BT-Drucksache 18/9054

Damit Kinder gut aufwachsen - Kinderschutz und Prävention ausbauen

Vom 6. Juli 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/9054
18. Wahlperiode 06.07.2016
Antrag
der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, Katja Dörner, Ulle Schauws, Doris
Wagner, Kordula Schulz-Asche, Dr. Harald Terpe, Beate Walter-Rosenheimer,
Elisabeth Scharfenberg, Kai Gehring, Maria Klein-Schmeink, Tabea Rößner,
Kerstin Andreae, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, Markus Kurth, Beate
Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer, Corinna Rüffer, Dr. Julia Verlinden
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Damit Kinder gut aufwachsen – Kinderschutz und Prävention ausbauen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Kinder haben das Recht, vor Vernachlässigung, emotionaler und körperlicher Miss-
handlung oder sexuellem Missbrauch geschützt zu werden. Sie gehören zu den
schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft. Ihr Aufwachsen muss bestmöglich
unterstützt werden, sie sollen bestmöglich geschützt und ihre Rechte geachtet wer-
den.
Immer wieder werden wir durch Berichte über Gewalt, Übergriffe oder Vernachläs-
sigung alarmiert und entsetzt. Deshalb sollte der Schutz von Kindern und Jugendli-
chen vor körperlicher, sexualisierter Gewalt und Vernachlässigung kontinuierlich
höchste Priorität haben und fortwährend weiterentwickelt werden. Auch wenn die
gesellschaftliche Sensibilität für diese dramatischen Fälle von Kinderrechtsverlet-
zungen in den vergangenen Jahren zugenommen hat, so wird jedoch die wahre Di-
mension bzw. das Ausmaß der Probleme bis heute nicht gesehen.
Beim Kinderschutz muss es zudem um mehr gehen, als um die Verhinderung von
Kindeswohlgefährdungen. Ein wirksamer Kinderschutz erfordert öffentliche Ver-
antwortung, die alle gesellschaftlichen Kräfte einbezieht, so dass Kinder und Jugend-
liche gut, gesund und glücklich aufwachsen können. Gesundheit ist dabei nicht nur
auf die bloße Abwesenheit von Krankheit beschränkt. Gesundheit ist sowohl körper-
liches als auch geistig-seelisches und soziales Wohlbefinden. Und sie ist die Fähig-
keit zur aktiven Bewältigung der Anforderungen in den verschiedenen Bereichen der
Alltagswelten.
In den zurückliegenden Jahren hat sich der Kinderschutz erheblich weiterentwickelt.
Dazu hat eine Vielzahl gesetzlicher Reformen und Maßnahmen beigetragen: Das
Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung, das Kinder- und Jugendhilfewei-
terentwicklungsgesetz, das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnah-
men bei Gefährdung des Kindeswohls oder das Kinderförderungsgesetz (KiföG), um
nur einige Beispiele zu nennen.

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Zur Umsetzung wurden zwei Aktionspläne „Zum Schutz von Kindern und Jugend-
lichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“ aufgelegt. Auch der Runde Tisch „Se-
xueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten
und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ hat vieles auf den Weg
gebracht. Besonders zu erwähnen ist das Bundeskinderschutzgesetz. Auch dieses
Gesetz hat für die frühen Hilfen, für die Prävention und Intervention im Kinder-
schutz erkennbare Verbesserungen gebracht. Das zeigt auch die Evaluation der Wir-
kungen des Gesetzes.
Dennoch klaffen zwischen den gesetzlichen Regelungen und dem damit verbunde-
nen Anspruch und der Praxis vor Ort weiterhin erhebliche Lücken. Die Fallzahlen
aller Formen der Misshandlung von Kindern sind nach wie vor hoch und dabei nur
begrenzt aussagekräftig, da die Dunkelziffer erheblich ist. Nach Aussagen des Un-
abhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs könnten in
Deutschland rund eine Million Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sein
(vgl. Pressemitteilung und Forderungskatalog „Forschung zu sexuellem Miss-
brauch – Vom Tabu zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe“ des Unabhängigen Be-
auftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, 22.02.2016). Daher gibt es
nicht den geringsten Anlass, in den Bemühungen für einen besseren Schutz von Kin-
dern und Jugendlichen nachzulassen. Auch die Evaluation des Bundeskinderschutz-
gesetzes zeigt, dass trotz erkennbarer Wirkungen an einigen Stellen nachgebessert
werden muss.
So zeichnete sich schon in den Debatten vor der Verabschiedung des Bundeskinder-
schutzgesetzes ab, wie wichtig die Kooperation der unterschiedlichen Akteure für
den Kinderschutz ist. Dies gilt insbesondere für die Zusammenarbeit von Fachkräf-
ten aus dem Gesundheitswesen und den zuständigen Einrichtungen der Kinder- und
Jugendhilfe.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einzubringen, mit dem
1. die Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitswesen ein-

schließlich Qualitätsvorgaben und Finanzierungsmöglichkeiten verbindlicher
geregelt wird. Dabei ist den unterschiedlichen Voraussetzungen der Fachkräfte
im Gesundheitswesen (niedergelassene Ärzte, Fachkräfte in den Krankenhäu-
sern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Gesundheitsdienste etc.)
Rechnung zu tragen.
In § 3 Absatz 2 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinder-
schutz (KKG) wird eine Regelung vorgesehen, die sicherstellt, dass die Landes-
ärztekammern Vertreter in landesweite und kommunale Netzwerke frühe Hilfen
entsenden. Dabei ist eine angemessene Aufwandsentschädigung vorzusehen.
Für die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Beteiligung an Fallkonferen-
zen wird eine Regelung vergleichbar mit der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung
oder der besonders qualifizierten ambulanten onkologischen Versorgung im
Sinne einer Gesamtvergütung im Bundesmantelvertrag geschaffen. Dabei ist
auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft einzubeziehen;

2. bei der Regelung zur Betriebserlaubniserteilung bei Einrichtungen (§ 45 SGB
VIII) klargestellt wird, dass sich die Vorgaben auch auf bereits bestehende, nicht
nur auf neue Einrichtungen beziehen;

3. auch freie Träger der Jugendhilfe in die Pflicht zur Qualitätsentwicklung (§§ 79,
79a SGB VIII) einbezogen werden;

4. die Regelung zur Vorlage des erweiterten Führungszeugnisses für ehrenamtlich
Engagierte praktikabler gestaltet und entbürokratisiert wird, sodass unnötige
Hürden für die Engagierten – bei gleichzeitig hohen Kinderschutzstan-

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dards – vermieden werden. Durch eine bereichsspezifische Auskunft des Bun-
deszentralregisters zu Einträgen der in § 72a Absatz 1 Satz 1 SGB VIII benann-
ten Straftatbestände könnte künftig die Vorlage eines kompletten erweiterten
Führungszeugnisses ersetzt werden (sog. Negativ-Attest). Die Vorlagever-
pflichtung ist für bereits hauptberuflich Beschäftigte arbeitsrechtlich verbindlich
zu gestalten;

5. der Beratungsanspruch für Kinder und Jugendliche (§ 8 Absatz 3 SGB VIII) zu
einem bedingungslosen Beratungsanspruch für Kinder und Jugendliche (d. h.
auch unabhängig vom Vorliegen einer Konflikt- oder Krisenprävention) weiter-
entwickelt wird

und darüber hinaus
6. auf die Bundesländer einzuwirken, um den bedarfsgerechten Ausbau der Fach-

beratungsstellen bei sexueller Gewalt an Kindern (vor allem in ländlichen Regi-
onen) voranzubringen und personell abzusichern. Dabei ist darauf zu achten,
dass die Angebote niedrigschwellig, inklusiv und barrierefrei sind und dass die
verschiedenen Adressatengruppen im Bereich der Prävention und des Kinder-
schutzes (unmittelbar Betroffene, Angehörige von Betroffenen, Mädchen und
Frauen, Jungen und Männer, Fachkräfte aus den unterschiedlichen Handlungs-
feldern etc.) ein passendes Angebot bekommen. Zudem ist der notwendige Aus-
bau auf Bundesebene durch die geplante Bundeskoordinierung zu flankieren
und es ist zu prüfen, inwieweit sich der Bund an der Finanzierung beteiligen
kann;

7. auf die Bundesländer einzuwirken, Beratungsangebote für Kinder- und Jugend-
ärztinnen und -ärzte, Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater und
Psychotherapeutinnen und -therapeuten zu schaffen, die deren zeitlichen und
fachlichen Bedürfnisse berücksichtigen;

8. gemeinsam mit den Bundesländern niedrigschwellige und multidisziplinäre Be-
ratungs- und Hilfsangebote für Eltern im Kontext der Regelangebote von Kin-
dern (Kindertagesbetreuung und Schule) auszubauen und die bedarfsgerechte
Einrichtung von Familienzentren zu fördern;

9. auf die Bundesländer einzuwirken, die Beratungs- und Hilfsangebote für sexuell
übergriffige Kinder- und Jugendliche auszubauen;

10. sicherzustellen, dass die Bundesinitiative Frühe Hilfen und Familienhebammen
zeitnah und nahtlos abgelöst wird durch den in § 3 Absatz 4 des Gesetzes zur
Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vorgesehenen Fonds Frü-
he Hilfen;

11. Maßnahmen zu ergreifen, um die weiteren – im Bundeskinderschutzgesetz als
Kooperationspartner benannten – Akteure wie Schulen und Polizeibehörden
stärker einbinden zu können;

12. zu prüfen, inwieweit die jeweiligen Kinderschutzinstrumente für andere institu-
tionelle Kontexte außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe (wie beispielsweise
Kinderkliniken, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderkurkliniken, Schulen,
Musikschulen, Sportvereine, private Kultur- und Freizeitanbieter) eingeführt
werden können;

13. sich bei den Ländern dafür einzusetzen, dass in allen Bundesländern bedarfsge-
recht interdisziplinäre Kinderschutzgruppen an Kliniken nach österreichischem
Vorbild eingerichtet werden, die zeitnah diagnostische Abklärung und medizi-
nische Hilfe für betroffene Kinder und Jugendliche anbieten und Unterstützung
bei Maßnahmen und Entscheidungen zur Vermeidung weiterer Kindeswohlge-
fährdungen leisten. Dazu gehören auch niedrigschwellige und nicht stigmatisie-
rende Beratungsangebote für Eltern. Zur Anschubfinanzierung der Einrichtun-
gen solcher Kinderschutzgruppen soll das Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ein Modellprogramm einrichten.

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Darüber hinaus muss die Möglichkeit geschaffen werden, auch die ambulante
Behandlung im Zusammenhang mit Kinderschutzfällen über die gesetzliche
Krankenversicherung abrechnen zu können;

14. sich bei den Ärztekammern dafür einzusetzen, dass für bestimmte Facharztgrup-
pen (wie z. B. aus den Bereichen Kinder- und Jugendmedizin, Kinder- und Ju-
gendpsychiatrie, Psychotherapie, Gynäkologie) regelmäßige Fortbildungen zu
medizinischen und rechtlichen Fragen beim Umgang mit Kinderschutzfällen an-
geboten werden und die Teilnahme daran in bestimmtem Umfang verpflichtend
wird;

15. sich bei den Psychotherapeutenkammern dafür einzusetzen, dass für bestimmte
Psychotherapeutengruppen, insbesondere Kinder- und Jugendlichenpsychothe-
rapeutInnen und psychologische PsychotherapeutInnen, die die Fachkunde zur
Behandlung von Kindern und Jugendlichen erworben haben oder erwerben wol-
len, regelmäßige Fortbildungen zu medizinischen und rechtlichen Fragen beim
Umgang mit Kinderschutzfällen angeboten werden und die Teilnahme daran in
bestimmtem Umfang verpflichtend wird;

16. gemeinsam mit den Bundesländern darauf hinzuwirken, dass angemessene und
kontinuierliche Schulungen für Berufsgruppen aus dem Justizbereich ein-
schließlich der Familienrichter und Gutachter angeboten werden, um die Be-
rücksichtigung des Kindeswohls zu verbessern;

17. in Kindschaftssachen Qualitätsanforderungen für Sachverständige und Verfah-
rensbeistände gesetzlich vorzugeben;

18. den fachlichen Diskurs zur Weiterentwicklung der Definition des Kindeswohls
zu fördern und dabei eine stärkere Kinderrechtsorientierung zu berücksichtigen
und zu prüfen, ob ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf vorliegt;

19. Maßnahmen zu ergreifen, damit Kinder besser über ihre Rechte informiert sind
und damit das Bewusstsein über die Verletzung von Rechten von Kindern und
Jugendlichen zu schärfen;

20. ein Konzept für ein umfassendes und funktionsfähiges Beschwerdemanage-
mentsystem für Kinder, Jugendliche und Eltern im Rahmen eines evaluierten
Modellprojektes zu entwickeln, welches u. a. Ombudschaften in der Kinder- und
Jugendhilfe und ggf. einrichtungsexterne Ombudsstellen fördert;

21. eine nationale Forschungsagenda zur Verbesserung der Datenlage – u. a. zur
Grundlage für ein Monitoring – aufzustellen und für diese ausreichend Mittel
im Rahmen der Forschungsförderung der Bundesministerien für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend, der Justiz und für Verbraucherschutz und für Bildung
und Forschung zur Verfügung zu stellen, damit die Datenbasis für eine belast-
bare Beschreibung phänomenologischer Konstellationen von Vernachlässigung,
sexueller Gewalt und Ausbeutung von Kindern gesichert wird. Ebenso ist eine
Ausweitung der medizinischen Forschung zur Diagnostik und Behandlung der
Folgen von sexueller Gewalt an Kindern, Kindesmisshandlung und -vernachläs-
sigung notwendig;

22. zu prüfen, inwieweit durch das Präventionsgesetz Kinder bei der Wahrnehmung
ihres Rechts auf den eigenen Körper (Schutz vor Misshandlung und sexueller
Gewalt) gestärkt werden können;

23. sich dafür einzusetzen, das die Finanzierung bedarfsgerechter Therapieangebote
für Menschen mit pädophilen und hebephilen Neigungen gesichert und ihre Wir-
kung mit einer umfangreichen Stichprobe wissenschaftlich evaluiert wird.

Berlin, den 5. Juli 2016

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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Begründung

Jedes Kind, das Opfer von Vernachlässigung, emotionaler und körperlicher Misshandlung oder sexualisierter
Gewalt wird, ist eines zu viel.
Bezogen auf sexuelle Gewalt verzeichnet die polizeiliche Kriminalstatistik des Jahres 2014 12.134 Anzeigen
wegen Kindesmissbrauchs, 1.154 Anzeigen wegen Missbrauchs an Jugendlichen und 388 Anzeigen wegen
Missbrauchs an minderjährigen Schutzbefohlenen. Schon diese Zahlen sind erschreckend. Jedoch wird nur der
geringste Teil der Taten angezeigt und gelangt somit ins sog. Hellfeld. Bisher fehlt es in Deutschland jedoch an
validen Zahlen zur Häufigkeit von sexueller Gewalt oder zur Differenzierung nach Geschlecht. Auch deswegen
ist die Förderung zur weiteren Forschung notwendig. Folgt man den Aussagen des Unabhängigen Beauftragten
für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, so sind in Deutschland rund eine Million Kinder von sexualisierter
Gewalt betroffen (vgl. Pressemitteilung und Forderungskatalog „Forschung zu sexuellem Missbrauch – Vom
Tabu zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe“ des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindes-
missbrauchs, 22.02.2016). Es gibt daher nicht den geringsten Anlass, in den Bemühungen zur Verbesserung des
Schutzes von Kindern und Jugendlichen nachzulassen. Das Ausmaß des Problems ist bei weitem nicht erkannt.
Dies gilt auch für den Gesetzgeber. So zeigt unter anderem die Evaluation der Wirkungen des Bundeskinder-
schutzgesetzes der Bundesregierung den Handlungsbedarf auf.
Schon bei den Debatten im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zum Bundeskinderschutzgesetz wurde deut-
lich, wie wichtig die interdisziplinäre Kooperation all der Akteure ist, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun
haben, um sexuellem Missbrauch vorzubeugen. Bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes wurde die Ver-
besserung der Kooperation zwischen den Akteuren des Kinderschutzes und den Fachkräften des Gesundheits-
wesens angemahnt. Mit dem 2010 zur Reform gehörenden Gesetz zur Kooperation und Information im Kinder-
schutz sollte diese Zusammenarbeit verbessert werden. Der Evaluation der Bundesregierung zur Umsetzung
des Bundeskinderschutzgesetzes nach sind zwar in Deutschland Netzwerkstrukturen und interdisziplinäre Ko-
operationen flächendeckend etabliert, doch sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf bei der weiteren Ver-
besserung der Voraussetzungen für eine engere Kooperation zwischen Kinder- Jugendhilfe und Gesundheits-
wesen. Daher schlagen wir vor, die Beteiligung von Vertretern der Ärzteschaft in kommunalen und
landesweiten Gremien verbindlicher zu gestalten. Gleichzeitig soll den Akteuren im Gesundheitswesen die
Möglichkeit gegeben werden, eine Qualitäts- und Vergütungsvereinbarung vergleichbar mit der Sozialpsychi-
atrie-Vereinbarung oder der Vereinbarung über die besonders qualifizierte ambulante onkologische Versorgung
im Bundesmantelvertrag zu treffen, mit der die Rahmenbedingungen der Beteiligung verbindlicher ausgestaltet
werden. Auch die Einbindung von weiteren im Bundeskinderschutzgesetz als Kooperationspartner benannten
Akteuren wie Schulen und Polizeibehörden ist demnach zu verstärken (vgl. Gesetz zur Kooperation und Infor-
mation im Kinderschutz (KKG) § 3; Evaluation S. 6).
Träger der Jugendhilfe sollten vor allem dann eine Betriebserlaubnis erhalten, wenn zur Sicherung der Rechte
von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit
der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung finden. Zwingend erforderlich ist im Rahmen
der Betriebserlaubniserteilung, dass der Träger mit seinem Antrag eine Konzeption der Einrichtung vorlegt, die
auch Auskunft über Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung und -sicherung gibt. In der Vergangenheit fanden
diese Regelungen jedoch viel zu oft nur Anwendung bei Einrichtungen, für die erstmals eine Betriebserlaubnis
erteilt werden sollte. Der Kinderschutz erfordert jedoch Anforderungen auf möglichst gleich hohem Niveau für
alle Einrichtungen und Angebote, die Kinder und Jugendliche adressieren. Daher ist die Bundesregierung auf-
gefordert, klarzustellen, dass sich die Regelungen auf alle – also auch Einrichtungen mit bestehender Betriebs-
erlaubnis – beziehen. Gleichermaßen sind alle gesetzgeberischen Maßnahmen zu prüfen, um die jeweiligen
Kinderschutzinstrumente für andere institutionelle Kontexte außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe einzufüh-
ren. Dabei sind alle Institutionen und Organisationen in den Blick zu nehmen, die Angebote für Kinder unter-
breiten bzw. in denen mit Kindern gearbeitet wird. Ebenso sind die Ankündigungen der Bundesregierung um-
zusetzen, nach denen es notwendig ist, die mit dem BKiSchG für öffentliche Träger eingeführte Verpflichtung
zur Qualitätsentwicklung und -sicherung auch unmittelbar auf freie Träger zu erstrecken (Evaluation, S. 142).
Hinsichtlich der Regelung zum Ausschluss einschlägig Vorbestrafter von Tätigkeiten in der Kinder- und Ju-
gendhilfe hat die Evaluation Hinweise darauf geliefert, dass der Wunsch besteht, die Vorschrift sowohl für
Ehrenamtliche als auch für freie Träger effektiver und weniger belastend zu gestalten.

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So wurde vielfach im Rahmen der Evaluation der hohe bürokratische Aufwand und die „Entblößung“ auch der
ehrenamtlich Tätigen durch die Vorlagepflicht des erweiterten Führungszeugnisses kritisiert – dazu hatte die
Bundesregierung im Bericht angekündigt, prüfen zu wollen, ob ein sogenanntes Negativ-Attest im Bundeszent-
ralregistergesetz eingeführt werden sollte (Evaluation, S. 9). Die betroffenen Fachverbände sind jedoch über-
wiegend der Auffassung, dass ein solcher Weg zu gehen ist. Eine Prüfung ist daher obsolet. Einer Expertise des
Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) nach besteht gegenwärtig in vielen Situa-
tionen ein Rechtsanspruch auf Beratung und therapeutische Leistungen. Diese sind jedoch meist beschränkt auf
Not- und Konfliktlagen. Ein allgemeiner Rechtsanspruch auf Beratung in jeder Situation würde diese Proble-
matik beheben und gleichzeitig den bedarfsgerechten Ausbau derartiger Angebote fördern. Eine Neuregelung
der §§ 8 und 27 SGB VIII wird unter anderem auch vom Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für
Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vorgeschlagen (siehe auch Antrag „Kinder schützen – Prävention stär-
ken“ der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundestagsdrucksache 18/2619).
Das BMFSFJ unterstützt mit gesetzlicher Regelung (Gesetz zur Kooperation und Information im Kinder-
schutz (KKG) § 3 Absatz 4) seit ca. vier Jahren den Aus- und Aufbau der Netzwerke Frühe Hilfen und den
Einsatz von Familienhebammen unter Einbeziehung ehrenamtlicher Strukturen. Diese Förderung durch finan-
zielle Beteiligung des Bundes ist dauerhaft notwendig. Die im Gesetz geregelte Einrichtung eines Fonds ist
jedoch aktuell noch nicht umgesetzt.
Um den Kinderschutz auch in Handlungsfeldern außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zu fördern, bedarf es
weit mehr Beratungs- und Qualifizierungsangebote (Fort- und Weiterbildung) der Akteure, die nicht alltäglich
mit Minderjährigen Kontakt haben, deren Wohlergehen beeinträchtigt oder gefährdet ist. Dies trifft in besonde-
rem Maße für Fachkräfte im Gesundheitswesen (Kinder- und Jugendmediziner, Klinikärzte etc.) wie auch im
Bereich der Justiz (Familienrichter, Gutachter etc.) zu. E-Learning-Angebote können hier ein geeignetes Instru-
ment sein.
Einen sehr vielversprechenden Ansatz verfolgen die sog. Kinderschutzgruppen, die es gegenwärtig an einigen
Kinderkliniken gibt. Diese Angebote gilt es bedarfsgerecht auszubauen und in Orientierung an der Interdiszipli-
narität der österreichischen Kinderschutzgruppen weiterzuentwickeln.
Die österreichischen Kinderschutzgruppen werden in Kliniken tätig, um Kindern bei Verdacht auf Gewalt,
Missbrauch oder Vernachlässigung Hilfe und Schutz anzubieten. Sie übernehmen dabei eine Schnittstellenfunk-
tion zwischen medizinischem Personal, Sozialarbeit, Jugendämtern und anderen Institutionen.
Der Beratungsbedarf verschiedener Adressatengruppen ist bundesweit noch lange nicht bedarfsgerecht und ver-
lässlich gedeckt. So haben niedergelassene Kinder- und Jugendärzte besondere zeitliche und fachliche Anfor-
derungen an die Beratung. Für unmittelbar Betroffene und Angehörige sind geringe Wartzeiten, die Erreichbar-
keit, die Niedrigschwelligkeit oder die Barrierefreiheit wichtig. Bei präventiven Maßnahmen, die Eltern adres-
sieren, zeigen die Erfahrungen, dass insbesondere Angebote angenommen werden, die in oder an Kitas und
Schulen stattfinden. Für Menschen mit pädophilen und hebephilen Neigungen gibt es ebenso noch kein bedarfs-
gerechtes Angebot. Vor allem ist die Verlässlichkeit für die Klienten durch die Kontinuität der Angebote abzu-
sichern. Gänzlich unterentwickelt sind nach Einschätzung vieler Experten Angebote, die übergriffige Kinder
und Jugendliche selbst zur Zielgruppe haben. Erste Studienergebnisse weisen darauf hin, dass insbesondere
Minderjährige in Jugendhilfeeinrichtungen (Heimen) und Internaten in Deutschland ein hohes Risiko tragen,
Opfer sexueller Gewalt zu werden. Oftmals von Gleichaltrigen oder älteren Jugendlichen. Oft sind Minderjäh-
rige Täter und Opfer zugleich. Schutzkonzepte, wie sie für betriebserlaubnispflichtige Einrichtungen der Ju-
gendhilfe vorgeschrieben sind, müssen diesen Aspekt der Gewalt unter Gleichaltrigen stärker betonen. Sie dür-
fen sich nicht alleine auf Gewalt durch Fachkräfte konzentrieren.
Doch auch viele Fachberatungsstellen selbst berichten von schwierigen Rahmenbedingungen, insbesondere im
Hinblick auf ihre Finanzierung und deren langfristige Sicherung. Allgemein zeigt sich, dass die Sicherstellung
der Finanzierung eine dauerhafte Schwierigkeit für die Beratungsstellen ist, da sie kaum längerfristige Förde-
rungen erhalten und auf das Einwerben von zusätzlichen Geldern angewiesen sind. Auch die Fortführung des
Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ ist nicht gesichert, da nach Ablauf der Förderung durch das Bun-
desministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die Anschlussfinanzierung ungeklärt ist. All dies geschieht
vor dem Hintergrund wachsender Nachfrage.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/9054
Spezialisierte Fachberatungseinrichtungen sind von besonderer Bedeutung, da die Hemmschwelle, diese Ange-
bote wahrzunehmen, für Betroffene im Vergleich zu anderen Unterstützungsangeboten sehr niedrig ist. Den
Betroffenen wird damit die Möglichkeit gegeben, einen selbstbestimmten Weg zum Umgang mit ihrem Leid zu
finden. Zudem tragen spezialisierte Beratungsstellen aktiv durch ein sehr heterogenes Aufgabenspektrum dazu
bei, dass über sexuellen Missbrauch gesprochen wird und dadurch mehr Betroffene den Weg in das Hilfesystem
finden (vgl. Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Macht-
verhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich, S. 19; „Fallbezogene Be-
ratung und Beratung von Institutionen zu Schutzkonzepten bei sexuellem Missbrauch – Erhebung von Hand-
lungsbedarf in den Bundesländern und von Bedarf an Weiterentwicklung der Fachberatungsstellen“, Expertise
von Barbara Kavemann u. a., 2016).
In diesem Antrag werden die Begrifflichkeiten „sexueller Missbrauch“ und „sexuelle Gewalt“ synonym ver-
wendet. Die Formulierung „sexueller Missbrauch“ wird dabei nur genutzt, da sie weit verbreitet bzw. „geläufig“
ist und in die Gesetzgebung Eingang gefunden hat. Inhaltlich korrekter ist die Formulierung „sexuelle Gewalt“,
da sie zudem die Macht und Abhängigkeitsverhältnisse in dieser Gewaltform berücksichtigt.

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