Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25.03.2014, Az. 5 C 13/13

5. Senat | REWIS RS 2014, 6810

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Gegenstand

Bewilligung von Ausbildungsförderung für ausländischen Straftäter; geduldeter Aufenthalt


Leitsatz

1. Ein Ausländer hält sich auch dann im Sinne des § 8 Abs. 2a BAföG geduldet im Bundesgebiet auf, wenn die Ausländerbehörde es pflichtwidrig unterlassen hat, ihm eine Duldung zu erteilen.

2. Wurden einem Ausländer pflichtwidrig Duldungen nicht erteilt, so kann dieser den Nachweis, sich im Sinne des § 8 Abs. 2a BAföG seit mindestens vier Jahren ununterbrochen geduldet im Bundesgebiet aufgehalten zu haben, durch eine entsprechende Bescheinigung der Ausländerbehörde führen.

3. Wegen der § 8 Abs. 2a BAföG zugrunde liegenden Integrationserwartung verleiht die Bestimmung demjenigen keinen Anspruch, der im Sinne des § 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG verurteilt worden ist.

Tatbestand

1

Der im September 1978 geborene Kläger ist eigenen Angaben zufolge [X.] Staatsangehöriger tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Er begehrt für den Zeitraum von April 2012 bis Juli 2012 die Bewilligung von Ausbildungsförderung nach dem [X.].

2

Seiner Darstellung zufolge reiste er im September 2001 in das [X.] ein. Im Februar 2002 wurde er wegen versuchten Diebstahls mit Waffen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Im April 2002 wurde er aus der [X.] ausgewiesen. Da sich das [X.] Generalkonsulat in der Folge weigerte, dem Kläger ein Reisedokument auszustellen, war und ist seine Abschiebung tatsächlich unmöglich. Im Juli 2006 wurde er wegen versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Während der Verbüßung dieser Strafhaft wurde sein Aufenthalt zunächst "faktisch geduldet". Erst am 26. Juli 2010 wurde ihm auf seinen Antrag hin eine auf ein Jahr befristete Duldung erteilt, die in der Folge verlängert wurde.

3

Zum September 2011 wurde der Kläger zur schulischen Ausbildung in die Oberstufe der [X.] aufgenommen. Im gleichen Monat beantragte er für den Zeitraum von September 2011 bis Juli 2012 Ausbildungsförderung nach dem [X.]. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Januar 2012 ab. Der Widerspruch des zwischenzeitlich aus der Strafhaft entlassenen Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid des [X.] vom 22. Februar 2012 zurückgewiesen.

4

Im März 2012 bestätigte die Ausländerbehörde dem Kläger, dass sich dieser seit über vier Jahren im Status der Duldung befinde, ihm während der Haftzeit zwar keine Duldungsbescheinigungen ausgestellt worden seien, er in diesem Zeitraum jedoch faktisch geduldet worden sei. Hierauf beantragte der Kläger im April 2012, den Ablehnungsbescheid vom 26. Januar 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2012 zurückzunehmen.

5

Nachdem die Beklagte ein Wiederaufgreifen des Verfahrens abgelehnt hatte, hat er am 23. Mai 2012 Klage mit dem Ziel erhoben, ihm für seine Ausbildung an der [X.] ab April 2012 Ausbildungsförderung zu bewilligen. Am 9. Juli 2012 hat er überdies Klage erhoben mit dem Begehren, die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag auf Rücknahme des [X.] vom 26. Januar 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2012 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Mit Bescheid vom 2. Januar 2013 hat die Beklagte den [X.] abgelehnt. Der Kläger hat die Einbeziehung dieses Bescheides in das Klageverfahren und in der Sache beantragt, die Beklagte zu verpflichten, ihm antragsgemäß Ausbildungsförderung nach dem [X.] für den Besuch der [X.] für den Zeitraum von April 2012 bis Juli 2012 in gesetzlicher Höhe zu gewähren und den Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 2013 aufzuheben, soweit dieser dem entgegenstehe.

6

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bescheide vom 26. Januar 2012 und 22. Februar 2012 lägen nicht vor, da der Kläger die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Ausbildungsförderung nicht erfülle. Er sei nicht der Gruppe der von § 8 Abs. 2a [X.] erfassten geduldeten Ausländern zuzurechnen. Der Umstand, dass inhaftierte Ausländer, auch wenn ihnen eine Duldungsbescheinigung nicht erteilt werde, ausländerrechtlich als faktisch geduldet gälten, genüge ausbildungsförderungsrechtlich nicht. Die Entstehungsgeschichte des § 8 Abs. 2a [X.] mache deutlich, dass die Vorschrift nur solche geduldeten Ausländer einbeziehe, die gut integriert seien. Dabei habe der Gesetzgeber maßgeblich auch den Gedanken der Straffreiheit in den Blick genommen (§ 18a Abs. 1 Nr. 7 AufenthG).

7

Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Begehren weiter. Die Annahme des [X.], § 8 Abs. 2a [X.] setze den Besitz einer Duldungsbescheinigung voraus, finde im Gesetz keine Stütze. Die Erwägungen in den Gesetzesmaterialien hätten sich im Gesetzestext nicht niedergeschlagen. Er wäre [X.], sähe § 8 Abs. 2a [X.] das Erfordernis des Besitzes einer förmlichen Duldung für die Dauer von vier Jahren vor, da die Norm erst zum 1. Januar 2009 in [X.] getreten sei, weshalb für ihn jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt kein Rechtsschutzbedürfnis bestanden habe, die Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung zu beantragen. Zudem würde er gegenüber einem nichtinhaftierten geduldeten Ausländer in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise benachteiligt. Wer in einer Justizvollzugsanstalt untergebracht sei, dürfe nicht schlechter gestellt werden als jemand, der aus Gründen nicht abgeschoben werden könne, die er selbst zu vertreten habe. Eine Gleichbehandlung sei ferner insoweit geboten, als Ausländer, denen wiederkehrend Duldungsbescheinigungen ausgestellt würden, nicht mehr Vertrauen in einen weiteren Inlandsaufenthalt entwickeln könnten als faktisch geduldete inhaftierte Ausländer.

8

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

9

Die zulässige Revision des [X.], über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 141 Satz 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Die Beklagte hat, soweit es den [X.]raum von April 2012 bis Juli 2012 betrifft, im Ergebnis zu Recht sowohl die Rücknahme des [X.] vom 26. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2012 (1.) als auch die Gewährung von Ausbildungsförderung nach dem [X.] für den Besuch der [X.] (2.) abgelehnt.

1. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch des [X.] auf Rücknahme der Bescheide vom 26. Januar 2012 und 22. Februar 2012 folgt weder aus § 44 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 des [X.] - i.d.F. der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 ([X.]), zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Juli 2013 ([X.]), - [X.] - (a) noch aus § 44 Abs. 2 Satz 1 [X.] (b).

a) Die Voraussetzungen einer Rücknahme nach § 44 Abs. 1 Satz 1 [X.] liegen nicht vor.

Nach dieser Bestimmung ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Für die unrichtige Anwendung des Rechts im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 1 [X.] genügt ein objektiver Rechtsverstoß (vgl. [X.], Urteil vom 20. Oktober 1983 - 2 [X.] - [X.] 1984, 145), was nach dem zum [X.]punkt der Bekanntgabe des Ausgangsverwaltungsakts maßgebenden Recht zu beurteilen ist (vgl. [X.], Urteile vom 3. April 2001 - [X.] RA 22/00 R - [X.]E 88, 75 <81> und vom 7. September 2006 - [X.] RA 43/05 R - [X.]E 97, 94 ). Die Ablehnung von Ausbildungsförderung mit Bescheid vom 26. Januar 2012 war rechtmäßig.

Der erstrebten Bewilligung von Leistungen nach Maßgabe von § 7 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1a Nr. 1 des Bundesgesetzes über individuelle Förderung der Ausbildung ([X.] - [X.]) i.d.F. vom 24. Oktober 2010 ([X.] 1422), im hier maßgeblichen [X.]raum zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 ([X.] 2854), steht entgegen, dass der Kläger nicht die persönlichen Voraussetzungen einer Förderung erfüllt. Er gehört nicht dem von § 8 Abs. 2a [X.] erfassten Personenkreis an. Nach dieser Norm wird geduldeten Ausländern (§ 60a des [X.]es), die ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, Ausbildungsförderung geleistet, wenn sie sich seit mindestens vier Jahren ununterbrochen rechtmäßig, gestattet oder geduldet im [X.] aufhalten. Allerdings verstößt die Annahme des [X.], ein Ausländer, der lediglich "faktisch geduldet" werde, halte sich nicht im Sinne des § 8 Abs. 2a [X.] geduldet im [X.] auf, gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) (aa). Auf diesem Verstoß beruht das Urteil indes nicht, da das Verwaltungsgericht zutreffend auch angenommen hat, ein Anspruch auf Ausbildungsförderung scheide wegen der Verurteilungen des [X.] zu Freiheitsstrafen aus (bb).

aa) Im streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum vom 1. April 2012 bis zum 31. Juli 2012 erfüllte der Kläger die Voraussetzung eines mindestens vierjährigen ununterbrochenen geduldeten Aufenthalts im [X.].

§ 8 Abs. 2a [X.] nimmt § 60a des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im [X.] ([X.] - [X.]) i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 ([X.] 162), im hier maßgeblichen [X.]raum zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2011 ([X.] 3044) bzw. vom 1. Juni 2012 ([X.] 1224), auch im Zusammenhang mit dem Erfordernis eines vierjährigen geduldeten Aufenthalts in Bezug. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 [X.] ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist und ihm keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Erteilung der Duldung bedarf der Schriftform (§ 77 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen (§ 60a Abs. 4 [X.]). Hier lagen die materiellen Voraussetzungen einer Duldung vor, weil die Abschiebung des [X.] wegen der Weigerung der Auslandsvertretung der Russischen Förderation, ihm ein Reisedokument auszustellen, tatsächlich unmöglich war. Zwar wurden dem Kläger (schriftliche) Duldungen erst ab dem 26. Juli 2010 erteilt. Jedoch konnte er in der [X.] vom 1. April 2008 bis zum 25. Juli 2010 die Erteilung einer Duldung beanspruchen. Dieser [X.]raum ist im Rahmen des § 8 Abs. 2a [X.] als geduldeter Aufenthalt zu berücksichtigen. Ein Ausländer hält sich nämlich auch dann im Sinne des § 8 Abs. 2a [X.] geduldet im [X.] auf, wenn die Ausländerbehörde es pflichtwidrig unterlassen hat, ihm eine Duldung zu erteilen und er die Voraussetzungen für die Erteilung in einer den Anforderungen der Massenverwaltung genügenden Weise nachgewiesen hat. Das ist hier der Fall.

(1) Die Auslegung der § 8 Abs. 2a [X.] ergibt, dass die Voraussetzung eines geduldeten Aufenthalts auch für einen [X.]raum erfüllt ist, in dem dem Ausländer eine Duldung hätte erteilt werden müssen.

Der Wortlaut des § 8 Abs. 2a [X.] ist insoweit offen. Mangels einer ausdrücklichen Bezugnahme auf das Schriftformerfordernis des § 77 Abs. 1 Satz 1 [X.] lässt er es zu, seinen Anwendungsbereich auch in den Fällen als eröffnet anzusehen, in denen der Ausländer (lediglich) die materiellen Voraussetzungen einer Duldung erfüllt, ohne dass ihm eine solche schriftlich erteilt worden ist. Aus grammatikalischer Sicht kann die Bestimmung aber auch dahin verstanden werden, dass eine schriftliche Duldung erteilt sein muss.

Rückschlüsse auf die Auslegung des § 8 Abs. 2a [X.] lassen sich auch nicht aus der Interpretation der entsprechenden Merkmale in der Parallelnorm des § 59 Abs. 2 des [X.] - (Art. 1 des Gesetzes vom 24. März 1997, [X.] 594), geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 2011 ([X.] 2854), - [X.] - ziehen. Dies gilt gleichermaßen für das systematische Verhältnis zu § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.] und § 104a Abs. 1 Satz 1 [X.]. In diesen Bestimmungen wird ein Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis u.a. an einen mehrjährigen geduldeten Aufenthalt geknüpft. Soweit dies dahin verstanden wird, dass auch solche [X.]en einbezogen werden, in denen der Ausländer die materiellen Duldungsvoraussetzungen erfüllte, ihm hingegen eine Duldung nicht erteilt wurde, ist dies das Ergebnis einer Auslegung jener Bestimmungen (vgl. [X.], in: [X.] zum [X.] - GK-[X.] -, Stand: Januar 2014, § 25a [X.] Rn. 4, und [X.], in: GK-[X.], a.a.[X.], § 104a [X.] Rn. 15, jeweils m.w.N.; [X.], Ausländerrecht, Stand: September 2013, § 25a Rn. 2 und § 104a [X.] Rn. 7). Dieses kann nicht zwingend auf § 8 Abs. 2a [X.] übertragen werden.

Auch die historisch-genetische Auslegung des § 8 Abs. 2a [X.] weist nicht zwingend darauf hin, dass nur [X.]en zu berücksichtigen sind, in denen eine förmliche Duldung erteilt wurde.

Sinn und Zweck der Bestimmung gebieten es hingegen, auch solche [X.]räume in Ansatz zu bringen, in denen dem Ausländer von der Ausländerbehörde pflichtwidrig eine Duldung nicht erteilt wurde. Der allgemeine Zweck der Bestimmung liegt darin, auch jungen geduldeten Ausländern den Zugang zur Ausbildung durch finanzielle Sicherung ihres Lebensunterhalts zu erleichtern (vgl. BTDrucks 16/10914 [X.] f. und 9; [X.] 16/187, Stenografischer Bericht [X.]0175 C und 20176 A). Im Rahmen dieser Zwecksetzung kommt dem Erfordernis eines geduldeten Aufenthalts seit mindestens vier Jahren vornehmlich die Funktion zu, in [X.] Weise sicherzustellen, dass sich der Ausländer in dem genannten [X.]raum im [X.] aufgehalten hat und er nicht "untergetaucht" war oder sich in anderer Weise dem ausländerrechtlichen Verfahren entzogen hat. Der Zweck des § 8 Abs. 2a [X.] darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Ausländerbehörde bei Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des § 60a Abs. 1 Satz 1 [X.] pflichtwidrig die Erteilung einer das Schriftformerfordernis wahrenden Duldung unterlässt. Anderenfalls hätte sie es entgegen dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck des § 8 Abs. 2a [X.] in der Hand, durch pflichtwidriges Unterlassen einer Amtshandlung die Erfüllung der Förderungsvoraussetzungen zu vereiteln. Deshalb ist § 8 Abs. 2a [X.] dahin auszulegen, dass er auch dann einen Anspruch auf Ausbildungsförderung verleiht, wenn die Ausländerbehörde von einer (schriftlichen) Duldung abgesehen hat, obwohl sie eine solche hätte erteilen müssen. Sind die materiellen Voraussetzungen einer Aussetzung der Abschiebung gegeben, hat der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer förmlichen Duldung. Eine stillschweigende - "faktische" - Aussetzung der Abschiebung anstelle der förmlichen Duldung sieht das [X.] nicht vor (vgl. Urteile vom 25. September 1997 - BVerwG 1 C 3.97 - BVerwGE 105, 232 <236> = [X.] 402.240 § 55 AuslG Nr. 2 S. 5 f. und vom 21. März 2000 - BVerwG 1 C 23.99 - BVerwGE 111, 62 <65> = [X.] 402.240 § 55 AuslG Nr. 7 S. 3; [X.], [X.] vom 6. März 2003 - 2 BvR 397/02 - NVwZ 2003, 1250 <1251>).

(2) Die Feststellungslast für das Bestehen eines seit mindestens vier Jahren ununterbrochenen geduldeten Aufenthalts im [X.] trägt der Ausländer. Den [X.] in einem Verfahren der Massenverwaltung genügt er in der Regel durch die Vorlage ausländerrechtlicher Dokumente oder Bescheinigungen (vgl. BTDrucks 16/5172 S. 19 zu § 8 Abs. 2 [X.]-E).

Eine dem Gebot der Praktikabilität im Gesetzesvollzug entsprechende Nachweisführung wird in den Fällen der förmlichen Duldung durch die Vorlage der gemäß § 60a Abs. 4 [X.] zu erstellenden Duldungsbescheinigung ermöglicht (Nr. 8.2a.1 der [X.] zum [X.] vom 15. Oktober 1991 (GMBl [X.]70), zuletzt geändert durch Verordnung vom 29. Oktober 2013 ([X.] 1094); [X.], in: [X.]; [X.], 5. Aufl., Stand: April 2012, § 8 Rn. 53). [X.] einem Ausländer pflichtwidrig Duldungen nicht erteilt, so kann der in Rede stehende Nachweis insbesondere durch eine entsprechende Bescheinigung der Ausländerbehörde geführt werden.

(3) Gemessen an den vorstehenden Grundsätzen liegen hier die Voraussetzungen eines mindestens vierjährigen geduldeten Aufenthalts im [X.] vor. Soweit dem Kläger Duldungen erteilt wurden, hat er diese vorgelegt. Die materiellen Voraussetzungen einer Duldung waren - wie aufgezeigt - auch für die [X.] vom 1. April bis zum 25. Juli 2012 erfüllt. Insoweit durfte es die Ausländerbehörde nicht bei einer "faktischen Duldung" belassen, sondern hätte die Abschiebung förmlich aussetzen müssen. Das Vorliegen der materiellen Duldungsvoraussetzungen für diesen [X.]raum hat der Kläger durch Vorlage der am 14. März 2012 von der Ausländerbehörde ausgestellten Bescheinigung nachgewiesen. Aus dieser ergibt sich, dass sich der Kläger auch in dem hier in Rede stehenden [X.]raum im "Status der Duldung" befand.

bb) Der Kläger erfüllt wegen seiner strafrechtlichen Verurteilungen gleichwohl nicht die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2a [X.]. Die Bestimmung ist im Wege der teleologischen Reduktion insoweit einzuschränken.

Die Befugnis der Korrektur des Wortlauts einer Vorschrift steht den Gerichten unter anderem dann zu, wenn diese nach ihrer grammatikalischen Fassung Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll. In einem solchen Fall ist eine zu weit gefasste Regelung im Wege der sogenannten teleologischen Reduktion auf den ihr nach Sinn und Zweck zugedachten Anwendungsbereich zurückzuführen (vgl. Urteil vom 9. Februar 2012 - BVerwG 5 C 10.11 - BVerwGE 142, 10 = [X.] 454.710 § 14 [X.] Nr. 1, jeweils Rn. 15 m.w.N.). Ob eine planwidrige Gesetzeslücke als Voraussetzung einer teleologischen Reduktion vorliegt, ist nach dem Plan des Gesetzgebers zu beurteilen, der dem Gesetz zugrunde liegt (Urteil vom 16. Mai 2013 - BVerwG 5 C 28.12 - NJW 2013, 2775 m.w.N.). Liegt eine solche Lücke vor, ist sie durch Hinzufügung einer dem gesetzgeberischen Plan entsprechenden Einschränkung zu schließen. So verhält es sich hier.

§ 8 Abs. 2a [X.] erweist sich insoweit als planwidrig, als er keine Einschränkung dahin enthält, dass Ausländer, die wegen einer im [X.] begangenen vorsätzlichen Straftat im Sinne des § 18a Abs. 1 Nr. 7 [X.] zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, dem Anwendungsbereich der Bestimmung nicht unterfallen.

§ 8 Abs. 2a [X.] geht auf das Gesetz zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung [X.] und zur Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen ([X.]) vom 20. Dezember 2008 ([X.] 2846) zurück. Dieses Regelungswerk dient der teilweisen Umsetzung des [X.] "Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der Fachkräftebasis in [X.]" vom 16. Juli 2008 ([X.]). Nach diesem Programm ([X.] und 5) soll der steigende Bedarf an Fachkräften dadurch gedeckt werden, dass vor allem die Potenziale derjenigen jungen Ausländerinnen und Ausländer genutzt werden, "die durch Integration im Inland mit der [X.] Kultur vertraut sind und hier ihre Ausbildung absolvieren ('Bildungsinländer/innen')". Dieses Anliegen bezieht sich ausdrücklich auf junge geduldete Ausländerinnen und Ausländer. An diese Erwägung knüpft die Begründung des Entwurfs des [X.]es, in dem § 8 Abs. 2a [X.] ursprünglich nicht enthalten war, an und hebt hervor, dass der Zweck verfolgt werde, einen Beitrag zur langfristigen Deckung des Fachkräftebedarfs dadurch zu leisten, dass aufenthaltsrechtliche Erleichterungen für solche jungen geduldeten Ausländerinnen und Ausländer geschaffen würden, "die durch Integration im Inland mit der [X.] Kultur vertraut sind" (vgl. BTDrucks 16/10288 S. 8). Vor diesem Hintergrund drängt es sich auf, dass der Gesetzgeber solche geduldeten Ausländer begünstigen wollte, deren Aufenthalt zumindest die Erwartung rechtfertigt, dass sie sich in die hiesigen Lebensverhältnisse einfügen werden.

Diese Zielgruppe hat auch nicht dadurch eine Erweiterung erfahren, dass im parlamentarischen Ausschussverfahren der federführende Innenausschuss des [X.] auf Antrag der Koalitionsfraktionen von [X.] und [X.] empfahl, den Entwurf des [X.]es unter anderem um die Einfügung des § 8 Abs. 2a [X.] zu ergänzen. Diese Empfehlung zielte darauf, den in dem Aktionsprogramm vorgesehenen erleichterten Zugang junger geduldeter Ausländer zu einer Ausbildung durch eine Erweiterung des Ausbildungsförderungsrechts zu flankieren (BTDrucks 16/10914 [X.] f.). Geduldete Ausländer mit einem Aufenthalt von mindestens vier Jahren in [X.] sollten denjenigen Ausländern gleichgestellt werden, die über eine der in § 8 Abs. 2 Nr. 2 [X.] genannten [X.] verfügen (BTDrucks a.a.[X.]). Die durch das Aktionsprogramm initiierten Verbesserungen für Geduldete sollten "im Ausbildungsförderungsrecht gespiegelt" werden ([X.] 16/187, Stenografischer Bericht [X.]0176 ). Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür, dass der Zweck des [X.]es, diejenigen Geduldeten zu begünstigen, bei denen zumindest die Erwartung einer erfolgreichen Integration gehegt werden kann, für § 8 Abs. 2a [X.] keine Geltung beansprucht.

Das Verfahren bietet keinen Anlass abschließend darüber zu befinden, bei welchen Fallgestaltungen die Integrationsprognose nicht gerechtfertigt ist. Dies ist jedenfalls anzunehmen, wenn der Ausländer wegen einer im [X.] begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem [X.] oder dem Asylverfahrensgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Das entspricht der vom Gesetzgeber in § 18a Abs. 1 Nr. 7 [X.] getroffenen Wertung. Diese ist auch im Zusammenhang mit § 8 Abs. 2a [X.] zu berücksichtigen. § 18a [X.] ist - wie § 8 Abs. 2a [X.] - Gegenstand des [X.]es und deshalb ebenfalls von dem Zweck getragen, Erleichterungen für junge geduldete Ausländer, bei denen jedenfalls eine positive Integrationserwartung gerechtfertigt ist, zu schaffen. Da § 18a Abs. 1 Nr. 7 [X.] eine Fallgestaltung beschreibt, bei der dieser Zweck aus Sicht des Gesetzgebers nicht erreicht wird, erweist es sich als planwidrig, dass § 8 Abs. 2a [X.] eine solche Einschränkung nicht enthält. Deshalb ist es geboten, die Bestimmung im Wege teleologischer Reduktion dahin einzuschränken, dass ihr Anwendungsbereich in Fällen des § 18a Abs. 1 Nr. 7 [X.] nicht eröffnet ist.

Mit Blick darauf mag es auf sich beruhen, ob die Gewährung von Ausbildungsförderung in einem solchen Fall überhaupt geeignet wäre, den Zugang dieses Ausländers zum Arbeitsmarkt mittelbar zu erleichtern (vgl. § 10 der Verordnung über das Verfahren und die Zulassung von im Inland lebenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung vom 22. November 2004 <[X.] 2934>, im hier maßgeblichen [X.]raum zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. November 2011 <[X.] 2258> bzw. vom 1. Juni 2012 <[X.] 1224>; § 32 Abs. 1 und 2 der Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern i.d.F. vom 6. Juni 2013 <[X.] 1499>). Ebenfalls ohne Belang ist, dass unabhängig von dem Abschluss einer (Schul-)Ausbildung der Erteilung eines Aufenthaltstitels etwa nach § 18a [X.] die Sperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 [X.] entgegensteht.

Gemessen daran gehört der Kläger dem von § 8 Abs. 2a [X.] begünstigten Personenkreis nicht an, weil er wegen versuchten Diebstahls mit Waffen in Tateinheit mit gefährlicher und schwerer Körperverletzung sowie wegen versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurde.

b) Die Beklagte war auch nicht nach § 44 Abs. 2 [X.] verpflichtet, den Ablehnungsbescheid vom 26. Januar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2012 zurückzunehmen. Nach dieser Norm ist im Übrigen ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise zurückzunehmen. In Anknüpfung an die Ausführungen zu a) fehlt es bereits an einer rechtswidrigen Versagung von Leistungen nach dem [X.].

2. Aus den unter 1. dargelegten Gründen war die Beklagte nicht verpflichtet, dem Kläger Ausbildungsförderung nach dem [X.] für den Besuch der [X.] zu gewähren.

Meta

5 C 13/13

25.03.2014

Bundesverwaltungsgericht 5. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend VG Stuttgart, 15. Januar 2013, Az: 11 K 1711/12, Urteil

§ 11 Abs 1 S 2 AufenthG, § 18a Abs 1 Nr 7 AufenthG, § 25a Abs 1 S 1 AufenthG, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG, § 60a Abs 4 AufenthG, § 77 Abs 1 S 1 AufenthG, § 104 Abs 1 S 1 AufenthG, § 2 Abs 1 Nr 1 BAföG, § 2 Abs 1a Nr 1 BAföG, § 7 Abs 1 Nr 1 BAföG, § 8 Abs 2a BAföG, § 32 Abs 1 BeschV 2013, § 32 Abs 2 BeschV 2013, § 10 BeschVerfV, § 59 Abs 2 SGB 3

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25.03.2014, Az. 5 C 13/13 (REWIS RS 2014, 6810)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 6810

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Wird zitiert von

11 L 134/23

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B 6 K 17.1015

B 6 E 17.1014

L 12 KA 17/16

19 CE 20.599

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