BT-Drucksache 18/8026

Möglicher Missbrauch der französischen Befugnisse im Ausnahmezustand im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention

Vom 31. März 2016


Deutscher Bundestag Drucksache 18/8026
18. Wahlperiode 31.03.2016

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Thomas Nord, Christine Buchholz,
Annette Groth, Inge Höger, Katrin Kunert, Dr. Alexander S. Neu, Kathrin Vogler,
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Möglicher Missbrauch der französischen Befugnisse im Ausnahmezustand im
Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention

Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris mit über
hundert Toten und 350 Verletzten hat der französische Präsident, François Hollande,
zunächst für zwölf Tage den Ausnahmezustand (état d‘urgence) nach dem
Gesetz 55-385 von 1955 über ganz Frankreich ausgerufen. Die Maßnahme wurde
vom Parlament bis zum 26. Februar 2016 verlängert. Im Februar 2016 wurde eine
weitere Verlängerung des Ausnahmezustandes bis Ende Mai 2016 beschlossen,
während in der Zivilgesellschaft, aber auch im Parlament Kritik am willkürlichen
Einsatz und Missbrauch der durch den Ausnahmezustand erweiterten exekutiven
Kompetenzen formuliert wird (www.nytimes.com/2016/02/04/world/europe/
france-state-of-emergency-paris-attacks.html?_r=1).
Die vorgesehenen Maßnahmen umfassen unter anderem Ausgangssperren, Woh-
nungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss, die Aussetzung des Recht-
schutzes durch normale Gerichte, Hausarrest und Versammlungsverbote.
Beispiele für die kritisierte Anwendung sind neben zahlreichen Hausdurchsu-
chungen, die vor allem Muslime betrafen, die in vielen Fällen keine Verbindun-
gen zu terroristischen Strukturen hatten, das Verbot von Demonstrationen und die
Verhängung von Hausarrest für Klimaaktivisten bis zum Ende des Klimagipfels
COP 21, das Verbot des Betretens der Straße zum „Dschungel von Calais“, wo
zahlreiche Migrantinnen und Migranten ein irreguläres Lager errichtet hatten, so-
wie willkürliche Kontrollen von Personen.
Die französische Menschenrechtsliga hat vor dem Conseil d‘État, dem obersten
Verwaltungsgericht, geklagt, um den Ausnahmezustand oder zumindest Teile der
Maßnahmen aufzuheben. Das Gericht urteilte aber, dass die immanente Gefahr,
die den Ausnahmezustand rechtfertige, in Anbetracht der fortgesetzten terroristi-
schen Bedrohung und dem Risiko von weiteren Angriffen nicht verschwunden
sei (www.thelocal.fr/20160128/france-state-of-emergency-top-court-rejects).
Neben der Kritik aus Frankreich sind auch international kritische Stimmen zu hö-
ren: Der Generalsekretär der Internationalen Föderation der Ligen für Menschen-
rechte (FIDH) warnte bereits im November 2015, die eingesetzten Mittel würden
„zu anderen Zwecken als dem Kampf gegen den Terrorismus eingesetzt und
könnten letztendlich zur Unterdrückung sämtlicher Protestbewegungen ausgenutzt
werden“ (http://archiv.eurotopics.net/de/home/presseschau/archiv/results/archiv_
article/ARTICLE173871-Frankreich-wird-Anti-Terror-Kampf-missbrauchen).
Der Menschenrechtskommissar des Europarates kam im Februar 2016 angesichts
der angekündigten Verlängerung des Ausnahmezustandes zu dem Schluss, dass

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dieser relativ beschränkte, konkrete Effekte im Kampf gegen den Terrorismus ge-
bracht hat, aber im Gegenzug die Ausübung von Grundfreiheiten stark beschränkt
und rechtsstaatliche Garantien geschwächt wurden (www.lemonde.fr/idees/article/
2016/02/03/luttons-contre-le-terrorisme-dans-le-respect-du-droit_4858281_3232.
html). Darüber hinaus beklagt er den Missbrauch durch Polizeikräfte und fordert,
eine „Verewigung“ des Ausnahmezustandes zu verhindern. Die Parlamentarische
Versammlung des Europarates hat in ihrer Resolution vom Januar 2016 ihre Sor-
gen gegenüber dem Ausnahmezustand in Frankreich ausgedrückt, eine möglichst
eingeschränkte zeitliche und räumliche Anwendung von Ausnahmezuständen ge-
fordert und sich gegen jedes „racial profiling“ bei Maßnahmen ausgesprochen
(http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewPDF.asp?FileID=22481&
lang=en).
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) legt den Mitgliedstaaten
bei der Einschränkung von Menschenrechten der Bürgerinnen und Bürger ver-
schiedene Schranken auf, die nicht durch den Ausnahmezustand aufgehoben wer-
den können. Für alle Maßnahmen im Rahmen des Ausnahmezustandes kann viel-
mehr vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüft werden, ob
die Voraussetzungen erfüllt sind, damit von der Konvention abgewichen werden
darf.
Artikel 15 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, die von ihren Verpflichtungen
aus der Konvention abweichen wollen, den Generalsekretär des Europarates über
die getroffenen Maßnahmen, deren Gründe und deren Zwecksetzung umfassend
zu unterrichten. In der entsprechenden Erklärung Frankreichs vom 24. November
2015 werden die Maßnahmen aufgeführt und damit begründet, sie seien notwen-
dig um das Begehen weiterer terroristischer Angriffe zu verhindern (http://
tinyurl.com/fra-Ausnahmezustand). Daneben wird unbestimmt festgestellt, dass
manche dieser Maßnahmen eine Ausnahme zur Menschenrechtskonvention bein-
halten könnten.
Diese Unterrichtungspflicht dient dazu, eine Prüfung auf eventuelle Konventions-
verletzungen zu ermöglichen. Die Mitgliedstaaten haben sich mit der EMRK ver-
pflichtet, die Einhaltung der Menschenrechte im Verhältnis der Mitgliedstaaten
zueinander zu prüfen. Im Hinblick darauf leitet der Generalsekretär des Europa-
rates die Unterrichtungserklärung an die übrigen Vertragsstaaten, also auch an
Deutschland, weiter. Es stellt sich daher die Frage, wie die Bundesregierung die
kritisierten ergriffenen Maßnahmen beurteilt, und inwieweit sie etwaige Wider-
sprüche zu den Schranken der EMRK innerhalb der vertraglichen Regelungen
sieht und entsprechend reagiert.
In der Präambel der EMRK erklären die Regierungen ihre Entschlossenheit, erste
Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemei-
nen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen. Dementsprechend kann jeder
Vertragsstaat nach Artikel 33 EMRK den Gerichtshof wegen jeder behaupteten
Verletzung dieser Konvention und der Protokolle dazu durch eine andere Hohe
Vertragspartei anrufen.
Artikel 15 EMRK bestimmt weiterhin entsprechend dem Verhältnismäßigkeits-
grundsatz, dass Maßnahmen, die in Ausübung des Derogationsrechts ergriffen
werden, nur soweit zulässig sind, wie es die Lage unbedingt erfordert. Die oben
ergriffenen Maßnahmen verfolgten aber zum Teil offensichtlich andere Zwecke,
als die angeführte Verhinderung weiterer terroristischer Angriffe.
Angesichts des Einsatzes der französischen Notstandsmaßnahmen für andere
Zwecke als die Terrorbekämpfung stellt sich die Frage, inwiefern die Bundesre-
gierung eine eigene Einschätzung zur unbedingten Erforderlichkeit der Maßnah-
men hat und inwiefern sie sich gegenüber der französischen Regierung für den
Schutz von Menschenrechten bei den Maßnahmen zur angeblichen Bekämpfung
des Terrors einsetzt. Zweifel an der Vereinbarkeit der französischen Maßnahmen

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mit den Verpflichtungen aus der EMRK sind offensichtlich berechtigt und sollten
von der Bundesregierung geprüft werden, damit sie gegebenenfalls als Vertrags-
staat ihrer Verantwortung zum kollektiven Schutz der Rechte der EMRK gerecht
werden kann.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wann hat die Bundesregierung die französische Unterrichtungserklärung

über die Abweichung von der EMRK nach Artikel 15 EMRK, die Maßnah-
men und deren Gründe erhalten, und wie wurde in der Bundesregierung damit
weiter verfahren?

2. Welche der in der französischen Erklärung vom 24. November 2015 aufge-
führten Maßnahmen machen nach Einschätzung der Bundesregierung eine
Derogation von der Europäischen Menschenrechtskonvention nötig?

3. Inwiefern hat sich die Bundesregierung an die französische Regierung ge-
wandt, um ihrerseits offene Fragen zur Vereinbarkeit der unter dem Ausnah-
mezustand ergriffenen Maßnahmen mit der EMRK zu klären, und wie hat
sich die französische Seite gegebenenfalls dazu geäußert?

4. Welche kritischen Einschätzungen von französischen Parteien, Menschen-
rechtsorganisationen, Medien und zivilgesellschaftlichen Gruppen an den
unter dem Notstand ergriffenen Maßnahmen sind der Bundesregierung be-
kannt?

5. Welche kritischen Einschätzungen von internationalen Menschenrechtsorga-
nisationen, Medien und zivilgesellschaftlichen Gruppen der im Ausnahme-
zustand ergriffenen Maßnahmen sind der Bundesregierung bekannt?

6. Inwiefern ist die Bundesregierung der Meinung, dass die Verhinderung wei-
terer terroristischer Anschläge es unbedingt erforderte, dass auf der Straße
zum „Dschungel von Calais“ der Personenverkehr verboten wird, was prak-
tisch vor allem Migrantinnen und Migranten betrifft?

7. Inwiefern ist die Bundesregierung der Meinung, dass die Verhinderung wei-
terer terroristischer Anschläge es unbedingt erforderte, Klimademonstratio-
nen anlässlich des COP 21-Gipfels in ganz Frankreich zu verbieten?

8. Inwiefern ist die Bundesregierung der Meinung, dass die Verhinderung wei-
terer terroristischer Anschläge es unbedingt erforderte, 24 Klimaaktivisten
bis zum Ende von COP 21 unter Hausarrest zu stellen?

9. Inwiefern ist die Bundesregierung der Meinung, dass die Verhinderung wei-
terer terroristischer Anschläge es unbedingt erforderte, besetzte Häuser auf
Grundlage der Notstandsgesetze zu durchsuchen?

10. Inwiefern hat die Bundesregierung Kenntnis von „racial profiling“ bei der
Durchsuchung von Personen und Hausdurchsuchungen in Frankreich?

11. Hat die Bundesregierung Kenntnis über Berichte von willkürlichen Polizei-
maßnahmen, bei denen sich die Amtspersonen darauf berufen, im Notstand
zu allem berechtigt zu sein?

12. Was hat sie bilateral im Rahmen der Europäischen Union oder des Europa-
rates unternommen, um Frankreich auf seine Verpflichtungen aus der EMRK
auch im Ausnahmezustand hinzuweisen?

13. Sieht sich die Bundesregierung als Vertragsstaat der EMRK in einer Rolle,
die zum kollektiven Schutz der Rechte der EMRK beitragen sollte, und was
hat sie unternommen, um sich über mögliche Verletzungen der Schranken
des Derogationsrechts aus Artikel 15 EMRK durch Frankreich zu informie-
ren?

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14. Inwiefern sieht sich die Bundesregierung durch die EMRK verpflichtet, die
Einhaltung der Menschenrechte im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinan-
der zu prüfen?

15. Inwiefern beurteilt die Bundesregierung die von Frankreich im Zuge des
Ausnahmezustands ergriffenen Maßnahmen als über alle Zweifel erhaben
und offensichtlich vereinbar mit der EMRK und insbesondere Artikel 15
EMRK?

16. Inwiefern hat die Bundesregierung geprüft, ob Frankreich durch die be-
schriebenen Maßnahmen die Grenzen der Derogation nach Artikel 15
EMRK verletzt hat?
Wenn nein, warum nicht?

17. Inwiefern hat die Bundesregierung geprüft, ob sie ein Staatenbeschwerde-
verfahren nach Artikel 33 EMRK einleitet und den Europäischen Gerichts-
hof für Menschenrechte anruft?
Wenn nein, warum nicht?

18. Inwiefern setzt sich die Bundesregierung gegen eine Verewigung des Aus-
nahmezustandes in Frankreich ein, und inwiefern hält sie eine ständige Ver-
längerung des Ausnahmezustandes aufgrund einer behaupteten ständigen
Terror-Bedrohung für verhältnismäßig, mit der EMRK vereinbar und für die
politisch richtige Antwort auf Terroranschläge?

19. Inwiefern und unter welchen Umständen hält die Bundesregierung im Falle
eines Terroranschlags in Deutschland die Ausrufung des Notstandes im Rah-
men der 1968 eingeführten Notstandsgesetze für gerechtfertigt und geeignet,
um auf einen Terroranschlag zu reagieren?
a) Inwiefern kann ein Terrorangriff eine Gefahr für den Bestand oder die

freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes darstellen?
b) Inwiefern müsste für im Rahmen des Notstandes ermöglichte Maßnah-

men Abweichungen von den Verpflichtungen aus der EMRK angezeigt
werden?

c) Inwiefern können im Fall des Notstandes in Deutschland Grundrechte ein-
geschränkt werden, ohne dass der Rechtsweg offensteht, und inwiefern
macht dies eine Derogation von Artikel 6 EMRK notwendig?

d) Wäre ein von einer solchen Grundrechtseinschränkung ohne Schutz über
den deutschen Rechtsweg Betroffener nach Erkenntnis der Bundesregie-
rung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagebe-
rechtigt, da der nationale Rechtsweg ausgeschöpft wäre?

e) Welche Grenzen für eine ständige Verlängerung des Notstandes gibt es
nach Auffassung der Bundesregierung im deutschen und europäischen
Recht, und inwiefern reicht eine abstrakte terroristische Bedrohung oder
Gefahr dafür aus?

Berlin, den 31. März 2016

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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