BT-Drucksache 18/636

Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen

Vom 20. Februar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/636
18. Wahlperiode 19.02.2014

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan Korte, Dr. André
Hahn, Katja Kipping, Katrin Kunert, Petra Pau, Azize Tank, Frank Tempel,
Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab dem
Jahr 1997 nachträglich auszahlen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 2002 mit der Verabschiedung des Gesetzes
zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG)
die rechtliche Grundlage dafür geschaffen, dass Holocaust-Überlebende, die wäh-
rend des Zweiten Weltkrieges in Ghettos gearbeitet haben, Rentenansprüche
geltend machen können.
Bei der Umsetzung des Gesetzes haben sich aber gravierende Probleme ergeben,
die sich bis heute auswirken und einer raschen Lösung bedürfen.
Das Gesetz, das vom Parlament einstimmig verabschiedet wurde, sollte es den
Überlebenden ermöglichen, rückwirkend ab dem Jahr 1997 ihre Rentenansprüche
zu beziehen. Doch in den ersten Jahren wurden weit über 90 Prozent der Anträge
abgelehnt, weil zentrale Begriffe wie die „Freiwilligkeit“ der Arbeitsaufnahme
und die Arbeit „gegen Entgelt“ restriktiv interpretiert worden waren. Im Jahr
2009 stellte das Bundessozialgericht klar, dass diese Begriffe den konkreten Be-
dingungen entsprechend auszulegen seien, die in den Ghettos geherrscht hatten
(vgl. BSG, Urteil v. 2. Juni 2009 – B 13 R 81/08 R). Bei einer Neuüberprüfung
aller bis dahin abgelehnten Anträge wurde über die Hälfte dann nachträglich
bewilligt.
Bei der Nachzahlung der bis dahin entstandenen Rentenansprüche wurde aber die
im Sozialrecht übliche Befristung der Rückwirkung auf vier Jahre angewandt.
Das bedeutete für 21 500 Betroffene, dass ihnen die Rente nicht, wie vom Deut-
schen Bundestag einst angestrebt, mit Wirkung ab 1997 ausgezahlt wurde, son-
dern erst ab 2005.
Die verzögerte Auszahlung führt in zahlreichen Fällen zu neuen Ungerechtigkei-
ten, weil sich die Summe der entgangenen Rentenzahlungen zwischen 1997 und
2005 auf mehrere tausend bis zehntausend Euro beläuft. Zwar erhöht sich durch
den verzögerten Auszahlungsbeginn der Zugangsfaktor, also die Rentenhöhe, um
bis zu 45 Prozent, so dass rein rechnerisch der entstandene Nachteil im Laufe der
Zeit ausgeglichen wäre. Doch das ist für viele Betroffene unrealistisch, insbeson-
dere für Personen im höchst fortgeschrittenen Lebensalter. Auch der Bundesrat
hat in seinem Beschluss vom 20. September 2013 festgestellt: „Angesichts des

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hohen Alters der ehemaligen Ghettobeschäftigten ist damit zu rechnen, dass sich
dieser Ausgleichseffekt in der übergroßen Zahl der Fälle nicht materialisieren
wird“, und deswegen die rückwirkende Auszahlung der Renten bzw. eine Ände-
rung der sogenannten Anerkennungsrichtlinie gefordert (Bundesratsdrucksache
549/13).
Der Deutsche Bundestag hält es angesichts der besonderen Verantwortung
Deutschlands für die Überlebenden des NS-Terrors für dringend geboten, die
beschriebene Problematik rasch zu lösen. Den Betroffenen sollte daher die Mög-
lichkeit offeriert werden, ihre Rentenbezüge rückwirkend ab 1997 ausgezahlt zu
erhalten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

binnen drei Monaten nach Verabschiedung dieses Antrages einen Gesetzentwurf
vorzulegen, der die rechtlichen Grundlagen dafür schafft, dass ehemalige Ghetto-
beschäftigte bei fristgerecht gestellten, aber zunächst bestandskräftig abgelehnten
und erst nach 2009 bewilligten Rentenanträgen nach dem Gesetz zur Zahlbar-
machung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto eine rückwirkende
Auszahlung der Rente ab dem 1. Juli 1997 erhalten, wenn sie dies wünschen.

Berlin, den 20. Februar 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts von 2009 folgende Neuüberprüfung der Rentenanträge
hat das Problem nicht gelöst, sondern neue Ungerechtigkeiten geschaffen.
Bei jenen Anträgen, die vor 2009 rechtskräftig abgelehnt und die im Zuge der Neuüberprüfung anerkannt
worden waren, wurde die Rückwirkungsklausel nach § 44 Absatz 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB X) angewandt, wonach eine Rückwirkung von maximal vier Jahren gilt. In 21 500 Fällen hatte das
zur Folge, dass die Berechtigten ihre Renten nicht, wie ursprünglich vorgesehen, mit Wirkung ab 1997
erhielten, sondern erst mit Wirkung ab 2005.
Damit ging in etlichen Fällen ein erheblicher finanzieller Verlust einher. Verschiedene Berechnungen von
Rechtsanwälten, aber auch die Auskünfte der Bundesregierung insbesondere auf parlamentarische Anfragen
(etwa Bundestagsdrucksachen 17/13204 und 17/13355) zeigen, dass vor allem hochbetagte Personen durch
die um knapp sieben Jahre verzögerte Auszahlung Verluste in teils fünfstelliger Höhe hinnehmen mussten.
Um diese Verluste durch den höheren Zugangsfaktor auszugleichen, müssten die Betroffenen mitunter eine
Lebenserwartung von weit über 100 Jahren haben. Eine solche Annahme ist leider in den meisten Fällen
nicht realistisch. Aus diesem Grund haben sich auch fast alle Rentenberechtigten, auf die das Urteil des
Bundessozialgerichts vom 19. April 2011 (betreffend die Wirkung des deutsch-israelischen Rentenabkom-
mens) anwendbar war, für eine rückwirkende Auszahlung und Neufestsetzung der Rente entschieden.
Der Deutsche Bundestag hatte sich der Problematik aufgrund von Anträgen der Fraktion DIE LINKE. und
der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits in der 17. Legislaturperiode gewidmet, der
Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am 10. Dezember 2012 eine Sachverständigenanhörung durchge-
führt. Mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU und FDP wurden die genannten Anträge abgelehnt.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/636

Im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und SPD darauf verständigt, „den berechtigten Interessen der
Holocaust-Überlebenden nach einer angemessenen Entschädigung für die in einem Ghetto geleistete Arbeit
Rechnung“ tragen zu wollen. Die Details hierzu sind genauso wenig festgelegt wie der Zeitraum.
Zu berücksichtigen ist in jedem Fall, dass der Begriff „Entschädigung“ nicht wörtlich zu nehmen ist. Arbeit
im Ghetto begründet vielmehr einen rentenrechtlichen Zahlungsanspruch. Eine Lösung innerhalb des Ren-
tenrechts, im Sinne einer rückwirkenden Auszahlung der entgangenen Rentenzahlungen in Verbindung mit
einer Neufestsetzung der Rentenhöhe, entspräche dem Gerechtigkeitsgebot am ehesten und jedenfalls weit
mehr als etwa eine pauschale Entschädigungszahlung. Weil im Einzelfall auch ein Verzicht auf eine Nach-
zahlung nebst Beibehaltung der nunmehr (höheren) Rente von Vorteil für die Betroffenen sein kann, soll
ihnen die Entscheidung überlassen bleiben.
Die Kosten für den Bundeshaushalt betragen, nach einer Schätzung der Bundesregierung vom April 2013,
einmalig rund 175 Mio. Euro, dieser Summe würden dann Minderausgaben bei den laufenden Rentenzah-
lungen folgen. Damit ist klar, dass eine rasche Lösung nicht an den Kosten scheitern darf.
Eine Lösung muss in jedem Fall schnell herbeigeführt werden. Nach Schätzung der Deutschen Rentenversi-
cherung ist im Zeitraum von 2009 bis Frühjahr 2013 ein Viertel der Berechtigten verstorben. Die bisherigen
Verzögerungen waren bereits unverhältnismäßig, jede weitere Verzögerung schadet der Ernsthaftigkeit des
Anspruchs, die Opfer des Holocaust zu würdigen. Es ist beschämend genug, dass die ins Ghetto gezwunge-
nen Menschen erst über 50 Jahre nach ihrer Befreiung erstmals einen Rentenanspruch zugebilligt bekom-
men haben, es ist auch beschämend genug, dass die Umsetzung dieser Rentenansprüche in ihrer vollen
Höhe bis zum heutigen Tag in zahlreichen Fällen nicht gewährleistet ist. In der Anhörung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales vom 10. Dezember 2012 wurde deutlich, dass zahlreiche Holocaust-Überlebende in
einer schwierigen finanziellen Situation sind. Die Überlebenden brauchen das Geld jetzt.

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