Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.07.2020, Az. B 1 KR 23/18 B

1. Senat | REWIS RS 2020, 2276

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

VGL B 5 SF 9/20 S

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Zweifel an der Prozessfähigkeit eines Beteiligten - fehlende Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 21. Dezember 2017 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Die [X.]eteiligten streiten über die Übernahme der Kosten für [X.]ehandlungen in [X.]. Der 1947 geborene und bei der [X.]eklagten gesetzlich krankenversicherte Kläger wurde im November 2015 aufgrund chronischer rezidivierender Oberbauchschmerzen in [X.] behandelt (dadurch entstandene Kosten: 11 804,14 Euro). Er beabsichtigte, die ausstehende Cholezystektomie (chirurgische Entfernung der [X.]) ebenfalls in [X.] durchführen zu lassen. Dafür würden voraussichtliche Kosten in [X.]öhe von 28 291,39 Euro anfallen. Für die ambulante [X.]ehandlung erstattete die [X.]eklagte dem Kläger Kosten in [X.]öhe von 1258,62 Euro entsprechend den [X.] [X.]. Ferner entschied sie, dass die Kosten der noch ausstehenden Cholezystektomie nur in [X.]öhe der bei einer vergleichbaren [X.]ehandlung in einem [X.] [X.] entstehenden Kosten übernommen werden. Die auf vollständige Übernahme der entstandenen und der zukünftigen [X.]ehandlungskosten in [X.] gerichtete Klage und die [X.]erufung sind erfolglos geblieben ([X.]erichtsbescheid des [X.] vom 29.8.2017, Urteil des L[X.] vom 21.12.2017).

2

Mit seiner [X.]eschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im L[X.]-Urteil rügt der Kläger eine grundsätzliche [X.]edeutung der Rechtssache und Verfahrensmängel. Er sei prozessunfähig. Das L[X.] hätte für ihn einen besonderen Vertreter bestellen müssen.

3

II. Die von dem Kläger selbst eingelegte [X.]eschwerde ist gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 [X.]albsatz 2 [X.][X.] iVm § 169 Satz 3 [X.][X.] durch [X.]eschluss ohne Zuziehung [X.] zu verwerfen.

4

1. Dieser abschließenden Entscheidung des Senats stehen keine von Amts wegen zu beachtenden [X.] entgegen. Der Kläger ist prozessfähig. Ein besonderer Vertreter war deshalb nicht zu bestellen.

5

[X.]emäß § 72 Abs 1 [X.][X.] kann für einen nicht prozessfähigen [X.]eteiligten ohne gesetzlichen Vertreter der Vorsitzende bis zum Eintritt eines Vormundes, [X.]etreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Steht die [X.] für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 [X.][X.] fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das Amtsgericht keinen [X.]etreuer bestellt hat. [X.]ei gewichtigen [X.]edenken gegen die Prozessfähigkeit hat das [X.]ericht von der [X.] auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller [X.]eweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende [X.]eteiligte prozessfähig ist (vgl [X.][X.] vom [X.] - [X.] KR 73/18 [X.] - [X.] 4-1500 § 56a [X.] Rd[X.] 8 mwN). Solche gewichtigen [X.]edenken gegen die Prozessfähigkeit des [X.] vermag der Senat nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden [X.]eweismittel nicht zu erkennen.

6

a) [X.] ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 [X.][X.]), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 [X.]ürgerliches [X.]esetzbuch ([X.][X.][X.]) ist, weil sie sich gemäß § 104 [X.] 2 [X.][X.][X.] in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der [X.]eistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (vgl [X.][X.] vom 12.12.2013 - [X.] [X.] 24/12 R - [X.] 4-3500 § 67 [X.] Rd[X.] 9; [X.] 9.9.2004 - III [X.]65/03 - juris Rd[X.] 4; [X.] vom 5.11.2004 - [X.]/04 - juris Rd[X.]3, jeweils mwN). An die Annahme einer [X.] sind auch mit [X.]lick auf den damit verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht (vgl [X.][X.] vom 5.5.1993 - 9/9a RVg 5/92 - [X.] 3-1500 § 71 [X.] S 3) strenge Anforderungen zu stellen. Es reicht nicht aus, dass der [X.]etroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet (vgl [X.][X.] vom [X.] [X.] 49/09 [X.] - juris Rd[X.] 7 mwN). Ebenso wenig reichen eine bloße Willensschwäche (vgl [X.] vom 5.6.1972 - II ZR 119/70 - Rd[X.] 9) oder die bloße Unfähigkeit eines [X.]eteiligten, seine Rechte in einer mündlichen Verhandlung selbst wahrzunehmen (vgl [X.][X.] vom [X.] - 11 RA 10/64 - juris Rd[X.] 9; vgl zum [X.]anzen auch Roller in jurisPK-[X.][X.], 1. Aufl 2017, § 71 Rd[X.]7 ff mwN).

7

b) [X.]emessen daran sind gewichtige [X.]edenken gegen die Prozessfähigkeit des [X.] nicht erkennbar.

8

Der Senat muss sich dabei auf die ihm vorliegenden Unterlagen, dh den Inhalt der [X.]erichtsakten des vorliegenden Verfahrens und des zugrunde liegenden Ausgangsverfahrens vor dem [X.] und dem L[X.] sowie den [X.]eschluss des 12. Senats des [X.][X.] vom 14.8.2017 - [X.]2 KR 103/14 [X.], auf den sich der Kläger in der [X.]egründung seiner [X.]eschwerde berufen hat, beschränken. Weitere Erkenntnismöglichkeiten stehen dem Senat nicht zur Verfügung, nachdem der Kläger weder an einer persönlichen [X.]egutachtung mitgewirkt noch sein Einverständnis mit der Einholung von [X.] und der [X.]eiziehung der Akten ua des Verfahrens [X.]2 KR 103/14 [X.] erklärt hat. Maßgebliche neue aktuelle [X.]efunde von Arztbesuchen aus jüngerer Zeit hat der Kläger ebenfalls nicht zu den Akten gereicht. Der vom Senat zum Sachverständigen bestellte Prof. Dr. [X.]. hat zudem mitgeteilt, allein auf der [X.]rundlage des vorliegenden Akteninhalts keine Einschätzung dazu treffen zu können, ob sich der Kläger derzeit in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand befinde.

9

Der 12. Senat des [X.][X.] ist in dem [X.]eschluss vom 14.8.2017 - [X.]2 KR 103/14 [X.] - nach Auswertung der von ihm beigezogenen medizinischen Unterlagen und unter Zugrundelegung der oben genannten Maßstäbe zu der Einschätzung gelangt, dass bei dem Kläger das Vorliegen einer [X.]eschäfts- und damit [X.] zu verneinen ist. Er hat dabei berücksichtigt, dass der Kläger von seinen behandelnden Ärzten zwar teilweise als verhandlungsunfähig beschrieben wird. Er habe sich jedoch im Rahmen der durchgeführten [X.]egutachtungen verbal ausdrücken können und sei zu Raum und Zeit orientiert gewesen. Er habe sich um seine Angelegenheiten kümmern oder sich der [X.]ilfe Dritter bedienen können, z[X.] Rechtsanwälte beauftragen können. Aus diesem [X.]rund sei auch die Einrichtung einer [X.]etreuung abgelehnt worden. Der Auszug seiner Ehefrau habe die psychische Situation verschlechtert und die Depression chronifiziert. Ausweislich der vorliegenden [X.]utachten aus dem Verfahren [X.] 9 S[X.]4/15 [X.] (aus den Jahren 2011 bis 2013) leide er - der Kläger - an Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen nebst einer Antriebsstörung; es bestehe eine [X.]rübelsymptomatik. Wahnwahrnehmungen, [X.]alluzinationen oder sonstiges psychotisches Erleben lägen aber nicht vor. Zudem liege eine Schmerzsymptomatik vor. Der Kläger habe außerdem eine Verwahrlosungstendenz gezeigt, da auch dementielle Zustände hinzugetreten seien. Die beschriebenen Symptome bei Depression und Schmerzstörung begründeten keine [X.]eschäfts- und damit [X.], denn aus ihnen ergebe sich nicht, dass der Kläger nicht mehr in der Lage wäre, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Sie belegten lediglich eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit und das Erfordernis, dass der Kläger sich der [X.]ilfe Dritter bediene. In diesem Kontext sei auch das dem Kläger durch [X.]escheid vom 17.4.2015 ab 30.12.2013 zuerkannte Merkzeichen "[X.]" zu sehen. Aus der zuletzt vom Kläger vorgelegten Anlage zum Protokoll Pflegeeinsatz nach § 37 Abs 3 [X.][X.] XI vom 13.2.2017 ergebe sich, dass der Kläger aktuell an Depressionen, Neuropathie, [X.] und Fibromyalgie leide. Die Anlage zeige allenfalls eine Verschlechterung des körperlichen [X.]esundheitszustandes des zwischenzeitlich siebzigjährigen [X.] auf, jedoch keine Verschlechterung seines geistigen [X.]esundheitszustandes. Zudem belege der darin ausdrücklich attestierte Wunsch des [X.], sein [X.]aus behindertengerecht umzubauen, dass er durchaus zu vernünftigen Erwägungen in der Lage sei. Eine [X.]etreuung sei bis [X.] nicht eingerichtet worden. Aus dem Umstand, dass der Kläger offenbar - ggf mit selbst organisierter [X.]ilfe - seine gesamten wirtschaftlichen Angelegenheiten nach wie vor eigenständig regele und mit dem [X.]ericht zu korrespondieren in der Lage sei, dürfe unter [X.]erücksichtigung der erwähnten medizinischen Stellungnahmen geschlossen werden, dass der Kläger zwar psychisch erkrankt sei, damit die Schwelle zur [X.] jedoch nicht erreicht ist. Die Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung hat das [X.]Verf[X.] nicht zur Entscheidung angenommen ([X.]eschluss vom [X.] - 1 [X.]vR 54/18).

Diese Ausführungen sind in sich schlüssig und decken sich mit dem [X.]ild, das die von dem Kläger bzw seinen "[X.]elfern" im vorliegenden Verfahren und dem zugrunde liegenden Verfahren vor dem [X.] und dem L[X.] eingereichten Schriftsätze und medizinischen Unterlagen vermitteln. Die eingereichten Schriftsätze belegen, dass der Kläger jedenfalls mit der ihm offenbar zur Seite stehenden Unterstützung in der Lage ist, seine Interessen im gerichtlichen Verfahren sachgerecht zu vertreten und seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Die zu den Akten gereichten medizinischen Unterlagen (ua fachärztliches Kurzgutachten zur Prozessfähigkeit des Facharztes für Psychiatrie L. vom 26.8.2004, [X.] vom 13.3.2009, [X.]efundbericht Dr. A. vom [X.], [X.]escheid der [X.] über die Zuerkennung des Merkzeichens "[X.]" und die [X.]eibehaltung eines [X.]rades der [X.]ehinderung von 80 sowie der Merkzeichen "[X.]" und "[X.]" vom 17.4.2015, Auszug des [X.]ehandlungsberichts der Universitätsklinik für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie des Inselspitals [X.]ern vom [X.]) decken sich hinsichtlich der [X.]efunde und der ärztlichen Einschätzungen mit den Angaben des 12. Senats zu den dortigen medizinischen Unterlagen. Anhaltspunkte für eine in dem vorliegenden Zusammenhang relevante Veränderung des psychischen [X.]esundheitszustandes finden sich darin nicht.

c) Auch wenn die Schreiben "mit fremder [X.]ilfe" erstellt wurden, ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger nicht in der Lage ist, den Inhalt der Schreiben in seinen Willen aufzunehmen, die nach ihrem sachlichen [X.]egehren und dessen inhaltlicher [X.]egründung keine Anhaltspunkte für [X.] enthalten.

d) Es ist offenkundig, dass der Kläger und die Personen, die sich anonym hinter der "fremden [X.]ilfe" verbergen, nicht gewillt sind, an der Klärung der Prozessfähigkeit des [X.] mitzuwirken und jeden Versuch des Senats, den Sachverhalt aufzuklären, ins Leere laufen lassen. Verbleibende Zweifel an der Prozessfähigkeit des [X.] fallen deshalb ihm auch prozessual zur Last. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens des [X.] zur weiteren Aufklärung scheidet hier angesichts des Streitgegenstandes und des mit der - zu erwartenden zwangsweisen - Durchsetzung der Anordnung verbundenen [X.]rundrechtseingriffs von vorneherein aus (vgl auch OL[X.] München vom 7.11.2006 - 34 Wx 79/06, 34 [X.] - juris Rd[X.]3).

2. Die [X.]eschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des L[X.] ist unzulässig, da der Kläger nicht postulationsfähig ist. Vor dem [X.][X.] müssen sich die [X.]eteiligten, außer im PK[X.]-Verfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen (§ 73 Abs 4 Satz 1 [X.][X.]; zur Verfassungsmäßigkeit vgl [X.]Verf[X.] vom 18.12.1991 - 1 [X.]vR 1411/91 - [X.] 3-1500 § 160a [X.] 7 S 13 mwN). Der Kläger, der nicht zu dem Kreis der zugelassenen Prozessbevollmächtigten gehört, hat die [X.]eschwerde jedoch selbst eingelegt. Auf das Erfordernis, sich vor dem [X.][X.] durch einen der in § 73 Abs 4 [X.][X.] aufgeführten Prozessbevollmächtigten vertreten zu lassen, ist er in der Rechtsmittelbelehrung des L[X.]-Urteils hingewiesen worden. Er war aus gesundheitlichen [X.]ründen (vgl 1.) auch nicht gehindert, wirksam einen Anwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen.

3. [X.] beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 [X.][X.].

Meta

B 1 KR 23/18 B

17.07.2020

Bundessozialgericht 1. Senat

Beschluss

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Altenburg, 29. August 2017, Az: S 5 KR 1215/17, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 104 Nr 2 BGB

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.07.2020, Az. B 1 KR 23/18 B (REWIS RS 2020, 2276)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2276

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