BT-Drucksache 18/6150

Unfalluntersuchung und Nachwirkungen der Zugentgleisungen im Jahr 2012 im Stuttgarter Hauptbahnhof

Vom 23. September 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/6150
18. Wahlperiode 23.09.2015

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden), Markus Tressel,
Tabea Rößner, Kerstin Andreae, Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger,
Harald Ebner, Sylvia Kotting-Uhl, Christian Kühn (Tübingen),
Beate Müller-Gemmeke, Cem Özdemir, Dr. Gerhard Schick
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Unfalluntersuchung und Nachwirkungen der Zugentgleisungen im Jahr 2012 im
Stuttgarter Hauptbahnhof

Am 24. Juli 2012 sowie am 29. September 2012 kam es bei der Ausfahrt aus
Gleis 10 des Stuttgarter Hauptbahnhofs zu Zugentgleisungen. Betroffen war an
beiden Tagen der aus elf Reisezugwagen bestehende Intercity 2312. Bei der ers-
ten Entgleisung entstand ein Sachschaden in Höhe von 370 000 Euro. Bei der
zweiten Entgleisung wurden acht Personen verletzt und es entstand ein Sachscha-
den von rund 1,7 Mio. Euro.

Die beiden Entgleisungen wurden von der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle
des Bundes (EUB) untersucht. Zur Aufklärung der Unfallursache wurde am
9. Oktober 2012 eine Versuchsfahrt durchgeführt, die ebenfalls eine Entgleisung
zur Folge hatte. Im Untersuchungsbericht der EUB (Aktenzeichen 60-60uu2012-
09/00205) vom 8. April 2014 werden die Entgleisungen hauptursächlich auf ein
Versagen von Puffern an den Reisezugwagen zurückgeführt. Die bei allen drei
Entgleisungen befahrene Ausfahrzugstraße musste für das Projekt Stuttgart 21
weitreichend umgebaut werden, um Platz für die Baugrube zu schaffen. Bei die-
sem Umbau wurde mehrfach und auf engem Raum von langjährig erprobten Re-
gelwerten sowie Soll-Vorgaben abgewichen. Dennoch bewertet die EUB infra-
strukturelle Einflüsse lediglich als begünstigend für den Unfallhergang.

Weiterhin kam es in der Unfalluntersuchung zu zahlreichen Ungereimtheiten. So
verschwanden zum Beispiel relevante Puffer der verunfallten Fahrzeuge spurlos.
Zudem unterscheidet sich der Unfallbericht augenscheinlich von vergleichbaren
Berichten der EUB: Er ist deutlich weniger detailliert, anders strukturiert und ver-
zichtet auf konkrete Schlussfolgerungen. Derartige Umstände erschweren es er-
heblich, wichtige Lehren aus den Unfällen ziehen zu können.

Wie von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Jahr 2014 zu diesem Thema (Bundestags-
drucksache 18/2852) erläutert, wurden strenge Auflagen für den Betrieb auf den
betroffenen Gleisen erlassen, um weitere Entgleisungen in Stuttgart zu verhin-
dern. Neben der allgemeinen Aufklärung der Unfalluntersuchungspraxis ist es ein
weiteres Ziel dieser Kleinen Anfrage, die aus diesen Auflagen resultierenden Ein-
schränkungen des Schienenverkehrs am Stuttgarter Hauptbahnhof bewerten zu
können. Auch werden Fragen, die in der zurückliegenden Kleinen Anfrage von
der Bundesregierung unvollständig oder überhaupt nicht beantwortet wurden,
hier erneut gestellt. So zum Beispiel die zur Einordnung der Vorfälle in Stuttgart

Drucksache 18/6150 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

zentrale Frage, wo in Deutschland eine solche Trassierung noch auftritt (vgl.
Frage 2 dieser Kleinen Anfrage und Frage 18 der Kleinen Anfrage auf Bundes-
tagsdrucksache 18/2852).

Wir fragen die Bundesregierung:

Trassierung der betroffenen Ausfahrzugstraße

1. Wie hoch waren nach Kenntnis der Bundesregierung die laut EUB-Untersu-
chungsbericht (vgl. Seite 26) von den Regelwerten bzw. Soll-Vorgaben ab-
weichenden Trassierungsparameter Gleisbogenradius, Längsneigung, Länge
von (Zwischen-)Geraden, Einbau von Kreuzungsweichen (Endneigung
1:7,5, d. h. mit gebogenen Herzstücken; im Hauptgleis mit r0 < 300 m) der
Fahrstraße ab dem Ausfahrsignal an Gleis 10 bis zum Streckenkilometer 1,4
nach der baulichen Fertigstellung (bitte Ist- und Sollwert tabellarisch je Tras-
sierungselement mit Kilometrierung gegenüberstellen)?

2. Wo in Deutschland tritt nach Kenntnis der Bundesregierung eine solche oder
vergleichbare örtlich eng begrenzte Abfolge von Trassierungselementen wie
in der Ausfahrzugstraße aus Gleis 10 des Stuttgarter Hauptbahnhofs in Zug-
fahrstraßen auf Hauptbahnen auf (bitte Ist- und Sollwert tabellarisch je Tras-
sierungselement mit Kilometrierung gegenüberstellen)?

3. Welche Auflagen wurden bei der gleisgeometrischen Prüfung am
11. März 2009 gemacht (vgl. EUB-Bericht Seite 25)?

4. Wie konnten die Pläne des umgebauten Gleisvorfelds in der Anlage 4.11 der
Planfeststellungsunterlagen (PFA 1.1) nach Kenntnis der Bundesregierung
vom Eisenbahnbundesamt planfestgestellt werden, obwohl sie einen nach
Auffassung der Fragesteller qualitativen Unterschied (z. B. Unleserlichkeit
durch Überdrucken) zu anderen derartigen Planunterlagen (z. B. Umbau
Bahnhof Bad Wimpfen) sowie einen kleinen Maßstab aufweisen, und zudem
in den betreffenden Planunterlagen auf die Darstellung von Details in sepa-
raten Plänen mit größerem Maßstab verzichtet wurde?

Unfalluntersuchung durch die EUB

5. War der Reisezugwagen mit der Wagennummer D-DB 51 80 22-94 809-6
Bimz 264.4 nach Kenntnis der Bundesregierung in einen der im Stuttgarter
Hauptbahnhof im Jahr 2012 entgleisten Züge eingereiht, und wenn ja, warum
ist dieser Wagen in keiner der Zugbildungsübersichten auf der Seite 33 im
Unfalluntersuchungsbericht der EUB erwähnt?

6. Wie kann man nach Einschätzung der Bundesregierung bei einer Puffertel-
lerüberdeckung von 20 Millimetern hauptursächlich von einem Versagen der
Pufferteller sprechen, obwohl diese Puffer nach Auffassung der Fragesteller
(vgl. hierzu auch Abb. 15 in EUB 2014, S. 47 f.) durch die Trassierung einer
deutlich überhöhten Belastung ausgesetzt waren?

7. Wie erklärt sich die Bundesregierung, dass mehrere der entgleisten Wagen
trotz der laut Unfalluntersuchungsbericht in einer Kurve eingetretenen Ent-
gleisung keine Lackschäden an den betroffenen Wagenenden aufweisen?

8. Wann und durch wen wurde im Laufe der Unfalluntersuchung zum ersten
Mal festgestellt, dass sich Pufferteller des Zuges verbogen haben, und wie
wurden diese Beschädigungen erstmals dokumentiert?

9. Sind nach Kenntnis der Bundesregierung bei der Versuchsfahrt vom 9. Ok-
tober 2012 neben dem im Unfallbericht auf Seite 47 zu findenden Bild wei-
tere Bilder oder Videos entstanden?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/6150

Wenn ja, können diese Bilder oder Videos den Fragestellern ausgehändigt
oder der Öffentlichkeit auf andere Weise zugänglich gemacht werden?

Falls die Bilder nicht zugänglich gemacht werden können, warum nicht?

10. Warum hat die EUB nach Kenntnis der Bundesregierung ihre rechtlichen
Möglichkeiten gemäß § 26 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, § 5 des All-
gemeinen Eisenbahngesetzes, § 2 der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsver-
ordnung sowie §11 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes zur Erzwingung
von Unterlagen oder Beweismitteln nicht ausgeschöpft, sondern stattdessen
mehrfach Näherungen selbst ermittelt?

11. Wie erklärt sich die Bundesregierung die von anderen Unfalluntersuchungs-
berichten abweichende Struktur sowie Qualität des Berichts der EUB vom
8. April 2014?

12. Sollen zukünftige Unfalluntersuchungsberichte der EUB nach Kenntnis der
Bundesregierung eine vergleichbare Struktur und Qualität aufweisen, wie
der Unfallbericht zu den Entgleisungen im Stuttgarter Hauptbahnhof und
wenn nein, warum nicht?

13. Durch welche Maßnahmen ist nach Einschätzung der Bundesregierung eine
politische Einflussnahme auf die Eisenbahnunfalluntersuchungsstelle des
Bundes ausgeschlossen, und sind diese Maßnahmen aus Sicht der Bundesre-
gierung ausreichend?

14. Erfolgte im Fall der Unfalluntersuchung der Entgleisungen aus dem
Jahr 2012 nach Kenntnis der Bundesregierung irgendeine Form der politi-
schen Einflussnahme auf die Eisenbahnunfalluntersuchungsstelle des Bun-
des, und wenn ja, welche?

15. Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung zutreffend, dass es in den vergan-
genen Jahren Änderungen beim Bereitschaftsdienst der EUB gab?

Wenn ja, welcher Art waren diese Änderungen, und inwieweit führten diese
Änderungen im Bereitschaftsdienst der EUB nach Kenntnis der Bundesre-
gierung bei der Entgleisung im Mannheimer Hauptbahnhof im Jahr 2014
bzw. bei anderen Unfällen dazu, dass es zur Verzögerung der Wiederauf-
nahme des Bahnbetriebes nach dem Unfall kam?

Entwicklungen seit der Kleinen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 18/2852

16. Sind die bei der Untersuchung verschwundenen relevanten Puffer der verun-
fallten Fahrzeuge vom 29. März 2012 wieder aufgefunden worden, bezie-
hungsweise wurden zum Verschwinden seither weitere Nachforschungen an-
gestellt?

17. Welche Ermittlungen von Strafverfolgungsbehörden gab es nach Kenntnis
der Bundesregierung im Nachgang der Entgleisungen im Stuttgarter Haupt-
bahnhof, und welche Ergebnisse resultierten daraus (bitte die jeweiligen
Straftatbestände angeben)?

18. Welche Änderungen wurden bisher nach Kenntnis der Bundesregierung in
den bahninternen Richtlinien bzw. anderen Regelwerken den Empfehlungen
des Unfalluntersuchungsberichtes der EUB folgend vorgenommen (bitte als
Gegenüberstellung vorher bzw. nachher angeben, vgl. zu dieser Frage auch
EUB 2014, Seite 53, sowie die Antwort auf die kleine Anfrage zu Frage 13
auf Bundestagsdrucksache 18/2852)?

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Auswirkungen auf den aktuellen Betrieb im Stuttgarter Hauptbahnhof und darüber hinaus

19. Wie hat sich die Pünktlichkeit (Ankunfts- und Abfahrtsverspätungen) im
Stuttgarter Hauptbahnhof seit dem Jahr 2005 nach Kenntnis der Bundesre-
gierung entwickelt (bitte tabellarisch mit Angabe der Verspätungsminuten je
Verspätungsursache pro Jahr getrennt für Stuttgart Hauptbahnhof (oben) und
Stuttgart Hauptbahnhof (tief) angeben)?

20. Welche Auflagen als Folgen der Entgleisungen im Jahr 2012 gelten nach
Kenntnis der Bundesregierung aktuell am Gleis 8, am Gleis 10 bzw. an an-
deren Gleisen des Stuttgarter Hauptbahnhofs?

21. Welche konkreten Auswirkungen hatten und haben diese Auflagen nach
Kenntnis der Bundesregierung auf den Betrieb, die Kapazität sowie die Fle-
xibilität im Stuttgarter Hauptbahnhof sowie auf den Zu- und Ableitungsstre-
cken (z.B. Gleisverlegungen, kurzfristiges Abstellen von Zügen im Gleisvor-
feld anstatt an den Bahnsteigen, längere Wartezeiten im Gleisvorfeld)?

22. Welche Möglichkeiten wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in Be-
tracht gezogen, um die Auswirkungen dieser Auflagen zu reduzieren, und
welche davon wurden umgesetzt?

23. Wo in Deutschland werden nach Kenntnis der Bundesregierung im Fern- und
Ballungsnetz noch Zugfahrten mit Auflagen wie an Gleis 10 des Stuttgarter
Hauptbahnhofs versehen?

24. Ist es nach Kenntnis der Bundesregierung zutreffend, dass sich die im Stutt-
garter Hauptbahnhof erteilten Auflagen über längere Zeit mehrfach negativ
auf die Interregio-Express-Verbindung Stuttgart—Lindau auswirkten bzw.
auswirken, sodass Anschlüsse in Ulm und Friedrichshafen nicht erreicht
wurden, und wenn ja, was wurde unternommen, um diese Problematik zu
beheben (vgl. hierzu Stuttgarter Zeitung vom 24. Dezember 2014,
www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgarter-hauptbahnhof-warten-auf-die-
puenktlichkeit-page1.3ae516ed-0682-4429-acfa-3b8f6fc7b00f.html)?

25. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass bis zu den Zugentglei-
sungen im Stuttgarter Hauptbahnhof IC- bzw. EC-Züge auch mit Speisewa-
gen mit einer Wagenlänge von 27,50 m eingesetzt wurden und heute nur
noch Speisewagen mit einer Wagenlänge von 26,40 m im Einsatz sind, und
wenn ja, in welchem Zusammenhang steht dies zu den Entgleisungen?

26. Über welche Zeitspanne nach den Entgleisungen im Jahr 2012 wurden nach
Kenntnis der Bundesregierung gar keine Speisewagen an IC- bzw. EC-Zügen
eingesetzt?

27. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Bestand an Speisewagen mit ei-
ner Wagenlänge von 26,40 m ausreichend, um sämtliche betroffenen IC-
bzw. EC-Züge damit ausstatten zu können?

Berlin, den 23. September 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion

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