Bundesgerichtshof, Urteil vom 24.11.2011, Az. 4 StR 331/11

4. Strafsenat | REWIS RS 2011, 1117

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Gegenstand

Anordnung der Sicherungsverwahrung auf Grund einer Einheitsjugendstrafe


Tenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des [X.] vom 19. Januar 2011 wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels sowie die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, Freiheitsberaubung und einem Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht zu der Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Von einer Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hat es abgesehen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, die sie auf die [X.] der Maßregel beschränkt hat.

2

Das vom [X.] nicht vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

I.

3

Nach den Feststellungen sprach das [X.] den Angeklagten mit Urteil vom 12. Mai 2004 des sexuellen Missbrauchs eines Kindes schuldig und setzte die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung aus. Der Angeklagte hatte im Dezember 2002 ein ihm unbekanntes sechsjähriges Mädchen dazu veranlasst, sich auszuziehen und nackt mit dem Rücken auf ein Sofa zu legen. Anschließend hatte sich der bis auf einen Pullover entkleidete Angeklagte mit dem Bauch auf den Körper des Kindes gelegt. Als das Mädchen begonnen hatte zu weinen, hatte der Angeklagte ihm zunächst den Mund mit einer Hand zugehalten, dann aber aus Mitleid von ihm abgelassen. Am 20. Juli 2006 verurteilte das [X.] den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch eines Kindes unter Einbeziehung des Urteils des [X.] vom 12. Mai 2004 zu der [X.] von zwei Jahren und sechs Monaten. Dem lag zu Grunde, dass der Angeklagte Ende 2005/Anfang 2006 einem zwölf Jahre alten Jungen die Hosen heruntergezogen und ihn durch Festhalten mit den Händen dazu gezwungen hatte zu erdulden, dass der Angeklagte an dem Geschlechtsteil des Jungen manipuliert, und es schließlich auch in den Mund genommen hatte. Die Jugendstrafe verbüßte der Angeklagte vollständig bis zum 1. August 2008. Anschließend unterlag er der Führungsaufsicht, in deren Rahmen ihm u.a. die Weisung erteilt wurde, keinerlei Kontakt zu Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren aufzunehmen.

4

Bei der im vorliegenden Verfahren abgeurteilten, am 16. August 2010 begangenen Tat sprach der Angeklagte einen ihm unbekannten neunjährigen Jungen auf der Straße an, lockte ihn unter einem Vorwand in seine Wohnung und veranlasste ihn, sich zu entkleiden. Dem nackt auf einer Couch liegenden Kind führte der Angeklagte, der sich selbst Hose und Unterhose ausgezogen hatte, einen Plastikschlauch in den Anus bis zum [X.] ein und ließ anschließend Wasser über den Schlauch in den Darm des Kindes laufen. Das Einführen des [X.] führte - vom Angeklagten billigend in Kauf genommen - zu Einrissen im Anus sowie zu Verletzungen der Anal- und [X.]schleimhaut.

5

Eine Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hat das [X.] abgelehnt, weil es die formellen Voraussetzungen für die Anordnung dieser Maßregel als nicht erfüllt angesehen hat.

II.

6

Die wirksam auf die [X.] der Maßregel beschränkte Revision ist unbegründet. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin hat das [X.] die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. zu Recht verneint.

7

1. Die Staatsanwaltschaft hat ihr Rechtsmittel wirksam auf die Frage der Sicherungsverwahrung beschränkt. Zwischen dem Strafausspruch und der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht grundsätzlich keine der Rechtsmittelbeschränkung entgegenstehende Wechselwirkung (vgl. [X.], Urteile vom 24. März 2010 – 2 StR 10/10, [X.], 239; vom 7. Mai 2009 - 3 [X.]; vom 10. Oktober 2006 – 1 [X.], [X.], 212, 213). Ein Ausnahmefall, in welchem auf Grund des Inhalts der Urteilsgründe ein innerer Zusammenhang zwischen Strafe und [X.] der Maßregel nicht auszuschließen ist (vgl. [X.], Urteil vom 23. Februar 1994 – 3 StR 679/93, [X.], 280, 281), liegt nicht vor.

8

2. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach der Bestimmung des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F., die bei vor dem 1. Januar 2011 begangenen [X.] nach Maßgabe der Übergangsvorschrift des Art. 316e Abs. 1 und 2 [X.] sowie der vom [X.] in seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 (NJW 2011, 1931, Rn. 172) getroffenen Fortgeltungsanordnung weiterhin Anwendung findet, setzt in formeller Hinsicht voraus, dass der Täter zwei [X.]en im Sinne des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB a.F. begangen hat, durch die er [X.]eils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat, und er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird. [X.] ist bei einer bereits abgeurteilten Tat (vgl. [X.], Urteil vom 10. Oktober 2006 – 1 [X.], aaO) die tatsächlich verhängte Strafe (vgl. [X.]/[X.] in  [X.], 12. Aufl., § 66 Rn. 85, und [X.], StGB, 58. Aufl., § 66 Rn. 12, [X.]. zu § 66 Abs. 2 StGB). Bei  einer einheitlichen Jugendstrafe nach § 31 JGG gelten die gleichen Grundsätze, wie sie die Rechtsprechung für den Anwendungsbereich des § 66 Abs. 1 StGB entwickelt hat (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. Mai 2010 – 5 [X.], [X.], 170; vom 28. Februar 2007 – 2 StR 28/07, [X.], 171; vom 23. August 2001 – 3 [X.], [X.], 29; Urteil vom 27. Mai 1975 – 5 [X.], [X.]St 26, 152). Danach erfüllt eine [X.] die Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB a.F. nur dann, wenn zu erkennen ist, dass gegen den Täter wenigstens bei einer ihr zugrunde liegenden [X.] eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verhängt worden wäre, sofern sie als Einzeltat gesondert abgeurteilt worden wäre. Dies festzustellen, ist eine im Wesentlichen tatrichterliche Aufgabe, die dem über die Sicherungsverwahrung entscheidenden [X.] obliegt. Davon, dass im Falle gesonderter Aburteilung der [X.] auf eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren erkannt worden wäre, darf nur ausgegangen werden, wenn der Tatrichter Feststellungen darüber treffen kann, wie der [X.] des Vorverfahrens die einzelnen der Vorverurteilung zu Grunde liegenden Taten bewertet hat. Er darf sich nicht an dessen Stelle setzen und im Nachhinein eine eigene Strafzumessung vornehmen ([X.], Beschluss vom 23. August 2001 – 3 [X.], aaO). Als Grundlage für die erforderlichen Feststellungen zu der Bewertung der [X.] im früheren Verfahren kommen in erster Linie die jugendgerichtlichen [X.] (vgl. [X.], Beschlüsse vom 23. August 1996 – 2 StR 337/96, [X.], 343; vom 29. Oktober 1990 – 5 StR 251/90, [X.]R StGB § 66 Abs. 1 Vorverurteilungen 6), daneben aber auch die Höhe der [X.]n in der Vorverurteilung und möglicherweise einbezogenen Urteilen sowie Zahl und Art der abgeurteilten Taten in Betracht (vgl. [X.], Urteile vom 14. Juli 1999 – 3 [X.], NJW 1999, 3723, 3724; vom 13. Juni 1978 – 1 [X.]; vom 27. Mai 1975 – 5 [X.], aaO 155).

9

Diesen rechtlichen Maßstab hat das [X.] beachtet. Es hat die [X.] aus dem Urteil des [X.] und die zu den beiden abgeurteilten [X.]en [X.]eils getroffenen Sachverhaltsfeststellungen im Einzelnen mitgeteilt und sich auf dieser Grundlage außer Stande gesehen festzustellen, dass für die Ende 2005/Anfang 2006 begangene Tat bei gesonderter Aburteilung eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verhängt worden wäre. Dies ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Die [X.] des [X.] befassen sich maßgeblich mit erzieherischen Gesichtspunkten und enthalten keine Ausführungen zur Bewertung der einzelnen Taten oder zu deren Gewichtung im Verhältnis zueinander. Auch die [X.]eiligen Tatgeschehen und ihre rechtliche Würdigung lassen keinen tragfähigen Schluss dahin zu, dass allein für die zuletzt begangene Tat auf eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren erkannt worden wäre. Auf die weiteren Erwägungen der [X.] zu den vom damaligen Tatrichter mit der Anwendung von Jugendstrafrecht verfolgten Intentionen kommt es bei dieser Sachlage nicht mehr an. Da es maßgeblich auf die tatsächlich verhängte Strafe ankommt, ist es schließlich auch ohne Bedeutung, dass die Ahndung der dem Urteil des [X.] zugrunde liegenden Tat zu Unrecht nach Jugendstrafrecht erfolgte und der Tatrichter bei Anwendung von Erwachsenenstrafrecht von der Strafandrohung des § 176a Abs. 2 und 4 StGB hätte ausgehen müssen.

Da aus den dargelegten Gründen auch nicht festgestellt werden kann, dass für beide Vortaten bei isolierter Aburteilung [X.]eils Jugendstrafen von mindestens einem Jahr verhängt worden wären, liegen die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB a.F. ebenfalls nicht vor.

III.

Bleibt die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft  erfolglos, hat der Nebenkläger seine im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen selbst zu tragen (vgl. [X.], Urteil vom 29. September 2004 – 2 [X.], bei [X.], [X.], 65, 67; [X.] in [X.][X.], [X.], 26. Aufl., § 473 Rn. 90).

Ernemann                                    Roggenbuck                                    Franke

                          Bender                                            [X.]

Meta

4 StR 331/11

24.11.2011

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Neubrandenburg, 19. Januar 2011, Az: 8 KLs 70/10 - 833 Js 15121/10

§ 66 Abs 3 S 2 StGB vom 27.12.2003, § 31 JGG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 24.11.2011, Az. 4 StR 331/11 (REWIS RS 2011, 1117)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1117

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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