BT-Drucksache 18/8372

Böhmermann vs. Erdogan: Von der Satire zur Staatsaffäre

Vom 29. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8372
18. Wahlperiode 29.04.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Harald Petzold (Havelland), Sigrid Hupach,
Annette Groth, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Jan Korte,
Niema Movassat, Norbert Müller (Potsdam), Dr. Alexander S. Neu, Dr. Petra Sitte,
Alexander Ulrich, Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Böhmermann vs. Erdoğan: Von der Satire zur Staatsaffäre

Der Satiriker Jan Böhmermann hat in seiner Sendung „Neo Magazin Royale“,
ausgestrahlt am 31. März 2016 im Spartenkanal „ZDF neo“ und in der „ZDF-
Mediathek“ veröffentlicht, seinen Zuschauerinnen und Zuschauern sowie dem
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan den Unterschied zwischen zuläs-
siger Satire und unzulässiger Schmähung erklärt. Bezug nehmend auf das satiri-
sche Lied der ARD-Sendung „Extra 3“ „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ und türki-
sche Reaktionen darauf – Einbestellung von Botschafter Martin Erdmann ins tür-
kische Außenministerium und Aufforderung, die Bundesregierung solle die Lö-
schung des Musikvideos veranlassen – hat Jan Böhmermann ein Spottgedicht mit
dem Titel „Schmähkritik“ vorgetragen. Eingeleitet und wiederholt unterbrochen
wurde sein Vortrag von satirischen Hinweisen Jan Böhmermanns und seines so-
genannten Sidekicks Ralf Kabelka. Beide betonten mehrfach, man wolle mit der
Darbietung erklären, wie eine in Deutschland verbotene Schmähkritik aussehe
(www.spiegel.de/kultur/tv/jan-boehmermann-das-sind-die-fakten-der-staatsaffaere-
a-1086571.html).
Am 2. April 2016 protestieren vor dem Auslandsstudio des ZDF in Istanbul etwa
20 bis 30 Personen. Die Gebäudefassade wurde mit Eiern beworfen, auf mitge-
brachten Schildern forderten die Demonstranten in deutschsprachigen Slogans
eine Entschuldigung des ZDF. Die regierungsnahe türkische Zeitung „Sabah“ ti-
telte „Wann geht Böhmermann?!“.
Am 3. April 2016 schaltete sich die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in den
„Satirestreit“ ein. In einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ah-
med Davutoglu urteilte die deutsche Regierungschefin, die „Schmähkritik“ sei
„bewusst verletzend“ gewesen und verwies auf bereits erfolgte Zensurmaßnah-
men beim ZDF.
In der Folge machte die Türkei in einer Verbalnote ihres Botschafters an das Aus-
wärtige Amt deutlich, dass sie eine Strafverfolgung verlange. Präsident Recep
Tayyip Erdoğan hatte zuvor bereits bei der Staatsanwaltschaft Mainz wegen Be-
leidigung (§ 185 des Strafgesetzbuchs – StGB) einen Strafantrag (§ 194 StGB)
gegen Jan Böhmermann gestellt.
Am 15. April 2016 teilte die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel schließlich mit,
die Bundesregierung werde einem Strafverlangen des türkischen Präsidenten ge-
mäß § 104a StGB stattgeben und die Staatsanwaltschaft Mainz zur Strafverfol-
gung wegen „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“
ermächtigen. Der zugrunde liegende § 103 StGB solle aber bis zum Jahr 2018

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abgeschafft werden, er sei „für die Zukunft entbehrlich“ (www.faz.net/aktuell/
politik/inland/merkel-erklaerung-im-fall-boehmermann-im-wortlaut-14180406.
html).
Im Fall Jan Böhmermann gelinge der Bundeskanzlerin das „Kunststück, einen
Bruch des Rechtsstaatsprinzips mit eben diesem Prinzip zu rechtfertigen“, kriti-
siert Ex-Bundesrichter Wolfgang Nešković (www.cicero.de/berliner-republik/
causa-boehmermann-der-rechtstaat-braucht-merkels-ermaechtigung-nicht/60795).
Das entlarve die politische Abhängigkeit, in die sich Dr. Angela Merkel durch
den Flüchtlingsdeal mit der Türkei begeben habe. Die Begründung der Bundes-
kanzlerin sei eine „Mogelpackung“ und „in mehrfacher Hinsicht widersprüchlich,
unehrlich und mit der geltenden Rechts- und Verfassungslage nicht vereinbar“. So
erwecke sie den Eindruck, erst durch die Erteilung der Verfolgungsermächtigung
werde die Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung der causa Jan Böhmermann
eröffnet. Nešković: „Wenn Merkel ihre Entscheidung (…) auch als Signal an die
Türkei verstanden wissen will, wie ein Rechtsstaat funktioniert, denn hätte sie auf
die Erteilung der Verfolgungsermächtigung verzichten können. Erdogan standen
(…) andere Mittel zur Seite, um mit rechtsstaatlichen Mitteln seine Interessen
durchzusetzen. Für Böhmermann allerdings kann die Entscheidung der Kanzlerin
jedoch zu unmittelbar konkreten strafrechtlichen Nachteilen führen, da er nun-
mehr auch nach einer Strafnorm verurteilt werden kann, die einen höheren Straf-
rahmen aufweist als die Strafrechtsnormen, auf die Erdogan sich ohne Verfol-
gungsermächtigung hätte berufen können.“
Mit der von der Bundeskanzlerin gegebenen Begründung für die Erteilung der Ver-
folgungsermächtigung füge sie ihrer politischen Glaubwürdigkeit schweren Scha-
den zu, urteilt Ex-Bundesrichter Wolfgang Nešković. Und weiter: „Sie entlarvt die
politische Abhängigkeit, in der sie sich durch den Flüchtlingsdeal mit der Türkei
begeben hat und rechtfertigt so den Vorwurf des Kotaus vor Herrn Erdogan. Au-
ßerdem stärkt sie Erdogan auch innenpolitisch den Rücken. Erdogan kann die
Kanzlerin nunmehr innenpolitisch als Kronzeugin dafür anführen, dass auch die
deutsche Kanzlerin die ihr nach deutschem Recht eingeräumte Möglichkeit nicht
nutzt, um eine Strafverfolgung wegen einer möglichen Beleidigung Erdogans zu
verhindern“ (www.cicero.de/berliner-republik/causa-boehmermann-der-rechtstaat-
braucht-merkels-ermaechtigung-nicht/60795).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. In welchem Kontext hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel bei ihrem

Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoglu am
3. April 2016 ein von Moderator Jan Böhmermann in der ZDF-Sendung
„Neo Magazin Royal“ vorgetragenes „Schmähgedicht“ auf den türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als „bewusst verletzend“ eingeordnet,
auf Nachfrage der Gesprächspartner in Ankara oder hat die Bundeskanzlerin
ihre Satirebewertung von sich aus vorgetragen?

2. Was hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel veranlasst, die von ihr im
Gespräch mit ihrem türkischen Amtskollegen gemachten Bemerkungen zum
genannten „Schmähgedicht“ über ihren Sprecher Steffen Seibert auf der
Bundespressekonferenz am 4. April 2016 ungefragt der Öffentlichkeit mit-
zuteilen?

3. Wer hat Juristen des Auswärtigen Amts zu welchem Zeitpunkt zu einer in-
ternen Prüfung veranlasst, inwiefern das „Schmähgedicht“ über den türki-
schen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan „strafrechtsrelevant“ ist (www.
tagesspiegel.de/politik/boehmermanns-erdogan-gedicht-staatsanwaltschaft-
ermittelt-auch-gegen-zdf-verantwortliche/13407794.html)?

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4. Welche Stellen der türkischen Regierung haben wann und bei wem „erhebli-
chen Unmut“ über Jan Böhmermanns Erdoğan-Kritik geäußert, so dass sich
das Auswärtige Amt zu einer kurzfristigen Prüfung veranlasst sah, deren Er-
gebnis am 3. April 2016 in einer Krisensitzung im Bundesministerium vorge-
stellt wurde (www.tagesspiegel.de/politik/boehmermanns-erdogan-gedicht-
staatsanwaltschaft-ermittelt-auch-gegen-zdf-verantwortliche/13407794.html)?
a) Zu welchem Ergebnis sind die Juristen in dieser Frage gekommen?
b) Inwieweit spielte in dieser Beratung der § 103 StGB eine Rolle?
c) Wann hat die Bundeskanzlerin Kenntnis von den internen Beratungen im

Auswärtigen Amt erhalten, und inwieweit haben die Ergebnisse dieser
Beratungen Einfluss auf ihre Verurteilung des Böhmermann-Textes ge-
habt?

d) Inwieweit spielte bei den Versuchen, die türkische Regierung zu be-
schwichtigen, eine Rolle, das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei
nicht zu gefährden?

5. Inwieweit hat die Bundeskanzlerin mit ihrer öffentlichen Verurteilung des
Böhmermann-Textes als „bewusst verletzend“ die Hoffnung verbunden,
die Wahrscheinlichkeit wachsen zu lassen, dass die Türkei auf eine Straf-
verfolgung des ZDF-Satirikers verzichtet (www.tagesspiegel.de/politik/
boehmermanns-erdogan-gedicht-staatsanwaltschaft-ermittelt-auch-gegen-
zdf-verantwortliche/13407794.html)?

6. Wann haben die ersten Gespräche „auf Ebene der fachlich Zuständigen im
Auswärtigen Amt, Justizministerium und Kanzleramt“ (www.zeit.de/kultur/
film/2016-04/jan-boehmermann-strafverfolgung-bundesregierung-pruefung)
begonnen, um den förmlichen Wunsch der Türkei nach Strafverfolgung des
ZDF-Satirikers Jan Böhmermann wegen des Erdoğan-Schmähgedichts nach
§ 103 StGB zu prüfen, und wer hat daran alles teilgenommen?

7. Wie oft und wie lange sind die fachlich Zuständigen im Auswärtigen Amt,
im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und im Bundes-
kanzleramt zusammengekommen, um über den förmlichen Wunsch der Tür-
kei nach Strafverfolgung des ZDF-Satirikers Jan Böhmermann wegen eines
Erdoğan-Schmähgedichts nach § 103 StGB zu beraten?

8. Wann ist welches Mitglied der Bundesregierung zu dem Schluss gekommen,
dass zur Prüfung des Strafbegehrens Ankaras auch das Bundesministerium
des Innern zu Rate gezogen werden soll, und wer hat aus diesem Ressort an
den Gesprächen teilgenommen, so dass die Bundeskanzlerin Dr. Angela Mer-
kel am 15. April 2016 erklären konnte, an der Prüfung der gesetzlichen Vo-
raussetzung für die Strafverfolgung des speziellen Delikts der Beleidigung
von Organen und Vertretern ausländischer Staaten (§ 103 StGB) im Fall
Erdoğan vs. Böhmermann seien „das Auswärtige Amt, das Bundesjustizmi-
nisterium, das Bundesinnenministerium und das Bundeskanzleramt beteiligt“
(www.tagesspiegel.de/politik/erklaerungen-zum-fall-jan-boehmermann-so-
begruenden-merkel-und-steinmeier-ihre-positionen/13454954.html) gewesen
und aufgrund einer Pattsituation bei den beteiligten Ressorts sei ihr Votum
ausschlaggebend gewesen?

9. Inwieweit war die Beauftrage der Bundesregierung für Kultur und Medien,
Staatsministerin Monika Grütters, in die Entscheidungsfindung eingebun-
den?

10. Welche Position hat die Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Kabinett
in der „Causa Böhmermann“ eingenommen?

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11. Warum soll ein Gesetzentwurf zur Aufhebung von § 103 StGB nicht, wie
vom Koalitionspartner SPD gefordert, umgehend, sondern erst im Laufe
„dieser Wahlperiode verabschiedet werden und 2018 in Kraft treten“, wie die
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel am 15. April 2016 erklärte, wenn die
Bundesregierung der Auffassung ist, dass die Regelung „als Strafnorm zum
Schutz der persönlichen Ehre für die Zukunft entbehrlich ist“?

12. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass mit
einer Verzögerung bei der genannten Gesetzesänderung bezüglich des § 103
StGB wegen sogenannter Majestätsbeleidigung billigend in Kauf genommen
werde, dass der Satiriker Jan Böhmermann zu einer deutlich höheren Strafe
(bis zu drei Jahre Haft) verurteilt werden kann als wegen Beleidigung nach
§ 185 StGB (bis zu einem Jahr Haft)?

13. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, die Entscheidung der
Bundeskanzlerin könne für Jan Böhmermann „zu unmittelbar konkreten
strafrechtlichen Nachteilen führen, da er nunmehr auch nach einer Strafnorm
verurteilt werden kann, die einen höheren Strafrahmen aufweist als die Straf-
rechtsnormen, auf die Erdogan sich ohne Verfolgungsermächtigung hätte be-
rufen können“ (www.cicero.de/berliner-republik/causa-boehmermann-der-
rechtstaat-braucht-merkels-ermaechtigung-nicht/60795)?

14. Inwieweit ist bei den Protesten türkischer Regierungsvertreter gegen die
ARD-Satiresendung „Extra 3“ und das ZDF-Format „Neo Magazin Royale“
sowie deren Forderungen nach Löschung aus der Mediathek gegenüber Stel-
len der Bundesregierung direkt oder indirekt auf das EU-Türkei-Flüchtlings-
abkommen verwiesen worden?

15. Inwieweit gibt es seitens der Bundesregierung einen situativ bedingten Maß-
stab für die jeweilige Zulässigkeit von Satire unter den Maßgaben einer wer-
tebasierten Außenpolitik, vor dem Hintergrund, dass sich die Bundesregie-
rung in anderen Fällen politisch-satirischer provokanter Aktionen, etwa beim
Vorgehen gegen die Punkband „Pussy Riot“ durch die russische Justiz, das von
der Bundesregierung scharf verurteilt wurde, offenbar toleranter gezeigt hat
(www.stern.de/politik/ausland/bundesregierung-in-moskau-merkel-kritisiert-
urteil-gegen-pussy-riot-3572714.html)?

16. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, es sei „rechtlich eine
zulässige Wahrnehmung der ihr vom Gesetz eingeräumten Ermächtigungs-
befugnis“, wenn die Bundeskanzlerin erklärt hätte, „sie erteile die Ermächti-
gung, weil sie ansonsten befürchte, dass eine gegenteilige Entscheidung
negative Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zur Türkei, insbe-
sondere auf den mit der Türkei abgeschlossenen Flüchtlingsdeal hätte“
(www.cicero.de/berliner-republik/causa-boehmermann-der-rechtstaat-braucht-
merkels-ermaechtigung-nicht/60795)?

17. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung (auch nachrichtendienstliche),
bezogen auf die Bedrohungslage von Jan Böhmermann?

18. Welche Kenntnisse (auch nachrichtendienstliche) hat die Bundesregierung
über die Bombendrohung im Zusammenhang mit der ARD-Talksendung
„Anne Will“ vom 10. April 2016 (www.swr.de/landesschau-aktuell/rp/anne-
will-beim-swr-unitalk-affaere-durch-zutun-der-kanzlerin/-/id=1682/did=17
265782/nid=1682/1qrmm3m/index.html)?

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19. Wie viele Telefonate haben zwischen dem 17. März 2016 und 30. März 2016
auf Wunsch der Bundeskanzlerin bzw. auf Wunsch des türkischen Minister-
präsidenten stattgefunden, und inwieweit wurde dabei die scharfe Kritik der
Türkei an der Satire-Sendung „Extra 3“ und den damit verbundenen Angriff
der Türkei auf die Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland (www.
dfjv.de/rss/-/asset_publisher/rRH3XTB0AyFe/content/nach-ndr-satire-
erdogans-angriff-auf-pressefreiheit-muss-klar-verurteilt-werden) seitens der
Bundeskanzlerin angesprochen (www.trt.net.tr/deutsch/turkei/2016/03/23/
telefonat-zwischen-davutoglu-und-merkel-457023)?

Berlin, den 28. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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