BT-Drucksache 18/9394

Schutz vor Nadelstichverletzungen in Gesundheitsversorgung und Pflege

Vom 9. August 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9394
18. Wahlperiode 09.08.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Wöllert, Pia Zimmermann, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, Cornelia Möhring, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Schutz vor Nadelstichverletzungen in Gesundheitsversorgung und Pflege

Nadelstichverletzungen (NSV) zählen zu den häufigsten Arbeitsunfällen von Be-
schäftigten im Gesundheitswesen und in der Pflege (www.dgch.de/fileadmin/
media/pdf/servicemeldungen/062_Nadelstichverl_Leitfaden.pdf). Unter diesem
Begriff werden gefährliche Verletzungs- und Kontaktarten – das sind Stiche,
Schnitte, Sekretspritzer in Auge und Mund sowie infektiöse Kontakte mit Haut
und Schleimhaut – in der Gesundheitsversorgung zusammengefasst.
In Deutschland geht man allein im stationären Bereich jährlich von mindestens
500 000 Verletzungen aus. Schätzungen besagen, dass sich jeder Beschäftigte im
Durchschnitt mindestens alle zwei Jahre sticht oder schneidet (www.nadelstich-
verletzung.de/nadelstichverletzungen.html). Experten sprechen auch davon, dass
bis zu 90 Prozent der tatsächlichen Verletzungsfälle nicht oder nicht ordnungsge-
mäß gemeldet werden (Wicker, Allwinn et al. „Häufigkeit von Nadelstichverlet-
zungen in einem deutschen Universitätsklinikum ...“, Zentralblatt für Arbeitsme-
dizin, Arbeitsschutz und Ergonomie, Februar 2007, Band 57/2, S. 42 bis 49). Der
Anteil dieses sogenannten Underreportings sei in Deutschland mit fast 90 Prozent
besonders hoch (S. Wicker, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 104, Ausgabe 45/2007,
S. A 3103). Neben der Gesundheitsgefährdung für Patienten, Menschen mit Pfle-
gebedarf und Beschäftigte und den oft chronischen gesundheitlichen Schäden in-
folge solcher Verletzungen entstehen dem Sozialversicherungssystem hohe, aber
vermeidbare finanzielle Belastungen.
Am 1. Juni 2010 wurde die Richtlinie 2010/32/EU zur Vermeidung von Verlet-
zungen durch scharfe bzw. spitze Instrumente im Krankenhaus- und Gesund-
heitssektor verabschiedet. Sie sieht unter anderem vor, dass Beschäftigten im Ge-
sundheitssektor sichere Instrumente zur Verfügung gestellt und sie ausreichend
im Umgang mit den Instrumenten geschult werden müssen. In Deutschland wurde
diese Richtlinie im Jahr 2013 über eine Novellierung der Biostoffverordnung
(BioStoffV) umgesetzt. Umsetzungsinstrument dieser Biostoffverordnung sind
seit dem Jahr 2003 die „Technischen Regeln für Biologische Arbeitsstoffe“
(TRBA). Diese Regeln wurden mehrfach angepasst. Bereits seit August 2007 sind
herkömmliche spitze und scharfe Arbeitsgeräte, wenn immer technisch möglich,
durch Instrumente mit Sicherheitsvorrichtung zu ersetzen, um Beschäftigte vor
Nadelstichverletzungen zu schützen (Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheits-
wesen und in der Wohlfahrtspflege – TRBA 250, Nummer 4.2.5). Durchschnitt-
lich 50 Prozent der Verletzungen könnten nach der sogenannten Frankfurter Na-
delstichstudie durch sichere Instrumente vermieden werden. (S. Wicker, in: Deut-
sches Ärzteblatt, Jg. 104, Ausgabe 45/2007 S. A 3106). Seit dem Jahr 2008 darf

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ein Arbeitgeber auch dann nicht mehr auf verletzungssichere Instrumente ver-
zichten, wenn er sichere Arbeitsabläufe festlegt, die das Verletzungsrisiko mini-
mieren. Seit dem Jahr 2014 sind in allen Tätigkeiten, in denen eine Infektionsge-
fahr besteht oder auch nur angenommen werden kann, sichere Instrumente sowie
der Einsatz von geschultem Personal in ausreichender Anzahl vorgeschrieben.
Die TRBA 250 gilt auch für stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen. Nach
einer Umfrage der Initiative „Safety First!“ im Jahr 2014 hat sich jedoch über die
Hälfte (58,9 Prozent) der befragten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Al-
tenpflege an einem scharfen oder spitzen medizinischen Instrument verletzt,
www.nadelstichverletzung.de/media/148/Auswertung_Umfrage_Nadelstichver
letzungen_in_der_Altenpflege.pdf. Fast alle Befragten (94,1 Prozent) kennen die
möglichen Folgen einer Nadelstichverletzung. Instrumente mit Sicherheitsme-
chanismus werden jedoch nur bei weniger als einem Drittel der Befragten tatsäch-
lich eingesetzt. Zwei Drittel der Pflegekräfte können die eingesetzten Arbeitsmit-
tel nicht selbst wählen, da sie in der Regel durch den Hausarzt patientenindividu-
ell verordnet werden. Diese Instrumente, wie z. B. Pen-Nadeln für die Insulinin-
jektion, werden dann in der Häuslichkeit aufbewahrt, aber durch Dritte – die Be-
handlungs- oder Pflegekräfte – angewandt, weil schwerstkranke oder sehr alte
pflegebedürftige Menschen diese selbst nicht handhaben können. Daraus entste-
hen Gefährdungssituationen, Konflikte zwischen den Anforderungen des Arbeits-
schutzrechts und dem Versicherungsrecht sowie entsprechende Abrechnungs-
probleme. Einige Krankenkassen wie die BARMER GEK und die AOK Rhein-
land/Hamburg weigern sich, Sicherheitsinstrumente im Rahmen der Hilfsmittel-
versorgung nach § 33 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) zu erstat-
ten, wie aus Schreiben des Hessischen Apothekerverbands e. V. und der Kassen-
ärztlichen Vereinigung Niedersachsen hervorgeht, die den Fragenstellenden vor-
liegen. Sie begründen dies damit, dass Sicherheitsinstrumente primär dem Ar-
beitsschutz und nicht der medizinischen Versorgung dienen und diese damit nicht
in der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung liegen. Bei ande-
ren gesetzlichen Krankenkassen wiederum scheint die Erstattung möglich zu sein.
Hauptursache für Arbeitsunfälle bleibt die hohe Arbeitsdichte infolge Personalman-
gels, die Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegerinnen und Pfleger bewältigen müssen.
Eine entscheidende Rolle spielt offensichtlich aber auch die Art der Einrichtung, in
der die Beschäftigten arbeiten. Während im Krankenhaus die Versorgung mit Si-
cherheitsprodukten meist selbstverständlich ist, scheint dies in Pflegeheimen und
vor allem in der ambulanten Pflege nicht so zu sein (www.nadelstichverletzung.
de/besonderheiten_altenpflege.html). Die zunehmende sogenannte Ambulantisie-
rung der Versorgung erfordert jedoch auch im ambulanten Sektor und in allen Pfle-
geeinrichtungen einen wirksamen Schutz vor vermeidbaren, gefährlichen Verlet-
zungen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Anzahl gemeldeter Ar-

beitsunfälle infolge von Nadelstichverletzungen seit dem Jahr 2007 (wenn
möglich bitte nach Krankenhäusern, Arztpraxen, stationären und ambulanten
Pflegediensten unterscheiden)?

2. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil von Arbeitsun-
fällen, bei denen sich Pflegekräfte an bereits benutzten Injektionsnadeln ver-
letzt haben?

3. Wie viele Beschäftigte waren nach Kenntnis der Bundesregierung wegen
derartiger Verletzungen arbeitsunfähig, und wie viele waren länger als sechs
Wochen krankgeschrieben?

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4. Wie viele Beschäftigte und wie viele Patienten bzw. Menschen mit Pflege-
bedarf haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung infolge solcher Ver-
letzungen mit HIV oder Hepatitis C infiziert?

5. Wie viele Beschäftigte wurden nach Kenntnis der Bundesregierung infolge
derartiger Arbeitsunfälle als berufsunfähig, teilweise erwerbsunfähig oder
erwerbsunfähig durch die zuständigen Unfallversicherungen anerkannt?

6. Wie viele Anträge auf Berufs- und bzw. oder Erwerbsunfähigkeit wurden
nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Jahr 2007 jährlich gestellt, und
wie hoch ist die Ablehnungsrate?

7. Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Jahr 2003 die
jährlichen Ausgaben der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und
Wohlfahrtspflege (BGW) für Heilbehandlungen bei durch Blut übertragenen
Virusinfektionen (bitte nach Heilbehandlung, beruflichen Rehabilitations-
maßnahmen und Rentenzahlungen unterscheiden)?

8. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die durchschnittliche
Höhe entstehender Kosten durch eine gemeldete NSV vor?

9. Wie viele Klagen gab es nach Kenntnis der Bundesregierung seit dem Jahr
2007 im Zusammenhang mit Verletzungen durch Injektionsnadeln oder feh-
lenden sicheren Instrumenten und daraus folgenden Infektionen?

10. Aus welchen Gerichtsentscheidungen erwächst nach Auffassung der Bun-
desregierung Handlungsbedarf, und welche Schlussfolgerungen zieht die
Bundesregierung aus dieser Rechtsprechung?

11. In welcher Form werden nach Kenntnis der Bundesregierung Daten zu der-
artigen Verletzungen erfasst, und welche Maßnahmen hält die Bundesregie-
rung zur Verbesserung der Datenlage für erforderlich?

12. Welche Handlungserfordernisse zeichnen sich nach Auffassung der Bundes-
regierung aus den vorliegenden Daten speziell für die ambulante und statio-
näre Altenpflege ab?

13. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Prüfpraxis vor, insbe-
sondere über Häufigkeit und Art der Prüfungen zur Umsetzung von Arbeits-
schutzvorschriften und der TRBA in der ambulanten Krankenpflege sowie
in Pflegeeinrichtungen, und welche potentiellen Verletzungsrisiken wurden
jeweils am häufigsten festgestellt?

14. Wie wird nach Kenntnis der Bundesregierung die Verfügbarkeit von Arbeits-
schutzmaterialien in Pflegeeinrichtungen geprüft, und welche Erkenntnisse
liegen dazu vor, ob den Pflegekräften jederzeit vorschriftsmäßige Materia-
lien zum Arbeitsschutz in ausreichender Menge zur Verfügung stehen?

15. Stehen nach Kenntnis der Bundesregierung dem medizinischen und pflege-
rischen Personal in allen Krankenhäusern, stationären Pflegeeinrichtungen
und ambulanten Versorgungssituationen bedarfsdeckend Sicherheitskanülen
für Injektionen oder zum Anlegen venöser Zugänge zur Verfügung?

16. In welchen Behandlungssituationen müssen für Beschäftigte in der Alten-
pflege Sicherheitskanülen zwingend zur Verfügung gestellt werden?
Wer ist für die Bereitstellung dieser Produkte verantwortlich?

17. Gilt nach Auffassung der Bundesregierung die Sicherheitskanüle rechtlich in
allen Versorgungsbereichen einheitlich als Hilfsmittel oder als Arbeitsmit-
tel?
Welche Begründung liegt dieser Klassifizierung zugrunde, und in welchen
rechtlichen Vorschriften ist diese geregelt?

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18. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über unterschiedliche Ver-

fahren zur Erstattung durch Krankenversicherungen vor, wenn Sicherheits-
kanülen in der Pflege vom Hausarzt als Hilfsmittel verordnet werden (bitte
nach privaten Versicherungsunternehmen und gesetzlichen Krankenkassen
unterscheiden)?

19. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den Ablehnungen
einiger Krankenkassen zur Kostenerstattung mit der Begründung, es handele
sich bei Sicherheitskanülen nicht um ein Hilfs-, sondern um ein Arbeitsmittel
(vgl. Vorbemerkung)?

20. Welche Möglichkeiten haben nach Kenntnis der Bundesregierung Beschäf-
tigte, um sichere Arbeitsbedingungen und entsprechende Arbeitsschutzmaß-
nahmen auch bei fehlendem Betriebs- oder Personalrat einzufordern?

21. Welche Institutionen können in welcher Weise Verstöße einer Gesundheits-
oder Pflegeeinrichtung gegen die Arbeitsschutzrichtlinien und die TRBA
sanktionieren?

22. Wie viele Einrichtungen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung auf-
grund solcher Verstöße seit dem Jahr 2007 tatsächlich sanktioniert (bitte
nach Jahren aufschlüsseln)?

23. Welche Projekte, einschließlich Forschungsvorhaben, hat die Bundesregie-
rung aufgelegt oder gefördert, um Regelungslücken zu schließen, die Daten-
lage zu verbessern und in Kooperation der zuständigen Bundesministerien
für Gesundheit sowie Arbeit und Soziales bundeseinheitliche Regelungen
umzusetzen?

Berlin, den 9. August 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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