BT-Drucksache 18/9638

Aktuelle Fragen zur Praxis des Kirchenasyls in Deutschland und zu Rücküberstellungen nach Ungarn

Vom 14. September 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9638
18. Wahlperiode 14.09.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Christine Buchholz, Annette Groth, Inge Höger,
Andrej Hunko, Jan Korte, Katrin Kunert, Dr. Alexander S. Neu,
Harald Petzold (Havelland), Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Aktuelle Fragen zur Praxis des Kirchenasyls in Deutschland und
zu Rücküberstellungen nach Ungarn

Am Morgen des 23. August 2016 wurde der ghanaische Asylsuchende I. A. im
Kapuzinerkloster Münster von den örtlichen Polizeikräften festgenommen und in
Handschellen abgeführt. Der ghanaische Flüchtling war zuvor über Ungarn nach
Deutschland eingereist, wodurch nach den Regelungen der Dublin-III-Verord-
nung formell die Zuständigkeit für sein Asylverfahren zunächst bei Ungarn lag.
Dem 31-Jährigen war seit Juli 2016 in dem Kloster unter Berufung auf das Vor-
liegen eines besonderen Härtefalls Kirchenasyl gewährt worden, insbesondere da
in Ungarn keine adäquate Behandlung des herzkranken Ghanaers gewährleistet
sei (http://kirchensite.de/index.php?id=news-aktuelles&tx_ttnews%5Btt_news%
5D=19851&cHash=2485187a0f).
Nach eigenen Angaben hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) im Vorfeld der Inhaftierung keine Härtefallprüfung vorgenommen, son-
dern gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde die Abschiebungsanordnung
nach Ungarn aufrechterhalten und diese für vollziehbar erklärt. Auf Grundlage
dieser Erklärung des BAMF hatte das Amtsgericht Münster dann Abschiebehaft
für I. A. angeordnet.
Das BAMF berief sich darauf, zum Anordnungszeitpunkt noch keine Unterlagen
bzw. kein Falldossier zur Überprüfung des Falls von I. A. erhalten zu haben. Man
sei insofern von dem vereinbarten Verfahren bei Kirchenasylfällen abge-
wichen (Gemeinsame Erklärung des BAMF und des Kreises Coesfeld vom
26. August 2016: www.kreis-coesfeld.de/nachrichten-details.html?tx_news_pi1
%5Bnews%5D=4282&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%
5Baction%5D=detail&cHash=91a667fc00621406ee80905c4aea5baf). Im Februar
2015 hatten Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche mit dem
BAMF vereinbart, dass für die Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften
die Möglichkeit bestehen soll, Einzelfälle, in denen besondere humanitäre Här-
ten gesehen werden, zur erneuten Überprüfung beim BAMF vorzutragen
(www.bamf.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/20160311-011-presse
mitteilung-bamf-leitung-kirchen.html).
Nach der Inhaftierung von I. A. gab das Verwaltungsgericht Münster am
23. August 2016 einem Eilantrag statt, dessen Abschiebung vorerst auszuset-
zen. Anschließend wurde I. A. aus der Abschiebehaft entlassen. Mittlerweile

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hat Deutschland im Rahmen des Selbsteintritts die Zuständigkeit für das Asyl-
verfahren von I. A. übernommen (http://kirchensite.de/index.php?id=news-
aktuelles&tx_ttnews%5Btt_news%5D=19851&cHash=2485187a0f).
Deutschland nimmt trotz durch Gerichte und Menschenrechtsorganisationen be-
stätigter gravierender Mängel im ungarischen Asylsystem noch immer Rücküber-
stellungen dorthin vor. Allerdings waren im Zeitraum von Januar bis Mai 2016
rund 64 Prozent der von Asylsuchenden gegen drohende Rücküberstellungen
nach Ungarn gestellten gerichtlichen Eilanträge erfolgreich: Von insgesamt
810 Anträgen wurde in 521 Fällen eine Rücküberstellung gerichtlich gestoppt
(vgl. Bundestagsdrucksache 18/9415, Antwort zu Frage 11).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwieweit soll nach dem Willen der Bundesregierung an der bisherigen zwi-

schen Vertretern der Kirchen und des BAMF vereinbarten Handhabung von
Kirchenasylfällen festgehalten werden, und welche eventuellen Abweichun-
gen sind zukünftig aus welchen Gründen geplant?

2. Inwiefern lässt sich nach Auffassung der Bundesregierung die Festnahme
von I. A. mit der zwischen Kirchenvertretern und BAMF vereinbarten Ver-
fahrenspraxis vereinbaren?

3. Welchen Zeitraum hält die Bundesregierung für angemessen zur Zusammen-
stellung eines Einzelfalldossiers, in dem die Einzelheiten eines Härtefalls
dargelegt werden müssen und die Unzumutbarkeit einer Rücküberstellung
bzw. Abschiebung dargelegt werden muss (bitte entsprechende Erfahrungs-
werte aus der Vergangenheit angeben)?

4. Inwiefern und aus welchen Überlegungen und Gründen heraus hält es die
Bundesregierung für angemessen und sachgerecht, die Anordnung einer Ab-
schiebung gegenüber den zuständigen Ausländerbehörden für vollziehbar zu
erklären, ohne vorherige Rücksprache mit den mit dem Fall befassten und
für die Erstellung des Dossiers verantwortlichen Personen und Institutionen
zu halten, etwa darüber, wann und inwiefern mit einem Dossier zum Einzel-
fall zu rechnen ist?
a) Inwiefern wurde im Fall von I. A. eine solche Rücksprache vor der Voll-

ziehbarerklärung der Abschiebungsanordnung gehalten, und welche In-
formationen wurden dem BAMF übermittelt?
Inwieweit hatte das BAMF von dem Kirchenasyl Kenntnis bzw. war es
über die näheren Umstände des Falles informiert, als es die Ausländerbe-
hörde über die Vollziehbarkeit der Überstellung informierte?

b) Falls nicht erfolgt, aus welchen Gründen ist eine solche Rücksprache un-
terblieben?

c) Inwieweit ging nach Kenntnis der Bundesregierung die Initiative zur
Durchsetzung der Überstellung von der zuständigen Ausländerbehörde
bzw. vom BAMF aus (bitte den Ablauf der Ereignisse präzise und im De-
tail nachvollziehbar darstellen)?

5. Inwiefern, durch wen und zu welchem Zeitpunkt hat das BAMF Kenntnis
von den Umständen der Festnahme von I. A. erhalten, und was war die Re-
aktion des BAMF darauf?

6. Inwiefern hat die Bundesregierung Kenntnis von weiteren Räumungen von
Kirchenasyl (bitte nach Möglichkeit nähere Umstände und weiteren Verfah-
rensgang angeben)?

7. Inwiefern hatte das BAMF auch ohne Vorliegen des entsprechenden Dos-
siers Kenntnis über die Herzerkrankung von I. A.?

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8. Wie bewertet die Bundesregierung die bisherigen Erfahrungen mit dem Kir-
chenasyl in Deutschland, und welche Schlussfolgerungen zieht sie hieraus?

9. Gab oder gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung Überlegungen oder
Vorstöße zu einem mit dem Kirchenasyl vergleichbaren Asyl in Moscheen,
Synagogen oder Räumlichkeiten anderer Religionsgemeinschaften (bitte
ggf. Umfang und Erfahrungswerte anführen und allfällige Handhabungen er-
läutern)?

10. Unter welchen Umständen bzw. aufgrund welcher Entwicklungen würde
Deutschland einen Rücküberstellungsstopp nach Ungarn erwägen?
a) Auf Basis welcher Quellen und Erwägungen entscheidet Deutschland

über die Rechtmäßigkeit von Rücküberstellungen nach Ungarn, und er-
folgt eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit in gewissen Zeitabständen
(welchen) oder anlassbezogen?

b) Inwieweit wird dabei berücksichtigt, dass die Verwaltungsgerichte mitt-
lerweile in 64 Prozent der entschiedenen einstweiligen Rechtsschutzan-
träge eine Überstellung nach Ungarn vorläufig untersagen (siehe Vorbe-
merkung), und in welchen anderen Gebieten staatlichen Handelns gibt es
vergleichbar hohe Quoten, mit denen Behördenbescheide korrigiert oder
aufgehoben werden (zumindest auf der Basis der vorläufigen, d. h. nicht
rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen)?

c) Inwieweit wird dabei berücksichtigt, dass die Europäische Kommission
gegen Ungarn zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat,
insbesondere auch in Bezug auf maßgebliche EU-Asylrichtlinien (vgl.
http://ec.europa.eu/atwork/applying-eu-law/infringements-proceedings/
infringement_decisions/index.cfm?lang_code=DE&r_dossier=&decision_
date_from=&decision_date_to=&EM=HU&DG=HOME&title=&submit
=Suche, bitte ausführen)?

d) Mit welcher Begründung folgt die Bundesregierung nicht dem Beispiel
Österreichs, der Niederlande und Schwedens, die Überstellungen nach
Ungarn seit Herbst 2015 ausgesetzt haben (vgl. Antwort zu Frage 11 auf
Bundestagsdrucksache 18/9338), und inwieweit und mit welchem Ergeb-
nis ist nach Kenntnis der Bundesregierung über den Überstellungsstopp
der drei Länder in EU-Gremien oder bilateral diskutiert worden (bitte aus-
führen)?

e) Aus welchen Erwägungen heraus stützt die Bundesregierung ihre Auffas-
sung, dass in Ungarn keine systemischen, einen Überstellungsstopp be-
gründenden Mängel im Asylsystem herrschen, maßgeblich darauf, dass
der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) noch
keine entsprechende generelle Empfehlung abgegeben habe (vgl. Antwort
zu Frage 5 auf Bundestagsdrucksache 18/9338), obwohl der UNHCR
grundsätzlich unmissverständliche Kritik am ungarischen Asylsystem ge-
äußert hat (z. B. www.unhcr-centraleurope.org/en/news/2015/unhcr-
urges-hungary-not-to-amend-its-asylum-system-in-a-rush-ignoring-
international-standards.html), und inwiefern wäre die Bundesregierung
bereit dazu, einen solchen Überstellungsstopp zu erlassen, wenn der UN-
HCR eine entsprechende Empfehlung abgibt (bitte begründen)?

f) Wann und durch wen (bitte Ausführungen etwa zur Beteiligung der Bun-
desministerien und der Integrationsbeauftragten des Bundes machen)
wird die Bundesregierung eine Verhandlungsposition zur Neuformu-
lierung der Dublin-Verordnung festlegen (vgl. Antwort der Bundesregie-
rung zu Frage 17 auf Bundestagsdrucksache 18/9415)?

Drucksache 18/9638 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
g) Inwieweit muss die Möglichkeit eines Selbsteintritts, jenseits der Frage
von Familienzusammenführungen, schon deshalb auch künftig rechtlich
gewährleistet sein, um der europäischen Rechtsprechung zu genügen,
welche vorschreibt, dass ein Selbsteintritt bei systemischen Mängeln im
Asylsystem zwingend zu erfolgen hat (vgl. Antwort zu Frage 5 auf Bun-
destagsdrucksache 18/9338) bzw. um der Bundesregierung auch zukünf-
tig solche humanitäre Entscheidung zu ermöglichen, wie sie Bundeskanz-
lerin Dr. Angela Merkel Anfang September 2015 zur Ermöglichung der
Einreise von Flüchtlingen aus Ungarn und Übernahme der Asylverfahren
getroffen hat (bitte ausführen)?

Berlin, den 14. September 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
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