BT-Drucksache 18/5812

Tafeln - Entwicklung, Praxis und Stellung im System sozialer Hilfen in Deutschland

Vom 18. August 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5812
18. Wahlperiode 18.08.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann (Zwickau), Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Azize Tank,
Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

Tafeln – Entwicklung, Praxis und Stellung im System sozialer Hilfen
in Deutschland

Die Grundidee der Tafelbewegung beschreibt der Bundesverband Deutsche
Tafel e. V. wie folgt: „In Deutschland gibt es Lebensmittel im Überfluss – und
dennoch herrscht bei vielen Menschen Mangel. Die Tafeln bemühen sich um
einen Ausgleich: Sie sammeln ,überschüssige‘, aber qualitativ einwandfreie Le-
bensmittel und geben diese an Bedürftige weiter.“
Die Tafelbewegung hat seit der Gründung der ersten Tafel in Berlin im Jahr 1993
eine erhebliche quantitative Ausweitung, regionale Verbreitung und inhaltliche
Differenzierung erfahren. Nach Angaben des im Jahr 1995 gegründeten Bundes-
verbands Deutsche Tafel e. V. existieren aktuell bundesweit etwa 900 Tafeln mit
mehr als 3 000 Tafel-Läden und Ausgabestellen. Etwa 60 000 ehrenamtliche
Helferinnen und Helfer seien für die Tafeln im Einsatz. Circa 1,5 Millionen
Menschen nähmen die Angebote der Tafeln in Anspruch. Wie viele Menschen
nach den selbstgesetzten Regeln der Tafeln in Grundsatz die Angebote in An-
spruch nehmen dürfen, ist nicht bekannt. Der genaue Umfang der geleisteten
Unterstützung bleibt ebenso unklar.
Mit der Expansion der Tafeln ging ein Prozess der Institutionalisierung und
Monopolisierung einher. Ein Bundesverband wurde gegründet, Grundsätze wur-
den verabschiedet und der Name „Tafel“ urheberrechtlich geschützt sowie
mehrfach gerichtlich verteidigt. Die Tafeln sind somit zu einem etablierten Be-
standteil des sozialen Hilfeangebots in Deutschland geworden.
Die Expansion des Tafelwesens ist aber nicht ohne Kritik geblieben. Insbeson-
dere folgende Aspekte werden kritisch bewertet (vgl. u. a. Stefan Selke: Kritik
der Tafeln in Deutschland – Ein systematischer Blick auf ein umstrittenes gesell-
schaftliches Phänomen, in: ders. (Hrsg.) Kritik der Tafeln in Deutschland. 2010;
ders.: Tafeln in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme zum 20-jähri-
gen Bestehen, in: Soziale Sicherheit 5/2013; „Aktionsbündnis Armgespeist“,
http://aktionsbuendnis20.de/ueber-uns.html):
– Die Ausweitung des Tafelwesens zeigt massive Defizite bei der sozialstaat-

lichen Unterstützung von Hilfebedürftigen auf: Offenkundig sind die öffent-
lichen Leistungen unzureichend, wenn die betroffenen Personen Nahrungs-
mittel bei den Tafeln beschaffen (müssen). Dies betrifft verschiedene Sozial-
leistungen, insbesondere aber die Grundsicherungsleistungen.

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– Die Tafeln übernehmen als private Akteure faktisch einen Teil der Existenz-
sicherung. Die unzureichende öffentliche Leistungsgewährung erscheint an-
gesichts der Existenz von Tafeln eher hinnehmbar. Die Zuständigkeit wird
damit tendenziell vom Sozialstaat zur privaten Fürsorge verschoben. Gleich-
zeitig sind die Leistungen der Tafeln volatil, d. h. nicht flächendeckend, nicht
bedarfsdeckend und nicht einmal berechenbar, da der Umfang der Leistungen
von Spenden abhängig und damit systematisch nicht kontrollierbar ist.

– Die Tafeln helfen mit der Lebensmittelverteilung bei akuter Not, sie leisten
aber keinen Beitrag zur Vermeidung oder sozial nachhaltigen Überwindung
von Armut und Not.

– Die Tafeln haben sich durch ihr Wachstum zu einem „System der Armutsver-
sorgung“ entwickelt. Die Existenz von Tafeln erscheint zunehmend als nor-
mal und alternativlos. Die Tafeln funktionieren aber nicht auf der Grundlage
von sozialen Rechten gleichberechtigter Staatsbürgerinnen und Staatsbürger,
sondern auf der Grundlage von „mildtätiger Gabe“. Die Tafelnutzerinnen und
Tafelnutzer sind nicht Berechtigte, sondern Bittstellende. Es werden Almo-
sen vergeben. Dies entspricht einem Rückfall hinter Sozialstaatsprinzipien
hin zu überwunden geglaubten Mustern der Armenfürsorge.

– Aus der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer erscheinen die Tafeln als
„schambesetzte Stressräume“, in denen ein Rest von Stigmatisierung unab-
hängig vom konkreten Verhalten der Tafelhelferinnen und Tafelhelfer beste-
hen bleibt. Tafelnutzerinnen und Tafelnutzer werden auch in ihrer Selbst-
wahrnehmung „gemeinsam ausgegrenzt“. Dies entspricht nicht sozialer Teil-
habe.

Der Bundesverband Deutsche Tafel e. V. führt seinerseits die Expansion des
Tafelwesens auf Versagen der staatlichen Sozialpolitik zurück. Der (damalige)
Vorsitzende des Dachverbandes führt aus: „Es ist nicht hinnehmbar, wie groß die
sozialen Gegensätze in unserer Gesellschaft geworden sind. […] Bürgerschaft-
liches Engagement kann vieles bewirken, es entbindet den Staat aber ganz sicher
nicht von der Fürsorgepflicht für seine Bewohner. Daseinsvorsorge ist Aufgabe
des Staates – und muss es bleiben […] Nichts wünschen wir uns mehr, als dass
es keine Tafeln geben müsste.“ (Gerd Häuser: 20 Jahre Tafeln in Deutschland.
20 Jahre außerordentliches zivilgesellschaftliches Engagement – 20 Jahre Ver-
sagen der staatlichen Sozialpolitik, in Feedback 2013, S. 4 f.). Anlässlich des
20-jährigen Jubiläums der Tafel 2013 hat der Dachverband ein Papier für ein
solidarisches Deutschland formuliert, in dem u. a. eine nationale Strategie zur
Vermeidung von Armut, ein unabhängiger Beauftragter der Bundesregierung
gegen Armut und zahlreiche konkrete Einzelmaßnahmen gefordert werden
(„Armut verhindern – Wohlstand gerecht verteilen“, www.tafel.de/aktuelles/
forderungen/armut-verhindern.html, vgl. auch Pressemitteilungen vom 26. Mai
2014 und 1. Juni 2015 mit ähnlichen Forderungen).
Angesichts des 20. Jahrestags der Gründung des Dachverbands der Tafeln ist die
Bundesregierung aufgefordert, umfassend Auskunft über ihre Einschätzung der
Tafeln zu geben.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Rolle nehmen Tafeln nach der Auffassung der Bundesregierung im

Gefüge der sozialen Hilfen aktuell ein, und wie bewertet die Bundesregie-
rung diese?

2. Ist es hinnehmbar, dass Tafeln expandieren und sich vom Ziel der Armuts-
bekämpfung distanzieren, indem sie auf ihre Rolle bei der Armutslinderung
verweisen?
Welche Signale werden so gesetzt?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5812
3. Auf welcher rechtlichen Grundlage agieren die Tafeln?
a) An welcher Stelle in den Sozialgesetzbüchern sind die Tafeln definiert,

normiert und mit welchen Aufgaben betraut?
b) An welcher Stelle findet sich ansonsten eine rechtliche Definition, Nor-

mierung und Regulierung der Tafeln?
c) Inwieweit bewertet die Bundesregierung die Regulierung der Tafeln über

die sog. Tafel-Grundsätze des Bundesverbandes als ausreichend?
4. Wie bewertet die Bundesregierung die Regulierung des Zugangs zu Leistun-

gen der Tafeln, und welche Rechte bzw. Ansprüche können die Nutzerinnen
und Nutzer gegenüber den Tafeln geltend machen?

5. Wie viele Personen können nach den Tafel-Grundsätzen (Grundsatz 1 mit
Verweis auf § 53 der Abgabenordnung) Leistungen der Tafeln in Anspruch
nehmen?
a) Wie viele Personen haben aktuell Bezüge bis zu 1 200 Euro pro Monat

(Vierfache des Regelsatzes)?
Wie viele Alleinstehende bzw. Alleinerziehende haben Bezüge bis zu
1 500 Euro pro Monat (Fünffache des Regelsatzes)?

b) Wie viele Personen erhalten Leistungen nach dem
aa) Zweiten Buch Sozialgesetzbuch,
bb) Zwölften Buch Sozialgesetzbuch,
cc) Wohngeldgesetz,
dd) Bundesversorgungsgesetz (§ 27a) und
ee) Kinderzuschlag (§ 6a des Bundeskindergeldgesetzes)?

6. Wer kontrolliert die Qualität der weitergereichten Lebensmittel, um eine
gesundheitliche Gefährdung der Tafelnutzerinnen und Tafelnutzer auszu-
schließen?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Qualität der weiter-
gereichten Lebensmittel aufgrund dieser Kontrollen, und wo sind die Kon-
trollergebnisse ggf. dokumentiert?

8. Wie sieht konkret das „vereinfachte Dokumentationsverfahren“ aus, mit
dem die Umsetzung der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Basisverordnung
zum Lebensmittelrecht) für die besondere Situation der Tafeln angepasst
wurde (vgl. Bundestagsdrucksache 16/7972), und inwieweit hat sich diese
Regel in der Praxis zwischenzeitlich bewährt?

9. Welche Rolle im Gefüge der sozialen Hilfen sollten Tafeln nach Auffassung
der Bundesregierung in der Zukunft spielen?

10. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung zu der Entwicklung der Tafeln in
Bezug auf folgende Aspekte (sofern möglich, bitte auch länderspezifische
Daten ausweisen):
a) Anzahl der Tafeln bundesweit in der zeitlichen Entwicklung seit 1993,
b) Anzahl der helfenden Personen in der zeitlichen Entwicklung seit 1993,
c) Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer in der zeitlichen Entwicklung seit

1993,
d) soziale Zusammensetzung der Nutzerinnen und Nutzer,
e) Menge der verteilten Lebensmittel in der zeitlichen Entwicklung seit

1993,

Drucksache 18/5812 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
f) Menge der verteilten Lebensmittel pro Nutzer in der zeitlichen Entwick-
lung seit 1993,

g) Umfang sonstiger Leistungen im der zeitlichen Entwicklung seit 1993,
h) räumliche Verteilung der Angebote der Tafeln in Deutschland?

11. Welche Gründe sind nach Ansicht der Bundesregierung für das massive
Wachstum des Tafelwesens verantwortlich?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die eingangs genannten Kritikpunkte am
Tafelwesen, und welche Konsequenzen zieht sie (bitte je einzeln kommen-
tieren)?

13. Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass der Bundesverband
Deutsche Tafel e. V. selber den systematischen Zusammenhang zwischen
der Expansion des Tafelwesens und dem „Versagen staatlicher Sozialpoli-
tik“ herstellt, und welche Folgerungen ergeben sich für staatliches Handeln
aus Sicht der Bundesregierung?

14. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag des Soziologen Stefan
Selke, der die Schaffung einer verlässlichen Faktenbasis zu den Tafeln for-
dert, bei der im Mittelpunkt „eine ehrliche Bilanzierung und Dokumentation
der langfristigen Neben-, Folge- und Schattenkosten auf der Ebene der na-
tionalen Armutsberichterstattung“ stehen müsse (vgl. Stefan Selke 2013,
a. a. O. S. 172), und welche Konsequenzen zieht sie?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die in dem eingangs zitierten Papier auf-
gestellten politischen Forderungen des Bundesverbandes Deutscher Tafel
e. V. aus dem Jahr 2013, und welche Schlüsse ergeben sich daraus?

16. In welcher Form unterstützt die Bundesregierung die Arbeit der Tafeln?
17. Wie viele Bundesfreiwillige leisten pro Jahr ihren Dienst bei einer Tafel?
18. Wie viele Ein-Euro-Jobs (Arbeitsgelegenheiten in der Mehraufwandsvari-

ante) wurden pro Jahr bei den Tafeln bewilligt und besetzt (bitte auch nach
Bundesländern differenzieren)?

19. In welcher Form unterstützen die Bundesländer die Arbeit der Tafeln?
20. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, in denen Bezieherinnen oder Be-

zieher von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)
auf die Inanspruchnahme der Tafelleistungen verwiesen wurden, und wenn
ja, wie steht die Bundesregierung dazu?

21. Sind Gutscheine, die anstelle von Barleistungen im Bereich des SGB II oder
des Asylrechtes ausgegeben werden, in den Tafeln einlösbar oder womög-
lich teilweise sogar an die Einlösung in einer Tafel gebunden?

Berlin, den 18. August 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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