ge-sicht.4. Nach Auffassung der [X.] liegen insgesamt nicht erhebliche,sondern nur lästige Taten vor, die sich im "unteren Bereich" bewegten; [X.] es "Nachbarstreitigkeiten", denen mit den "Mitteln des Zivilrechts" zu be-gegnen sei. Zwar sei auch in Zukunft mit vergleichbaren "Konflikten" und dem- 6 -entsprechend mit vergleichbaren - nicht aber schwerwiegenderen Taten - zurechnen, eine im Sinne des § 63 StGB bedeutsame Gefahr für die [X.] begründe dies jedoch nicht. Auch unter Berücksichtigung der im einzelnengewürdigten früheren Taten sei daher eine Unterbringung in einem psychiatri-schen Krankenhaus unverhältnismäßig und komme nicht in Betracht.[X.] die [X.] auch von im Ansatz rechtlich zutreffenden Erwä-gungen ausgeht, hält das Urteil rechtlicher Überprüfung nicht stand.1. Selbst wenn den Bewertungen der [X.] im übrigen zu folgenwäre, sind ihre Erwägungen an einer zentralen Stelle unklar.Der gerichtliche Sachverständige, dessen Sachkunde die [X.]hervorhebt, sieht bei "weiterer Verschlechterung des psychischen Befindens"eine "Eskalationsgefahr". Zugleich hat er die Möglichkeit schwerer wiegenderrechtswidriger Taten nach den Urteilsfeststellungen aber als "reine Spekulati-on" bezeichnet. Im Ergebnis habe er bei "Anwendung der erwähnten Kriterien"nur eine Wiederholungsgefahr für mit den vorliegenden "vergleichbare Delikte"bejaht.Es erscheint schon wenig naheliegend, daß ein erfahrener [X.] im Rahmen eines Gutachtens über den gegenwärtigen und den zuerwartenden künftigen psychischen Zustand im Rahmen seiner Prognose [X.] Bewertung "reine Spekulationen" anstellt. Auch die Verknüpfung dieserPrognose mit den "erwähnten Kriterien" ist unklar. Es ist zwar nicht ausdrück-lich gesagt, welche Kriterien damit gemeint sind, jedoch hat die [X.] imübrigen, wenn auch unter unterschiedlichen Aspekten, allein rechtliche Erwä-gungen zur Frage der Verhältnismäßigkeit angestellt. Die rechtliche Gewich-- 7 -tung festgestellter Taten durch das Gericht kann aber nicht verdeutlichen,warum aus psychiatrischer Sicht mit gewichtigeren als den festgestellten Tatennicht zu rechnen ist.2. Unabhängig davon bestehen sowohl gegen die Bewertung der [X.] als auch der verfahrensgegenständlichen Taten rechtliche Bedenken:a) Den Vorfall aus dem Jahre 1989 hält die [X.] nicht nur we-gen des inzwischen verstrichenen Zeitraums für wenig bedeutsam, sondernauch wegen des zugrundeliegenden, inzwischen aber überwundenen Va-ter-[X.]-Konflikts. Ob auch der Angriff gegen die Mutter, der immerhin zu ei-nem [X.]bruch führte, deshalb und wegen der zusätzlich genannten eheli-chen Spannungen der Eltern als weitgehend relativiert angesehen [X.], erscheint zumindest fraglich. Dies gilt noch mehr für die Annahme, [X.] lasse auch das Verhalten des Angeklagten gegenüber der Polizei in einemvergleichsweise milden Licht erscheinen. Soweit sich die [X.] mit demgewaltsamen Entreißen der Waffe befaßt, ist insbesondere die Erwägung, [X.] habe möglicherweise mit der Waffe nur drohen wollen, mit derFeststellung unvereinbar, die Benutzung der Waffe sei an ihrem blockiertenAbzug gescheitert.b) Auch die Erwägung, das Verhalten des Beschuldigten gegenüberHerrn [X.] wiege deshalb weniger schwer, weil er ihn zuvor ohne erkennba-ren Grund (unter anderem mit dem Wort "Dreckhammel") beleidigt habe [X.] Trümmerbruch des Fingers nicht eigentlich beabsichtigt, sondern Folge derAuseinandersetzung wegen dieser "Formalbeleidigung" gewesen sei, ist [X.] weiteres einsichtig. Der Beschuldigte hat [X.] ohne erkennbarenGrund beleidigt, ihn geschlagen, auf den Boden geworfen und sich auf ihn ge-setzt; dies führte zu dem Trümmerbruch. Ohne daß es auf eine isolierte Be-wertung jeder einzelnen Phase dieses Geschehens ankäme, liegt diese auch in- 8 -ihrem Ursprung auf einen Angriff des Beschuldigten zurückgehende Verletzungschon auf Grund ihrer Schwere jedenfalls nicht, wie die [X.] meint, "imuntersten [X.]) Für die Bewertung des von der [X.] ebenfalls dem "unterenBereich" zugeordneten [X.] ins Gesicht des Begleiters der Witwe desfrüheren Arbeitskollegen gilt nichts anderes.d) Es mag dahinstehen, ob allein die aufgezeigten Bedenken gegen [X.] der früheren Taten notwendig zur Aufhebung des Urteils führenmüßten, wenn die verfahrensgegenständlichen Taten rechtsfehlerfrei gewürdigtwären.Dies ist jedoch nicht der Fall.Insbesondere folgt dies aus der Annahme, es lägen (nur) "Nachbarstrei-tigkeiten" vor. Dieser Begriff erweckt letztlich den Anschein wechselseitigerAuseinandersetzungen, die in räumlich engem Zusammenleben der Beteiligtenihre Wurzel haben, an objektiv eher weniger bedeutende Gründe anknüpfenund im Grunde leicht bereinigt werden könnten. Auch wenn dies, wie hier, vor-aussichtlich nicht gelingen wird, so will die [X.] offenbar zum Ausdruckbringen, handele es sich unter diesen Umständen jedenfalls nicht um [X.], die ein nachhaltiges Eingreifen in Form einer Unterbringung gemäß § 63StGB rechtfertigen könnten.All dies wird den Feststellungen zur Art der Erkrankung des Beschul-digten und den daraus resultierenden Folgen nicht gerecht. Der [X.] sich offenbar von jedermann, der mit ihm in Kontakt kommt, bedroht undreagiert mit Aggression. Dies war offenbar schon so, als er noch bei den Elternlebte - die [X.] erwähnt über den Vorgang von 1989 hinaus häufige- 9 -wechselseitige Handgreiflichkeiten - und gilt auch für die jeweiligen Nachbarn.Darüber hinaus ist aber auch jeder andere gefährdet, wie z.B. der Begleiter [X.] des Arbeitskollegen, Polizisten, wohl auch der Vater des Polizisten [X.] auch der auf der Straße angegriffene Herr [X.], dessen Beziehungzum Beschuldigten die Urteilsgründe nicht ergeben. Ein weiterer [X.] zu "Nachbarstreitigkeiten" liegt auch darin, daß, soweit ersichtlich,keiner dieser Geschädigten durch auch nur im weitesten Sinne vorwerfbareseigenes Verhalten die Attacken des Beschuldigten ausgelöst hat. [X.] die Bewertung nahe, daß infolge der Krankheit des Beschuldigten [X.], der irgendwie in Kontakt mit ihm gerät, mit Angriffen nicht nur [X.] und jedenfalls in Einzelfällen auch gegen sein Eigentum, sondernauch gegen seine körperliche Integrität rechnen muß. Es bedarf auch keinerweiteren Darlegung, daß körperliche Attacken, die wiederholt sogar zu [X.] geführt haben, aber auch Ohrfeigen oder Faustschläge ins Ge-sicht nicht lediglich lästige und unbedeutende und daher von der Allgemeinheithinzunehmende Vorfälle sind (vgl. auch [X.], Beschluß vom 16. Januar 2003- 1 [X.]), selbst wenn im Einzelfall Ohrfeige oder Fausthieb den Betrof-fenen letztlich aus Zufall oder wegen eigenen geschickten Ausweichens nichtoder nicht mit voller Wucht getroffen hat. Es fällt auch ins Gewicht, daß sichdiese Vorfälle, entsprechend der fortbestehenden Grunderkrankung über [X.] immer wiederholt haben, ohne daß es unter diesen Umständen darauf an-käme, ob, was die [X.] verneint, schon von einer Tatserie auszugehenist.3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entschei-dung. Auch die dem Urteil zugrundeliegenden Feststellungen waren aufzuhe-ben. Der Beschuldigte hat sich dahin eingelassen, er zersteche keine Reifenund habe niemanden geschlagen. Er hatte mangels Beschwer keine Möglich-keit, überprüfen zu lassen, ob die gegenteiligen Feststellungen der [X.] rechtsfehlerfrei getroffen wurden. Sie können daher nicht als mögliche- 10 -Grundlage einer Unterbringung des Beschuldigten bestehenbleiben (vgl. [X.]NStZ-RR 1998, 204 m.w. Nachw. für den vergleichbaren Fall der [X.] sieht Anlaß zu folgendem Hinweis:Bei der Frage der Notwendigkeit einer hier in Frage kommenden Maßre-gel kommt es gemäß § 63 StGB entscheidend auf den Zeitpunkt der [X.] an ([X.], Beschluß vom 17. Oktober 2000 - 1 [X.]; [X.]/[X.] StGB 26. Aufl. § 63 Rdn. 13, vor § 61 Rdn. 10 m.w.[X.] im Rahmen der Beweiswürdigung angestellten Erwägungen ergibtsich, daß der Beschuldigte auf Anordnung des [X.] April 2002 in das Bezirkskrankenhaus Haar eingewiesen wurde, wo er [X.] des vorliegenden Verfahrens am 20. Juni 2002 begutachtet wurde.Die [X.] führt aus, daß bei "Rückkehr des Beschuldigten in [X.] Umfeld" wieder mit Taten der festgestellten Art zu rechnen sei. [X.] dafür, daß er auch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch im [X.] war. In gleiche Richtung deutet die Aussage der "behandeln-den Ärztin", die von einer deutlichen Verbesserung durch die Behandlung [X.] berichtet hat, wenn auch keine wirkliche Krankheitsein-sicht und keine endgültige Stabilisierung vorliege. Eine zunehmende Stabilisie-rung sei "auf Grund des geänderten äußeren Rahmens" aber festzustellen,aggressives Verhalten sei seit Juli 2002 nicht mehr aufgefallen. [X.] basiert auch die Prognose des gerichtlichen Sachverständigen auf derAnnahme einer "Unterbrechung der [X.] -All dies hat die [X.] nicht erkennbar erörtert, sondern sie gehtohne weiteres von der Gefahr weiterer Taten "bei Rückkehr" aus. Die rechtlichgebotene Feststellung einer gesteigerten Wahrscheinlichkeit künftiger Taten(vgl. [X.] NStZ 1993, 78) ist unter diesen Umständen den Urteilsgründen nichthinreichend klar zu entnehmen. Die neu zur Entscheidung berufene [X.] wird daher nähere Feststellungen zum weiteren Verlauf der [X.] den Lebensverhältnissen und dem Zustand des Beschuldigten zum Zeit-punkt der neuen Hauptverhandlung zu treffen haben. Je nach den [X.] die Grundlage für eine Unterbringung entfallen sein oder jedenfalls [X.] für eine (nochmalige) Aussetzung einer Unterbringungsanordnungzur Bewährung vorliegen.[X.]Wahl [X.] Kolz [X.]

Meta

1 StR 437/03

17.02.2004

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.02.2004, Az. 1 StR 437/03 (REWIS RS 2004, 4512)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2004, 4512

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