BT-Drucksache 18/8236

zu der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) - Drucksache 18/8092 - - Sammelübersicht 289 zu Petitionen -

Vom 26. April 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8236
18. Wahlperiode 26.04.2016
Änderungsantrag
der Abgeordneten Kerstin Kassner, Katja Kipping, Kersten Steinke, Frank
Tempel, Matthias W. Birkwald, Dr. André Hahn, Ulla Jelpke, Jan Korte,
Petra Pau, Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Azize Tank, Kathrin Vogler,
Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
(2. Ausschuss)
– Drucksache 18/8092 –

– Sammelübersicht 289 zu Petitionen –

Der Bundestag wolle beschließen:

Die Petition 4-18-11-81503-001721 in Abänderung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses vom 17. Februar 2016 auf Drucksache 18/8092 der Bundesre-
gierung zur Berücksichtigung zu überweisen und sie den Fraktionen des Deutschen
Bundestages zur Kenntnis zu geben.

Berlin, den 26. April 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

Drucksache 18/8236 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

Begründung

Die Petentin, Inge Hannemann, fordert in ihrer Petition mit guten Gründen die ersatzlose Streichung der Sank-
tionen bzw. Leistungseinschränkungen in den Systemen der Grundsicherung im Sozialgesetzbuch II (§ 31 bis
§ 32 SGB II) und im Sozialgesetzbuch XII (§ 39a SGB XII).
Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums ist ein Grundrecht, das nicht
verletzt werden darf. Auf diese einfache Formel kann das Anliegen der Petentin gebracht werden. Dem Anlie-
gen, alle Sanktionen bzw. Leistungseinschränkungen in der Grundsicherung abzuschaffen, ist zu folgen. Die
Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, das Anliegen der Petentin als unbegründet zurückzuweisen und
das Petitionsverfahren folgenlos abzuschließen, ist zu korrigieren.
Durch die Petition wurde eine öffentliche Debatte zum Thema der Sanktionen im Hartz-IV-System angestoßen.
Die umfangreiche mediale Aufmerksamkeit, die ungewöhnlich hohe Zahl an Unterstützerinnen und Unterstüt-
zern sowie das starke Interesse an der öffentlichen Sitzung verdeutlichen die Relevanz und gesellschaftliche
Bedeutung des in der Petition behandelten Themas. Mehr als 90.000 Menschen haben die Petition von Inge
Hannemann unterstützt. 55.271 Unterstützerinnen und Unterstützer haben online, 34.515 offline mitgezeichnet
(https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2013/_10/_23/Petition_46483/forum/Bei-
trag_280936.$$$.batchsize.10.tab.1.html). Im Diskussionsforum wurden 1.999 Beiträge gezählt, die sich in ei-
nem Verhältnis von 9:1 für das Anliegen der Petentin ausgesprochen haben.
Am 17. März 2014 wurde die Petition in einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses mit der Petentin
beraten. Die Petentin hat hier sehr überzeugende Argumente für eine Abschaffung der Sanktionen in der Grund-
sicherung vorgetragen, denen im Kern zu folgen ist.
1. Die Verhängung von Sanktionen führt zu einer Unterschreitung des menschenwürdigen Existenz- und Teil-
habeminimums. Die Garantie des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums ist ein in Artikel 1 und
20 Absatz 1 Grundgesetz (GG) verankertes Grundrecht jedes Menschen, der sich in Deutschland aufhält. Es ist
Ausdruck von Menschenwürde. Das Sozialstaatsgebot in Artikel 20 Absatz 1 GG verpflichtet den Staat, dieses
Grundrecht zu gewährleisten. Diese Garantie ist durch das Bundesverfassungsgericht in dem „Hartz-IV-Urteil“
vom 9. Februar 2010 ausdrücklich bestätigt worden (BVerfG 1 BvL 1/09). Die Verhängung von Sanktionen
greift in unzulässiger Weise in das Grundrecht ein (vgl. auch: Wolfgang Neskovic/Isabel Erdem: Zur Verfas-
sungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – zugleich eine Kritik an dem Urteil des Bundesverfassungsge-
richts, in: SGb 3/2012). Das Sozialgericht Gotha hat daher zwischenzeitlich das Bundesverfassungsgericht mit
der Bitte um Entscheidung angerufen (Sozialgericht Gotha, Beschluss S 15 AS 5157/14 vom 26. Mai 2015).
Das Gericht zweifelt mit vergleichbaren Argumenten an der Verfassungsmäßigkeit der Sanktionen im SGB II.
Eine Entscheidung in diesem Verfahren steht derzeit noch aus.
2. Sanktionen stellen aus der Sicht der Betroffenen eine Bestrafung dar für allein nach Ansicht der Arbeitsagen-
turen bzw. Jobcenter falsches Verhalten. Mit der Androhung und der Verhängung von Sanktionen behandeln
das Gesetz und die ausführenden Stellen erwachsene Menschen wie unmündige Kleinkinder, denen ein Erzie-
hungsberechtigter vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen haben. Das Jobcenter wird im Auftrag des Gesetz-
gebers zu einem „Erziehungsberechtigten“. Diese Funktion kommt dem Jobcenter aber nicht zu. Auch Leis-
tungsberechtigte in der Grundsicherung sind vollwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger, deren Würde und Au-
tonomie zu respektieren ist. Inge Hannemann macht das Problem konkret deutlich: Leistungsberechtigte haben
vielfach gute Gründe, den oft willkürlich anmutenden Anforderungen, welche die Jobcenter an sie stellen, nicht
nachzukommen, sei es die x-te als sinnlos empfundene, aber trotzdem vom Jobcenter auferlegte Maßnahme, sei
es der berechtigte Widerstand gegen einen nicht existenzsichernden Job. Hannemann ist überzeugt: Die aller-
meisten betroffenen Menschen wissen selbst am besten, welche Maßnahmen hilfreich und nützlich sind und
welche Auflagen ihrer Würde widersprechen. Statt Hilfe und Unterstützung bei ihren eigenen Anstrengungen
sehen sich die Menschen der Macht eines bürokratischen Apparates ausgeliefert, der sie entwürdigt und maß-
regelt. Es fehlt den Mitarbeitern der Jobcenter strukturell an Zeit für das Eingehen auf die individuellen Nöte
und Bedürfnisse der hilfeberechtigten Personen und leider häufig auch an der nötigen Empathie. Eine Forderung
nach Hilfe und Unterstützung statt Gängelung und Entwürdigung – das ist das Leitmotiv der Petition von Inge
Hannemann.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/8236
3. Schließlich gibt es erhebliche Zweifel, ob die Sanktionen überhaupt in der gewünschten Weise wirken. Die
Sanktionen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers die Motivation der Menschen erhöhen, ihre Hilfebedürf-
tigkeit insbesondere durch die Aufnahme von Erwerbsarbeit zu beenden. Studien weisen aber darauf hin, dass
infolge der Sanktionen das Vertrauen der sanktionierten Personen zu den Jobcentern abnehme. Teilweise werde
insbesondere von jungen Menschen der Kontakt zu der Behörde komplett abgebrochen (ISG: Unabhängige wis-
senschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31
SGB II und nach dem SGB III in NRW, im Auftrag der Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des
Landes Nordrhein-Westfalen, 2013). Unbestreitbar ist, dass die Existenzgrundlage der anerkannt hilfebedürfti-
gen Personen teilweise oder auch komplett entzogen wird. Dies trifft junge Leistungsberechtigte besonders
stark, da sie schneller und härter sanktioniert werden als ältere Leistungsberechtigte. Es ist nicht zu akzeptieren,
wenn in einem reichen Land wie Deutschland Menschen – trotz anerkannter Hilfebedürftigkeit – existentieller
Not bis hin zu Obdachlosigkeit ausgesetzt werden.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, das Anliegen der Petition umzusetzen.

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de

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