BT-Drucksache 18/6943

Geplante Verstärkung von Abschiebungen nach Afghanistan

Vom 30. November 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6943
18. Wahlperiode 30.11.2015

Kleine Anfrage

der Abgeordneten Ulla Jelpke, Frank Tempel, Wolfgang Gehrcke,

Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko,
Jan Korte, Niema Movassat, Harald Petzold (Havelland), Martina Renner,

Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke, Kathrin Vogler, Jörn Wunderlich

und der Fraktion DIE LINKE.

Geplante Verstärkung von Abschiebungen nach Afghanistan

Am 28. Oktober 2015 erklärte der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de
Maizière, Afghanistan stehe im laufenden Monat und auch im Verlauf des gan-
zen Jahres auf Platz zwei der Liste der Asyl-Herkunftsländer. Das sei inakzepta-
bel: „Wir sind uns einig mit der afghanischen Regierung, das wollen wir nicht.
Es kommen auch zunehmend Angehörige der afghanischen Mittelschicht. Auch
hier sind wir uns einig mit der afghanischen Regierung, dass die Jugend Afgha-
nistans und die Mittelschichtfamilien in ihrem Land verbleiben und das Land
aufbauen sollen.“ Deutsche Soldaten trügen dazu bei, Afghanistan sicherer zu
machen. Es seien große Summen von Entwicklungshilfe nach Afghanistan ge-
flossen. „Da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben. Die
Menschen, die als Flüchtlinge aus Afghanistan zu uns kommen, können
nicht erwarten, dass sie in Deutschland bleiben können, auch nicht als Gedul-
dete“ (www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/10/2015-10-28-de-
maizi%C3%A8re-statements.html).

Der Bundesinnenminister Dr. Thomas de Mazière erklärte weiter: „Wir wollen,
dass in Afghanistan das Signal ankommt: ‚Bleibt dort! Wir führen euch aus Eu-
ropa […] direkt nach Afghanistan zurück!“ (www.bmi.bund.de/SharedDocs/
Kurzmeldungen/DE/2015/11/bundesinnenminister-auf-dem-sonderrat-der-
innenminister-in-bruessel.html).

Der Beschluss der Vorsitzenden der Regierungsparteien vom 5. November 2015
zu weiteren Maßnahmen in der Asylpolitik enthält unter anderem folgende Ver-
einbarung: „Wir wollen zur Schaffung und Verbesserung innerstaatlicher Flucht-
alternativen beitragen und vor diesem Hintergrund die Entscheidungsgrundlagen
des BAMF überarbeiten und anpassen. Dies ermöglicht auch eine Intensivierung
der Rückführungen.“

Auf die Mündliche Frage 30 der Abgeordneten Ulla Jelpke nach der Aussage des
afghanischen Flüchtlingsministers, der im Widerspruch zur oben zitierten Erklä-
rung des Bundesinnenministers fast zeitgleich erklärt hatte, Deutschland solle
mehr Flüchtlinge aufnehmen und keine Asylsuchenden nach Afghanistan ab-
schieben, antwortete die Bundesregierung in der Fragestunde am 4. November
2015 (Plenarprotokoll 18/132), das sei eine „isolierte Einzelmeinung“, die sowohl
von der Bundesregierung als auch von der afghanischen Regierung zurückgewie-
sen würde.

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Die Nachrichtenagentur „epd“ berichtete am 16. November 2015 allerdings: „Die
Regierung in Kabul bat Deutschland am Montag erneut, abgelehnte Asylbewer-
ber nicht nach Afghanistan abzuschieben.“ In einem Bericht aus
„DER SPIEGEL“ vom 12. November 2015 („Prekäre Sicherheitslage: Auswärtiges
Amt zweifelt an Rückführung afghanischer Flüchtlinge“ ,vgl. www.spiegel.de/
politik/deutschland/fluechtlinge-rueckfuehrung-nach-afghanistan-kaum-moeglich-
a-10 62500.html) heißt es wiederum, die afghanische Regierung sperre sich gegen
die Rücknahme von Flüchtlingen, woran selbst Telefonate von Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel und Außenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier mit dem
afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani nichts hätten ändern können.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit ist die Aussage, die afghanische Regierung sperre sich gegen die
Rücknahme von Flüchtlingen, zutreffend (bitte im Detail ausführen und im
Einzelnen mit Datum auflisten, welche Kontakte welcher Regierungsperso-
nen es mit der afghanischen Regierung mit welchem Ziel im Zusammenhang
mit Abschiebungen gab)?

2. Welche Stellungnahmen von Seiten afghanischer Regierungsmitglieder hat
es gegenüber der Bundesregierung im Zusammenhang mit möglichen Ab-
schiebungen gegeben?

3. Inwieweit ist die Aussage zutreffend: „Die Regierung in Kabul bat Deutsch-
land am Montag erneut, abgelehnte Asylbewerber nicht nach Afghanistan
abzuschieben“ (epd vom 16. November 2015; bitte im Detail Ausführungen
hierzu machen)?

4. Wie sind die Antworten auf die obigen Fragen vereinbar mit der Antwort der
Bundesregierung in der Fragestunde vom 4. November 2015 (Plenarproto-
koll 18/132) auf die Mündliche Frage 30 der Abgeordneten Ulla Jelpke, wo-
nach die Aussage des afghanischen Flüchtlingsministers, Deutschland solle
mehr afghanische Flüchtlinge aufnehmen und keine Asylsuchenden abschie-
ben, als „isolierte Einzelmeinung“ dargestellt wurde, die sowohl von der
Bundesregierung als auch von der afghanischen Regierung zurückgewiesen
worden sei (bitte im Detail benennen, auf welchen Auskünften von Seiten
der afghanischen Regierung diese Antwort beruhte)?

5. Trifft es zu, dass das Auswärtige Amt auf der Grundlage eines Lageberichts
der deutschen Botschaft in Kabul Abschiebungen für kaum möglich hält,
weil sich die Bedrohungslage in Afghanistan „dramatisch“ verschärft habe?

a) Welche Einschätzungen enthält der interne Lagebericht diesbezüglich?

b) Wie schätzt das Auswärtige Amt gegenwärtig die Realisierbarkeit von
Abschiebungen nach Afghanistan ein, und kann es dafür die Verantwor-
tung tragen?

6. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung heute die Ausdehnung der Taliban
größer als zu Beginn des militärischen Eingreifens der NATO im Jahr 2001?

Kann die Bundesregierung bestätigen, dass heute selbst in Landesteilen, die
bislang als relativ sicher galten, die Bedrohung „rasant“ gewachsen und mit
massiven Angriffen der Taliban zu rechnen ist (bitte ausführlich darstellen)?

a) Inwieweit ist aus Sicht der Bundesregierung die Stadt Kunduz als sicher
zu betrachten, die kürzlich überraschend von den Taliban überrannt wor-
den ist, obwohl dort beim Abzug der Bundeswehr von einer „Erfolgsge-
schichte“ gesprochen worden war („Afghanistan: Die letzten Tage in
Kunduz“, www.bundeswehr.de vom 14. Oktober 2013)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6943

 

b) Inwieweit können nach Einschätzung der Bundesregierung andere Ge-
biete in Afghanistan als sicher vor überraschenden Einnahmen durch die
Taliban gelten, und auf welcher Grundlage erfolgt diese Einschätzung?

7. Wie sind diese Einschätzungen zur Lage in Afghanistan und die Einschät-
zung im Artikel aus „DER SPIEGEL“ genannten internen Bericht der Bot-
schaft, die Situation werde „auf absehbare Zeit weiterhin auch echte Asyl-
gründe hervorbringen“, vereinbar mit den Planungen des Bundesinnenminis-
ters, die Zuflucht aus Afghanistan zu begrenzen bzw. Abschiebungen dorthin
auszuweiten?

8. Inwieweit gibt es im Auswärtigen Amt Überlegungen, wegen der fehlenden
Rücknahmebereitschaft von Flüchtlingen auf Seiten der afghanischen Regie-
rung deutsche Entwicklungshilfe zu kürzen bzw. vom Verhalten der afgha-
nischen Regierung in der Frage von Migration(sverhinderung) und Rückfüh-
rung abhängig zu machen (bitte im Detail darlegen)?

9. Ist es zutreffend, dass es derzeit keine direkten Linienflüge nach Afghanistan
gibt, und wenn ja, wie sollen verstärkte Abschiebungen nach Afghanistan
organisiert und durchgeführt werden?

10. Wie soll es praktisch und sicherheitstechnisch erreicht werden, innerstaatli-
che Fluchtalternativen in Afghanistan zu schaffen und zu verbessern, um Ab-
schiebungen intensivieren zu können?

Hat die Bundesregierung hierzu neue Konzepte entwickelt oder anvisiert,
oder will sie im Wesentlichen lediglich ihre bisherige Afghanistan-Politik
fortführen (bitte gegebenenfalls ausführen)?

11. Wo und für welche Flüchtlingsgruppen sieht die Bundesregierung derzeit si-
chere inländische Fluchtalternativen in Afghanistan, die es rechtfertigen kön-
nen, Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben, und inwieweit spielt es
nach Ansicht der Bundesregierung dabei eine Rolle, ob die Betroffenen aus
der jeweiligen Region kommen, ob sie dort eine sichere und menschenwür-
dige Unterkunft und Existenzgrundlage finden können, ob von ihnen ver-
nünftigerweise erwartet werden kann, sich dort niederzulassen, und ob sie
diese Region auch sicher und legal erreichen können (etwa von Kabul aus;
bitte genau ausführen)?

12. Inwieweit sind die Planungen zu verstärkten Abschiebungen nach Afghanis-
tan unter Hinweis auf innerstaatliche Fluchtalternativen mit der aktuellen
obergerichtlichen Rechtsprechung zur Frage von sicheren Fluchtalternativen
bzw. eines internen Schutzes in Afghanistan vereinbar (bitte ausführen)?

13. Inwieweit wurde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) be-
reits angewiesen, interne Hinweise oder entscheidungsleitende Vorgaben zu
innerstaatlichen Fluchtalternativen in Afghanistan zu überprüfen oder zu än-
dern?

a) Inwieweit hat das BAMF entsprechende Änderungen in diesem Jahr be-
reits vorgenommen, bzw. wie lauten die jetzigen behördeninternen Vor-
gaben und Leitlinien zu dieser Frage?

b) Inwieweit ist geplant, das BAMF zu einer geänderten Einschätzung,

c) oder Praxis bezüglich dieser Frage anzuweisen, oder mit ihm eine andere
Verfahrensweise zu besprechen (bitte möglichst konkret antworten)?

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14. Ist es zutreffend, dass sowohl vom BAMF als auch von den Verwaltungsge-
richten die Frage, ob inländische Fluchtalternativen in Afghanistan bestehen,
bereits jetzt regelmäßig geprüft wird, bevor sie einen Schutzstatus zuspre-
chen, und welche Einschätzungen fachkundiger Bediensteter des BAMF lie-
gen dazu vor, in welchem ungefähren Umfang derzeit bei afghanischen Asyl-
suchenden ein Schutzstatus mit der Begründung interner Fluchtalternativen
versagt wird?

15. Wie ist die Erklärung des Bundesinnenministers: „Wir wollen, dass
in Afghanistan das Signal ankommt: ‚Bleibt dort! Wir führen euch
aus Europa […] direkt nach Afghanistan zurück!“, die er mit den „in
der Regel niedrigen Chancen auf eine Anerkennung der Schutzbedürftigkeit“
begründete (www.bmi.bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2015/11/
bundesinnenminister-auf-dem-sonderrat-der-innenminister-in-bruessel.html),
damit vereinbar, dass die bereinigte Schutzquote bei afghanischen Asylsu-
chenden im zweiten Quartal 2015 78,4 Prozent betrug (Bundestagsdrucksa-
che 18/5785, Antwort zu Frage 1b)?

16. Wie viele Abschiebungen nach Afghanistan gab es in den letzten Jahren
(bitte nach Jahren differenziert darstellen), und inwieweit ist es vor diesem
Hintergrund und angesichts der aktuell verschärften Sicherheitslage in Af-
ghanistan realistisch, die Zahl der Abschiebungen nach Afghanistan intensi-
vieren zu können (bitte ausführen)?

17. Wie viele afghanische Staatsangehörige leben derzeit mit welchem Aufent-
haltsstatus in Deutschland (bitte nach Geschlecht, Alter, Bundesländern, Sta-
tus und Aufenthaltsdauer differenzieren), und wie viele dieser Personen sind
jeweils vollziehbar oder bestandskräftig ausreisepflichtig?

18. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung dazu, aus welchen Gründen Ab-
schiebungen rechtskräftig oder vollziehbar ausreisepflichtiger afghanischer
Staatsangehöriger nach Afghanistan nicht oder nur in geringer Zahl vollzo-
gen werden, und inwieweit könnte sich hieran in absehbarer Zeit etwas än-
dern (bitte ausführen)?

Berlin, den 26. November 2015

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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