BT-Drucksache 18/6309

Mögliche Probleme bei der Umsetzung des Ghettorenten-Gesetzes, insbesondere in Hinblick auf die Opfergruppe osteuropäischer Roma

Vom 6. Oktober 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6309
18. Wahlperiode 06.10.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,

Christine Buchholz, Annette Groth, Andrej Hunko, Katja Kipping,

Katrin Kunert, Niema Movassat, Martina Renner, Dr. Petra Sitte, Kersten Steinke,

Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich

und der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche Probleme bei der Umsetzung des Ghettorenten-Gesetzes, insbesondere
in Hinblick auf die Opfergruppe osteuropäischer Roma

Der Deutsche Bundestag hat mit den Stimmen aller Fraktionen im Juni 2014 das
Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto
(ZRBG) geändert. Zu den wesentlichen Änderungen gehört der Wegfall von § 44
Absatz 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), wodurch Rentenan-
träge nunmehr stets als zum 1. Juli 1997 gestellt zählen. Diejenigen Betroffenen,
deren Rentenzahlungen nicht ohnehin mit Wirkung zum 1. Juli 1997 berechnet
worden sind, haben nun die Wahl zwischen der Beibehaltung der bisherigen Ren-
tenzahlung (mit erhöhten Zuschlägen) oder einer Neuberechnung ihrer Rentenan-
sprüche (mit einer Absenkung der Monatsbezüge, aber einer im Einzelfall be-
trächtlichen Nachzahlung). Außerdem gilt das Gesetz nunmehr auch für solche
Ghettos, die im nicht unmittelbar vom Deutschen Reich besetzten nationalsozia-
listischen Einflussbereich lagen. Dazu zählen etwa Rumänien und die Slowakei
sowie das Ghetto Shanghai.

Den Fragestellern liegen Informationen vor, denen zufolge es bei der Umsetzung
des ZRBG spezifische Probleme gibt. Betroffen davon sind speziell Roma, die
zwischen den Jahren 1942 und 1944 aus Rumänien bzw. Bessarabien (heutiges
Moldau) und Nordbukowina (heute Ukraine) in das damalige, von Rumänien
kontrollierte „Transnistrien“ deportiert und dort zwangsweise in Ghettos bzw. so-
genannten Kolonien angesiedelt worden waren. Nach den geschilderten Berich-
ten ist gegenwärtig unklar, ob alle diese Orte als Ghettos im Sinne des ZRBG
betrachtet werden, und ob die deutschen Rentenversicherungen die dort erbrach-
ten Tätigkeiten als freiwillig erbrachte Arbeitsleistung anerkennen. Dies wäre aus
Sicht der Fragesteller aufgrund des unfreiwilligen Aufenthaltes dort auf jeden Fall
geboten. Auch wenn diese Ghettos teilweise „offen“ waren, war es den Depor-
tierten untersagt, die Ortschaften zu verlassen. So unterschiedlich die konkreten
Lebensbedingungen in den jeweiligen Orten auch waren, so waren die Deportier-
ten doch überall auf eine Arbeitsmöglichkeit angewiesen. Weit über
10 000 Roma, die keine Möglichkeit zum Gelderwerb hatten, sind aufgrund des
fehlenden Zugangs zu Lebensmitteln, Kleidung, Heizmitteln und Medikamenten
in Transnistrien gestorben.

Dazu kommt, dass nach dem Eindruck der Fragesteller die überlebenden Depor-
tierten überwiegend nur geringe Kenntnis von ihren allfälligen Rentenansprüchen
haben. Den Fragestellern liegen Berichte vor, denen zufolge eine Anwaltskanzlei

Drucksache 18/6309 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

 

in Sibiu gezielt die Erben deportierter Roma anspricht (www.mariustuca.ro vom
20. Juli 2015). Diesen werde gegen Gebühr in Aussicht gestellt, in Deutschland
Rentenzahlungen anzufordern, obwohl ihnen, wenn nicht die Deportierten selbst
noch Rentenanträge gestellt haben, keinerlei Ansprüche nach dem ZRBG zu-
stehen. Der betroffene Anwalt selbst beabsichtigt nach Informationen der Frage-
steller, Entschädigungsklagen gegen Deutschland anzustrengen, ggf. auch unab-
hängig von der Rentenfrage. Die Vorgänge verdeutlichen aus Sicht der Fragestel-
ler jedenfalls die Notwendigkeit, Informationen über das Gesetz rasch und breiter
zu kommunizieren, als bisher geschehen.

Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie sichergestellt wird, dass die absehbar
wenigen berechtigten Personen schnellstmöglich zu ihrem Recht kommen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Seit wann werden Arbeitsleistungen in Ghettos auf dem Gebiet des damali-
gen Transnistrien von den Rentenversicherungen im Sinne des ZRBG aner-
kannt?

2. Welche Aktivitäten haben die deutschen Auslandsvertretungen in Rumänien,
Moldau und der Ukraine unternommen, um über die Möglichkeit, ZRBG-
Anträge für Arbeitsleistungen in transnistrischen Ghettos zu stellen, aufzu-
klären? Wann, wo und in welchen Sprachen wurden entsprechende Informa-
tionen bereitgestellt?

3. Welche Änderungen für nach Transnistrien Deportierte hat das ZRBG-Än-
derungsgesetz im Jahr 2014 konkret mit sich gebracht?

4. Welche Aktivitäten haben die deutschen Auslandsvertretungen in Rumänien,
Moldau und der Ukraine seit Juli 2014 unternommen, um über die veränderte
Gesetzeslage aufzuklären?

a) Warum hat die deutsche Botschaft in Bukarest nach Information der Fra-
gesteller erst im Februar 2015 eine entsprechende Information auf ihrer
Website bereitgestellt?

b) Warum hat die deutsche Botschaft in Moldau nach Information der Fra-
gesteller keine entsprechende Information auf ihrer Website bereitge-
stellt?

c) Was wird unternommen, um insbesondere Roma über das ZRBG aufzu-
klären, und mit welchen Roma-Organisationen sowie Behörden wird da-
bei seitens der deutschen Auslandsvertretungen sowie Rentenkassen zu-
sammengearbeitet?

5. Warum waren die Merkblätter der Deutschen Rentenversicherung, die über
die Rechtsänderungen informieren sollten, ausweislich der Antwort der Bun-
desregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. auf Bundes-
tagsdrucksache 18/2428 nach Information der Fragesteller nicht in rumäni-
scher bzw. moldauischer Sprache verfasst?

Sind mittlerweile Merkblätter in dieser Sprache verfasst worden und wenn
ja, wo kommen diese zum Einsatz (bitte ggf. auch Fundstelle im Internet
mitteilen)?

Wenn nein, warum nicht?

6. Welche Erfahrungen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung mit Anträ-
gen Betroffener gemacht, die zwischen den Jahren 1942 und 1944 nach
Transnistrien deportiert worden waren?

a) Welche Maßstäbe werden an die Charakterisierung der damaligen Depor-
tationsorte als Ghettos im Sinne des ZRBG gestellt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6309

 

b) Ist es sichergestellt, dass sämtliche Orte im damaligen Transnistrien, in
die Roma oder Juden deportiert worden waren und bei denen es sich nicht
um Konzentrations- oder Zwangsarbeitslager handelte, als Ghettos im
Sinne des ZRBG anerkannt sind, auch solche, die als „Kolonien“ bezeich-
net wurden bzw. einzelne Häuser in nicht abgeschlossenen Ortschaften,
in die damals Roma-Familien zwangsweise einquartiert worden waren,
und wenn nein, warum nicht?

c) Liegen den Rententrägen nach Kenntnis der Bundesregierung Anträge zu-
grunde, die sich auf eine Arbeit in einem Ghetto in Transnistrien beziehen,
das nicht in der „Ghettoliste“ aufgeführt ist, und wenn ja, wie wurde in
diesen Fällen entschieden?

Welche Regelungen und Vorgehensweisen gibt es generell für solche o-
der vergleichbare Fälle, und inwiefern wird dabei berücksichtigt, dass es
hinsichtlich des Deportationsschicksals von Roma in Transnistrien nach
Einschätzung der Fragesteller noch große Forschungslücken gibt?

d) Inwiefern treffen die Informationen der Fragesteller zu, dass es insbeson-
dere bei Anträgen von Roma, die nach Transnistrien deportiert worden
waren, Probleme bei der „Anerkennung“ als Ghettos durch die deutschen
Rententräger bzw. bei der Anerkennung der Arbeitsleistung als solche
gibt?

Welche Zahlen kann die Bundesregierung hierzu mitteilen?

e) Welche weiteren Angaben kann die Bundesregierung zu spezifischen
Problemen bei ZRBG-Anträgen von Roma bezüglich Ghettos in Transnis-
trien machen?

f) Was will die Bundesregierung unternehmen, um diese Probleme rasch zu
beseitigen?

7. Wie viele Anträge wegen einer Arbeit in einem Ghetto in Transnistrien sind
seit Berücksichtigung Transnistriens durch die Rentenversicherungen von
Personen aus

a) der Ukraine,

b) Moldau,

c) Rumänien,

d) anderen Ländern

jeweils neu gestellt worden?

Inwiefern hatte das Änderungsgesetz zum ZRBG Auswirkungen auf die Zahl
von Neuanträgen, die sich auf Ghettos in Transnistrien beziehen?

Wie viele dieser Anträge sind mittlerweile rechtskräftig anerkannt, wie viele
abgelehnt, und bei wie vielen dauert die Bearbeitung noch an (bitte für die
genannten Länder aufschlüsseln und falls möglich angeben, für wie hoch die
Bundesregierung den Anteil der Roma unter den Antragstellern einschätzt)?

Wie hoch war die getätigte Nachzahlung (bitte möglichst die Gesamtsumme
und mittlere Spannweite der Beträge angeben)?

8. Wie viele Anträge wegen einer Arbeit in einem Ghetto in Transnistrien, die
bereits vor der genannten Änderung des ZRBG gestellt, aber abgelehnt wur-
den, wurden nun erneut geprüft?

Drucksache 18/6309 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

 

Wie viele dieser Anträge sind mittlerweile rechtskräftig positiv entschieden,
wie viele abgelehnt, und bei wie vielen dauert die Bearbeitung noch an (bitte
für die Ukraine, Moldau, Rumänien und andere Länder aufschlüsseln und
falls möglich zusätzlich angeben, wie viele Anträge jeweils von Roma stam-
men)?

Wie hoch war die getätigte Nachzahlung (bitte möglichst die Gesamtsumme
und die mittlere Spannweite der Beträge angeben)?

9. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den bisherigen
Erfahrungen mit ZRBG-Anträgen, insbesondere von Roma, die sich auf
Ghettos im früheren Transnistrien beziehen?

10. Wie viele ZRBG-Empfänger leben gegenwärtig in der Ukraine, in Moldau
und Rumänien?

Wie viele ZRBG-Empfänger waren es jeweils vor einem Jahr?

11. Wie viele Anträge wurden von Antragstellern, die eine Arbeit in Ghettos in
anderen Gebieten (ohne Transnistrien) verrichtet hatten, die im nationalsozi-
alistischen Einflussgebiet lagen, seit Inkrafttreten des Änderungsgesetzes
zum ZRGB gestellt (bitte nach der Lage der Ghettos auflisten und angeben,
wie viele dieser Anträge positiv, negativ oder noch nicht beschieden sind)?

Gibt es bei der Bearbeitung solcher Anträge bzw. der Bearbeitungsdauer spe-
zifische Probleme, und wenn ja, welcher Art, und wie wird diesen begegnet?

12. Welche spezifischen Erfahrungen wurden bislang mit Anträgen aus Maze-
donien gemacht?

Inwiefern geht die Bundesregierung davon aus, dass es auf dem Gebiet des
bulgarisch besetzten Mazedoniens Ghettos gegeben hat?

13. Welche Überlegungen haben dazu geführt, dass Hilfsmittel der sogenannten
Ghettoliste, welche nach Angaben der Bundesregierung im April 2014 noch
„nicht zur Veröffentlichung vorgesehen“ war (Bundestagsdrucksa-
che 18/2428), im Juni 2015 doch auf die Homepage des Bundesministeriums
der Finanzen zu stellen?

14. Wie viele ZRBG-Empfänger wurden nach der Gesetzesänderung angeschrie-
ben, um sie über die Möglichkeit der Neuberechnung zu informieren, und
wie viele entschieden sich für bzw. gegen eine Neuberechnung bzw. haben
auf das Schreiben nicht reagiert?

Wie viele der Anträge auf Neuberechnung sind mittlerweile erledigt, und wie
hoch waren die Nachzahlungen (bitte den Gesamtwert und die mittlere
Spanne angeben)?

15. Wie viele ZRBG-Bezieher gibt es derzeit insgesamt, und wie viele ZRBG-
Anträge befinden sich noch in Bearbeitung?

16. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von den geschilderten Aktivitäten
der Rechtsanwaltskanzlei in Sibiu, und welche Schlussfolgerungen zieht sie
daraus?

Berlin, den 6. Oktober 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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