BT-Drucksache 18/943

Mögliche erneute Überprüfung des Entzuges von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz und von fiktiven Nachversicherungen für Angehörige der Waffen-SS

Vom 25. März 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/943
18. Wahlperiode 25.03.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Petra Pau, Harald Petzold
(Havelland), Frank Tempel, Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche erneute Überprüfung des Entzuges von Leistungen nach dem
Bundesversorgungsgesetz und von fiktiven Nachversicherungen für Angehörige
der Waffen-SS

Wer für die Wehrmacht oder im Rahmen eines „militärähnlichen Dienstes“ für
das Deutsche Reich eine Gesundheitsbeschädigung erlitten hat, kann Leistungen
nach dem Bundesversorgungsgesetz beziehen. Das gilt auch für Angehörige der
Waffen-SS (SS – Schutzstaffel) und von Polizeibataillonen.
In den 1990er-Jahren hatte es eine öffentliche Debatte gegeben, weil es damals
zahlreiche Anträge von früheren Kollaborateuren aus Osteuropa gegeben hat,
darunter auch solcher, die sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatten. Dass
diese Nazihelfer Leistungen beziehen konnten, während es noch kaum Entschä-
digungen für osteuropäische NS-Opfer (NS – Nationalsozialismus) gab, sorgte
für erhebliche Empörung. Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 1998 in § 1a des
Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eine sog. Kriegsverbrecherklausel einge-
fügt, die vorsieht, dass bei Verstößen „gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlich-
keit oder der Menschlichkeit“ die Leistungen versagt werden.
Die Fraktion DIE LINKE. hatte sich zuletzt in zwei Kleinen Anfragen während
der 17. Legislaturperiode nach der Umsetzung dieser Ausschlussklausel erkun-
digt. Aus den Antworten der Bundesregierung (Bundestagsdrucksachen 17/6270
und 17/7708) ging hervor, dass von einem Gesamtbestand von 940 000 Versor-
gungsberechtigten (Stand 1998) bis zum Jahr 2010 lediglich 99 Personen die
Leistungen entzogen worden sind. Der Anteil der identifizierten Kriegsver-
brecher unter den Versorgungsberechtigten betrug damit circa 0,01 Prozent – aus
Sicht der Fragestellerinnen und Fragesteller ist es offensichtlich, dass damit nur
ein kleiner Teil der tatsächlichen Kriegsverbrecher ermittelt worden ist.
Die Bundesregierung hatte bei ihren Antworten auf objektive Schwierigkeiten
bei der Identifizierung von Kriegsverbrechern hingewiesen, da die Versorgungs-
akten diesbezüglich kaum konkrete Hinweise enthielten. Deswegen blieb es
neben einer Gesamtbestandsprüfung von 10 000 Personen, die sich freiwillig
zum Dienst in der Waffen-SS gemeldet hatten, bei einer Überprüfung auf der
Grundlage eines einfachen Namensabgleichs mit den Datenbeständen des
Simon Wiesenthal Centers, des Berlin Document Centers und der Zentralen Stelle
der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen
in Ludwigsburg.
Aus Sicht der Fragestellerinnen und Fragesteller bietet das Demjanjuk-Urteil
des Landgerichts (LG) München aber neue Möglichkeiten, § 1 BVG anzu-
wenden. Das LG München hatte den ukrainischen SS-Mann ohne konkreten
Tatnachweis der Beihilfe zum Mord für schuldig befunden, weil er an der Be-

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wachung des Vernichtungslagers Sobibór beteiligt war. Somit sei er „Teil der
Vernichtungsmaschinerie“ gewesen. Auf dieser Rechtsauffassung basieren auch
die seit Februar 2014 vorgenommenen Festnahmen von früheren Wächtern des
KZ Auschwitz.
Auf Grundlage dieses Urteils wäre aus Sicht der Fragestellerinnen und Frage-
steller zu prüfen, ob nicht weiteren der heute noch lebenden BVG-Leistungsbe-
ziehern die Leistungen entzogen werden können.
Gerade Angehörige osteuropäischer Polizeiverbände haben bei der Ermordung
der jüdischen Bevölkerung sowie bei der sog. Partisanenbekämpfung unter deut-
schem Kommando eine wichtige Rolle gespielt. Angehörige solcher Einheiten
waren ebenfalls Teil einer Vernichtungsmaschinerie, sodass ihnen unter Um-
ständen ebenfalls ohne individuellen konkreten Tatnachweis die Leistungen des
BVG zu entziehen sind. Die zuletzt auf Bundestagsdrucksache 17/7708 zum
Ausdruck gekommene Haltung, ein vollständiger Aktensturz verspreche keine
wesentlichen Erkenntnisse, die eine Leistungsversagung begründen könne,
muss daher ggf. aufgegeben werden.
Aus Sicht der Fragestellerinnen und Fragesteller ist es schon nicht nachvollzieh-
bar, dass Personen, die sich freiwillig zur Waffen-SS oder zu einem anderen Mi-
litärdienst für die Nazis gemeldet haben und damit dazu beitrugen, dass die Ver-
nichtungslager noch etwas länger betrieben werden konnten, überhaupt Leistun-
gen beziehen. Noch weniger nachvollziehbar wäre es, nicht alles zu versuchen,
um wenigstens die Kriegsverbrecher unter ihnen auszuschließen. Das gilt auch
hinsichtlich regulärer Rentenzahlungen an berufsmäßige oder freiwillig länger
dienende Angehörige der Waffen-SS, die für ihre Dienstzeit einen Anspruch auf
fiktive Nachversicherung haben.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie hat sich seit dem Jahr 2010 die Gesamtzahl der rechtskräftigen Ver-

sagungen und Entziehungen nach § 1a BVG entwickelt?
2. Wie viele versorgungsberechtigte Beschädigte und Hinterbliebene gibt es

gegenwärtig insgesamt (bitte möglichst nach Bundesländern aufschlüsseln)?
Nach welchen Kriterien werden die Zuständigkeiten der Bundesländer für im
Ausland lebende Beschädigte und Hinterbliebene geregelt (bitte soweit mög-
lich für die betroffenen Länder aufgliedern)?

3. Welche Kriterien wurden von den Versorgungsämtern bislang für eine Leis-
tungsversagung nach § 1a BVG zugrunde gelegt?
a) Ist dafür regelmäßig eine rechtskräftige Verurteilung erforderlich, oder ge-

nügen auch schwerwiegende diesbezügliche Indizien, die sich aus den
Akten ergeben?

b) Welche einschlägige Rechtsprechung gibt es nach Kenntnis der Bundes-
regierung zu dieser Frage (bitte die Aktenzeichen der wichtigsten Urteile
nennen)?

4. Inwiefern schließt sich die Bundesregierung dem Gedanken der Fragestelle-
rinnen und Fragesteller an, es sei jedenfalls bezüglich bestimmter Einheiten
der Hilfs- oder Ordnungspolizei, Schutzmannschaften usw. in Osteuropa, die
nach Erkenntnissen der historischen Forschung an Verbrechen beteiligt
waren, denkbar, deren Angehörigen auch ohne individuell-konkreten Tat-
nachweis nach § 1a BVG die Leistungen zu entziehen, weil sie Teil einer Ver-
nichtungsmaschinerie waren (bitte begründen)?
a) Welche diesbezüglichen rechtlichen und praktischen Erwägungen hat sie

diesbezüglich angestellt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/943
b) Inwiefern hat sie diese Frage mit den Bundesländern erörtert, und welche
Schlussfolgerungen wurden dabei gezogen?

5. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung anhand des nach dem im Jahr 1998
erfolgten Abgleichs der Namen der Versorgungsberechtigten mit den Unter-
lagen des Simon Wiesenthal Centers, des Berlin Document Centers und der
Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung national-
sozialistischer Verbrechen gewährleistet, dass sämtliche Leistungsbezieher,
die das sog. Bandenbekämfungsabzeichen erhalten haben und/oder Ange-
hörige bestimmter Polizei- und SS-Bataillone waren, auch den Versor-
gungsämtern bekannt sind?
Wenn nein, enthalten die Versorgungsakten selbst nach Kenntnis der Bun-
desregierung zumindest teilweise Hinweise darauf,
a) in welchen Zeitabschnitten die Leistungsbezieher bestimmten Polizei-

oder SS-Formationen angehört haben,
b) ob den Leistungsbeziehern das sog. Bandenbekämpfungsabzeichen ver-

liehen wurde,
so dass es möglich wäre, jedenfalls Indizien für ihre Anwesenheit an Schau-
plätzen von Kriegsverbrechen bzw. Verbrechen gegen die Menschheit zu er-
halten?
Wenn ja, inwiefern haben die Versorgungsämter nach Kenntnis der Bundes-
regierung nach dem Demjanjuk-Urteil die Versorgungsakten erneut über-
prüft, um anhand der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Polizeiformation
während eines bestimmten Zeitabschnitts oder der Verleihung des „Banden-
bekämpfungsabzeichens“ ggf. Leistungsversagungen wegen des dringen-
den Verdachts auszusprechen, die Leistungsbezieher seien Teil einer Ver-
nichtungsmaschinerie gewesen?

6. Falls nicht gewährleistet ist, dass den Versorgungsbehörden vollständig be-
kannt ist, welche Leistungsbezieher in welchen Zeitabschnitten bestimmten
Polizeieinheiten angehörten und/oder das „Bandenbekämpfungsabzeichen“
erhalten haben, welche Maßnahmen könnten aus Sicht der Bundesregierung
ergriffen werden, um die Versorgungsbehörden in eine entsprechende
Kenntnis gelangen zu lassen, und was will sie diesbezüglich unternehmen
(falls sie nichts unternehmen will, bitte begründen)?

7. Hat die Bundesregierung den Bundesländern nach dem Demjanjuk-Urteil
konkrete Angebote gemacht, die Akten im Sinne der obigen Ausführungen
der Fragesteller erneut zu prüfen, wenn ja, wie haben die Bundesländer da-
rauf reagiert, und wenn nein, warum nicht?

8. Welche weiteren Schlussfolgerungen hinsichtlich des BVG zieht die Bun-
desregierung aus der Begründung des Demjanjuk-Urteils?

9. Ist die Bundesregierung der Auffassung, der Anspruch berufsmäßiger oder
freiwillig länger dienender Angehöriger der Waffen-SS auf fiktive Nachver-
sicherung in der Rentenversicherung sei angemessen, angesichts des Leids,
das die Waffen-SS über Millionen unschuldiger Menschen gebracht hat
(bitte begründen)?

10. Wie viele Angehörige der früheren Waffen-SS erhalten für ihre Dienstzeit
fiktive Nachversicherungen?

11. Wie hoch sind die daraus entstehenden Rentenanwartschaften im Durch-
schnitt?

12. Welche finanzielle Belastung ergibt sich hieraus für die Rentenkassen?
13. Warum wird die Nachversicherung versagt, wenn das Ausscheiden aus der

Waffen-SS „in Unehren erfolgte“ (vgl. DRV R3.10.3)?

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a) Inwiefern ist es aus Sicht der Bundesregierung berechtigt, einen SS-Frei-
willigen, der einen Dienst zur Zufriedenheit der Nazis verrichtet hat, bes-
serzustellen als einen SS-Angehörigen, der von den Nazis „in Unehren“
entlassen wurde, weil er womöglich nicht die erwünschte Mordlust ge-
zeigt hat, mit den Opfern sympathisiert hat, desertiert ist usw.?

b) Beabsichtigt die Bundesregierung, diese Regelung zügig zu überarbei-
ten, und wenn ja, inwiefern, und bis wann?

14. Welche Möglichkeiten gibt es, Personen von der Nachversicherung jeden-
falls für solche „Beschäftigungsverhältnisse“ auszuschließen, die sie für die
Begehung von Kriegsverbrechen genutzt haben?
a) Wie oft wurde in der Vergangenheit von dieser Möglichkeit Gebrauch

gemacht?
b) Welche Mechanismen gibt es für eine entsprechende Überprüfung?
c) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung diesbezüglich aus

dem Demjanjuk-Urteil?

Berlin, den 25. März 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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