Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.11.2011, Az. VI R 19/11

6. Senat | REWIS RS 2011, 1362

STEUERRECHT BUNDESFINANZHOF (BFH) EINKOMMENSTEUER

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Gegenstand

"Offensichtlich verkehrsgünstigere" Straßenverbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte erfordert keine Zeitersparnis von mindestens 20 Minuten - Fehlende Aufteilung des beruflich veranlassten Anteils an Reisekosten bei Besuch einer Computermesse


Leitsatz

Ob eine Straßenverbindung aufgrund einer zu erwartenden Zeitersparnis als "offensichtlich verkehrsgünstiger" anzusehen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Insbesondere ist nicht in jedem Fall eine Zeitersparnis von mindestens 20 Minuten erforderlich .

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden im Streitjahr 2006 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie wohnten in A.

2

In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machte der Kläger bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für 224 Tage geltend. Die einfache Wegstrecke zu seinem Arbeitsplatz in [X.] setzte er mit 69 km an.

3

Die Klägerin machte Fahrten zu ihrem Arbeitsplatz in [X.] für 212 Tage mit 30 km geltend.

4

Zudem begehrte der Kläger --neben unstreitigen Werbungskosten in Höhe von 542 [X.]-- die [X.]erücksichtigung von Aufwendungen für den [X.]esuch der [X.]omputermesse [X.]e[X.]IT in [X.] in Höhe von 255,30 [X.]. Dabei handelt es sich um Fahrtkosten in Höhe von 237,30 [X.] (791 km x 0,30 [X.]), 6 [X.] für den [X.] sowie eine Verpflegungspauschale von 12 [X.].

5

Der [X.]eklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) berücksichtigte bei den Einkünften des [X.] aus nichtselbständiger Arbeit lediglich Fahrtkosten auf der Grundlage einer einfachen Entfernung von 55 km. [X.]ei der Klägerin legte er 22 km zugrunde. Aufwendungen für den [X.]esuch der [X.]e[X.]IT erkannte das [X.] nicht als Werbungskosten an.

6

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhoben die Kläger Klage, die das Finanzgericht ([X.]) als unbegründet abwies. Die Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (E[X.]) 2011, 1966 veröffentlicht.

7

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

8

Die Kläger beantragen,

das Urteil des [X.] Rheinland-Pfalz vom 15. November 2010  5 K 1482/08 und die Einspruchsentscheidung vom 12. März 2008 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2006 dahingehend abzuändern, dass bei den Einkünften des [X.] aus nichtselbständiger Arbeit weitere Werbungskosten in Höhe von 1.196,10 [X.] sowie bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit weitere Werbungskosten in Höhe von 50,88 [X.] berücksichtigt werden.

9

Das [X.] beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. 1. Die Revision der Kläger ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

2. Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) können Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit abgezogen werden. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG in der für das Streitjahr geltenden Fassung für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,30 € anzusetzen. Für die Bestimmung der Entfernung ist die kürzeste Straßenverbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte maßgebend; eine andere als die kürzeste Straßenverbindung kann zugrunde gelegt werden, wenn diese offensichtlich verkehrsgünstiger ist und vom Arbeitnehmer regelmäßig für Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte benutzt wird (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG).

a) Nach der Rechtsprechung des [X.] ([X.]), der sich die Finanzverwaltung angeschlossen hat, ist eine Straßenverbindung dann als verkehrsgünstiger als die kürzeste Verbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte anzusehen, wenn der Arbeitnehmer eine andere --längere-- Straßenverbindung nutzt und auf diese Weise die Arbeitsstätte trotz gelegentlicher Verkehrsstörungen in der Regel schneller und pünktlicher erreicht ([X.]-Urteil vom 10. Oktober 1975 [X.], [X.]E 117, 70, [X.] 1975, 852; [X.]-Beschluss vom 10. April 2007 [X.], [X.]/NV 2007, 1309; Schreiben des [X.] vom 11. Dezember 2001 [X.] 5-S 2351-300/01, [X.], 994). "Offensichtlich" verkehrsgünstiger ist die vom Arbeitnehmer gewählte Straßenverbindung dann, wenn ihre Vorteilhaftigkeit so auf der Hand liegt, dass sich auch ein unvoreingenommener, verständiger Verkehrsteilnehmer unter den gegebenen Verkehrsverhältnissen für die Benutzung der Strecke entschieden hätte.

b) Der in Streit stehende zweite Halbsatz des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG wurde durch Art. 1 Nr. 8 Buchst. b des Steueränderungsgesetzes 2001 vom 20. Dezember 2001 ([X.], 3794, [X.], 4) nachträglich angefügt. Nach den Gesetzesmaterialien sollte für die Bestimmung der maßgeblichen Entfernung die kürzeste (benutzbare) Straßenverbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zugrunde zu legen sein (Gesetzentwurf vom 10. Oktober 2000, BTDrucks 14/4242, [X.]). Da der Gesetzeswortlaut von der "kürzesten Straßenverbindung" und nicht mehr wie zuvor von der "kürzesten benutzbaren Straßenverbindung" sprach, kamen Zweifel auf, ob diese Formulierung eine längere Strecke noch zum Abzug zugelassen hätte. Da der Gesetzgeber eine solche Verschlechterung für Kraftfahrzeugbenutzer nicht beabsichtigte, stellte er mit der Ergänzung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG um dessen zweiten Halbsatz klar, dass die bis 2000 geltende Rechtslage weiter fortbestehen sollte (Bericht des Finanzausschusses vom 8. November 2001, BTDrucks 14/7341, [X.]). Diese Rechtslage wiederum gründete sich wesentlich auf die Rechtsprechung des erkennenden [X.]s ([X.]-Urteil in [X.]E 117, 70, [X.] 1975, 852), die in Fällen, in denen zur Ableitung der Verkehrsströme längere, aber zeitlich günstigere Verkehrsverbindungen durch Schnell- oder Ringstraßen geschaffen worden waren, denjenigen Arbeitnehmern, die solche Verkehrsadern auch tatsächlich regelmäßig nutzten, den Abzug der hierdurch entstehenden höheren Aufwendungen ermöglichen wollte. Diese Auslegung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 zweiter Halbsatz EStG ist mithin auch für die neu gefasste Regelung maßgeblich ([X.]-Beschluss in [X.]/NV 2007, 1309).

c) Konkrete zeitliche Vorgaben, die erfüllt sein müssen, um eine Straßenverbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" als die kürzeste Fahrtroute anzusehen, gibt die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht vor.

Soweit in der Rechtsprechung der Finanzgerichte (vgl. [X.] Düsseldorf, Urteil vom 18. Juli 2005  10 K 514/05 E, E[X.] 2005, 1852; Hessisches [X.], Urteil vom 25. September 2006  1 K 1310/04, juris) eine Zeitersparnis von mindestens 20 Minuten für erforderlich gehalten wird, ist dem in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen. Insbesondere kann nicht in jedem Fall eine Zeitersparnis von 20 Minuten gefordert werden, weil § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 EStG für jeglichen Arbeitsweg anzuwenden ist und bei einer solchen Auslegung für kürzere Strecken, beispielsweise wenn die Fahrt zwischen Wohnung und Arbeitsstätte auf der kürzesten Strecke regelmäßig nur etwa 20 Minuten dauert, praktisch keinen Anwendungsbereich mehr hätte, weil in diesem Fall eine zeitliche Verkürzung auf der schnellsten Strecke nicht mehr als 20 Minuten ergeben könnte. Hieraus ist ersichtlich, dass zeitliche Erfordernisse ins Verhältnis zur Gesamtdauer der Fahrten gesetzt werden müssen. Entsprechend ist die Frage, ob eine Straßenverbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" als die kürzeste Route angesehen werden kann, nach den Umständen des Einzelfalls zu bestimmen. Ist allenfalls eine geringfügige Verkürzung von unter 10 % der für die kürzeste Verbindung benötigten Fahrzeit zu erwarten, so spricht viel dafür, dass diese minimale Zeitersparnis allein für einen verständigen Verkehrsteilnehmer keinen ausschlaggebenden Anreiz darstellen dürfte, eine von der kürzesten Verbindung abweichende Route zu wählen. Umgekehrt ist eine relativ große zu erwartende Zeitersparnis ein Indiz dafür, eine Verbindung als "offensichtlich verkehrsgünstiger" i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 4 zweiter Halbsatz EStG anzusehen. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass das Merkmal der Verkehrsgünstigkeit auch andere Umstände als eine Zeitersparnis beinhaltet. So kann eine Straßenverbindung auch dann "offensichtlich verkehrsgünstiger" sein als die kürzeste Verbindung, wenn sich dies aus Umständen wie Streckenführung, Schaltung von Ampeln o.Ä. ergibt. Deshalb kann eine "offensichtlich verkehrsgünstigere" Straßenverbindung auch vorliegen, wenn nur eine relativ geringe oder gar keine Zeitersparnis zu erwarten ist, sich die Strecke jedoch aufgrund anderer Umstände als verkehrsgünstiger erweist als die kürzeste Verbindung.

3. Auch die Ausführungen in der Vorentscheidung, mit denen eine Berücksichtigung der Aufwendungen für den Besuch der [X.] abgelehnt wurde, halten einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand.

Nach dem Beschluss des Großen [X.]s des [X.] vom 21. September 2009 GrS 1/06 ([X.]E 227, 1, [X.] 2010, 672) ist der beruflich veranlasste Anteil an Reisekosten als Werbungskosten abziehbar, wenn eine Reise berufliche und private [X.] enthält, die jeweils nicht von untergeordneter Bedeutung sind. Notfalls sind beruflich und privat veranlasster Anteil im Wege der Schätzung zu ermitteln. Im Streitfall hat das [X.] seine Entscheidung, die geltend gemachten Aufwendungen für den Besuch des [X.] auf der [X.] seien nicht als Werbungskosten zu berücksichtigen, lediglich damit begründet, dass ihre ausschließlich berufliche Veranlassung nicht belegt sei. Damit hat es die im Beschluss des Großen [X.]s des [X.] in [X.]E 227, 1, [X.] 2010, 672 niedergelegten Grundsätze nicht angewandt, obwohl hierzu aufgrund der Gesamtumstände des Streitfalls Veranlassung bestanden hätte.

4. Die Vorentscheidung war aufzuheben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen. Die Feststellungen des [X.] ermöglichen keine abschließende Entscheidung des Streitfalls. Im zweiten Rechtsgang wird das [X.], ggf. im Wege einer Beweisaufnahme, feststellen, ob die von den Klägern für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte regelmäßig benutzten Straßenverbindungen "offensichtlich verkehrsgünstiger" waren als die jeweils kürzeste Route.

Hinsichtlich der Aufwendungen für den Besuch der [X.] wird das [X.] feststellen, ob und ggf. inwieweit die geltend gemachten Aufwendungen beruflich veranlasst sind. Werden --wie im [X.] von [X.] übernommen, liegt eine berufliche Veranlassung nahe. Sollte nach den im zweiten Rechtsgang zu treffenden Feststellungen des [X.] keine überwiegende Veranlassung durch die berufliche Tätigkeit des [X.] vorliegen, wird das [X.] prüfen, ob eine Aufteilung anhand privater bzw. beruflicher [X.] möglich ist.

5. Angesichts dessen braucht der [X.] nicht zu entscheiden, ob dem [X.] die von der Revision gerügten Verfahrensfehler unterlaufen sind ([X.]surteil vom 11. Februar 2010 [X.]/08, [X.]E 228, 421, [X.] 2010, 628, m.w.N.).

Meta

VI R 19/11

16.11.2011

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 15. November 2010, Az: 5 K 1482/08, Urteil

§ 9 Abs 1 S 3 Nr 4 S 4 EStG 2002, § 9 Abs 1 S 1 EStG 2002, § 12 Nr 1 EStG 2002, § 126 Abs 3 S 1 Nr 2 FGO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.11.2011, Az. VI R 19/11 (REWIS RS 2011, 1362)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1362

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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