BT-Drucksache 18/557

Einführung des neuen Entgeltsystems in der Psychiatrie stoppen

Vom 19. Februar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/557
18. Wahlperiode 19.02.2014

Antrag
der Abgeordneten Harald Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Katja Kipping, Azize Tank, Kathrin Vogler,
Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Einführung des neuen Entgeltsystems in der Psychiatrie stoppen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem pauschalierenden Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP)
wurde ein Paradigmenwechsel bei der Finanzierung der stationären psychiatri-
schen und psychosomatischen Behandlung vollzogen. Bisher werden kranken-
hausindividuelle, tagesgleiche Pflegesätze abgerechnet, die in Pflegesatzverhand-
lungen festgelegt wurden. Künftig soll sich die Höhe der Tagespauschalen an
Durchschnittskosten für die Behandlung von Fällen mit vergleichbarem Aufwand
bemessen, die in Kalkulationskrankenhäusern ermittelt werden. Liegen die realen
Kosten in einem Krankenhaus höher, ist das Entgelt nicht kostendeckend. Diese
Klinik muss also die Kosten senken oder kann die entsprechenden Leistungen
nicht mehr anbieten.
Kostensenkungen können gerade in der psychiatrischen Versorgung vor allem
durch Personalabbau generiert werden. Dass die Psychiatrie-Personalverordnung
(Psych-PV), die eine ausreichende Ausstattung mit medizinischem, therapeuti-
schem Personal und Pflegepersonal vorschreibt, ab 2017 wegfällt, wurde 2012
mit dem Gesetz zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psy-
chiatrische und psychosomatische Einrichtungen (Psych-Entgeltgesetz) bestimmt.
Die Tagespauschalen nehmen zudem mit zunehmender Verweildauer der Patien-
tin bzw. des Patienten ab, unabhängig vom individuellen Verlauf der Behand-
lung.
Das PEPP übernimmt damit die umstrittenen Anreize der fallpauschalenbasierten
Abrechnung, die mit den DRG (Diagnosis Related Groups) in der somatischen
stationären Behandlung bereits seit 2004 in deutschen Krankenhäusern Anwen-
dung finden. Seit Januar 2013 können sich Krankenhäuser für die PEPP-
Abrechnung entscheiden. Bislang haben nur wenige Einrichtungen ihre Abrech-
nung auf PEPP umgestellt. Nach dem derzeitigen Zeitplan soll das PEPP ab An-
fang 2015 für alle psychiatrischen und psychosomatischen Stationen und Klini-
ken verbindlich werden.
Gegen die Einführung des PEPP hagelt es von vielen Seiten Kritik. In seltener
Einigkeit lehnen viele Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Ärzte-
schaft, Patientenschaft, Pflegeberufen, Gewerkschaften und Klinikleitungen das
PEPP ab. Umfragen ergeben z. B. unter rund 90 Prozent der leitenden Ärztinnen

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und Ärzte eine Ablehnung des geltenden PEPP-Katalogs. Die heftigste Kritik
bezieht sich auf die degressive Ausgestaltung der Tagespauschalen.
Die Initiative „Weg mit PEPP“ wurde von ver.di, dem Verein demokratischer
Ärztinnen und Ärzte, medico international, attac, dem Paritätischen Gesamtver-
band sowie der Soltauer Initiative für Sozialpolitik und Ethik ins Leben gerufen.
In einem Aufruf an die Fachöffentlichkeit fordert sie zu Recht „vor dem Hinter-
grund der Erfahrungen mit den DRGs (Fallpauschalen in allgemeinen Kliniken)
[…] die kommende Bundesregierung auf, das Pauschalierende Entgeltsystem in
Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) nicht einzuführen”. Es werde „weder der
Tatsache gerecht, dass jede psychische Erkrankung höchst individuell verläuft,
noch dass die jeweils besonderen Lebensumstände von Patientinnen und Patien-
ten, deren Familien sowie deren Arbeitsbedingungen mit einbezogen werden
müssen“. Die degressive Ausgestaltung der Pauschalen stehe zudem im Wider-
spruch zum gesetzlichen Auftrag, individuelle, aufwandsbezogene Tagesentgelte
zu ermitteln. Außerdem bestehe die Gefahr, dass insbesondere profitorientierte
Krankenhäuser versuchen werden, wenig lukrative, vor allem schwer psychisch
Kranke, für die die Finanzierung über das PEPP-System nicht ausreicht, in öf-
fentliche und gemeinnützige psychiatrische Krankenhäuser mit Versorgungsver-
pflichtung abzuschieben und sich vor allem auf erlösrelevante, gewinnträchtige
Behandlungen zu konzentrieren. Insgesamt setze das PEPP-System Anreize in
die falsche Richtung.
Den Aufruf haben mehr als 6 000 Einzelpersonen unterzeichnet. Er fand ebenso
die Unterstützung zahlreicher Organisationen von Psychiatrie-Erfahrenen über
Pflege-Verbände bis hin zu leitenden Ärztinnen und Ärzten sowie Klinikleitun-
gen. Dass mit dem PEPP weitreichende Konsequenzen in der Behandlungsquali-
tät befürchtet werden, macht nicht zuletzt auch die Ablehnung durch die Deut-
sche Gesellschaft für Suizidprävention oder durch das Dresdner Bündniss gegen
Depression deutlich.
In der „Initiative der Verbände zum neuen Entgeltsystem“ haben 15 medizinische
Fachorganisationen die Befürchtung geäußert, dass sich die Behandlungsqualität
mit dem neuen Entgeltsystem stark verschlechtern wird. Die zunehmend deutlich
werdenden Systemmängel des DRG-Bereiches durch doppelte Degression und
den eingetretenen „Hamsterradeffekt“ der Leistungsmehrung würden für den
Bereich der Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik nicht
nur übernommen, sondern sogar noch ausgeprägter ausgestaltet werden.
Die Gewerkschaft ver.di kritisiert: „Das neue Finanzierungssystem ist langfristig
auf die stationäre psychiatrische Versorgung ausgerichtet. […] Die geforderten
ambulanten, gemeindenahen und vernetzten Angebote werden für die Kliniken
wirtschaftlich uninteressant. Dadurch werden falsche Anreize zur Leistungsma-
ximierung gegeben.“ Ähnlich befürchten Renate Schepker und Jörg M. Fegert in
der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (41(3),
2013) dass „dringend notwendige Reformen in der sektorenübergreifenden Ver-
sorgung wie z. B. die Einführung von Hometreatment oder neue Formen der
teilstationären Behandlung eher blockiert als gefördert“ werden.
Die Deutsche Fachgesellschaft psychiatrische Pflege (DFPP) und die Bundes-
fachvereinigung Leitender Krankenpflegepersonen der Psychiatrie (BFLK) stel-
len fest, dass „in der Somatik […] die Personalbedarfsberechnung Mitte der
1990er ausgesetzt [wurde]. Seit dem Fehlen von Strukturvorgaben wurden seit
1995 bis 2010, 42772 (-13,2%) Stellen in der Pflege abgebaut und 30889
(+31,82 %) Stellen im ärztlichen Dienst aufgebaut. […] Die Versorgung psy-
chisch erkrankter Menschen bedarf einer sachgerechten staatlichen Steuerung
und darf nicht einer marktradikalen Orientierung überlassen werden. […] Ver-
stärkt durch versorgungspolitisch nicht vertretbare Fehlanreize des neuen Ent-
geltsystems […] werden die pauschalisierten Entgelte und die Unterfinanzierung
der Kostensteigerungen im Landesbasisentgeltwert einen starken Anreiz zum

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Personalabbau bewirken“ (Stellungnahme von DFPP und BFLK zum Entwurf
des Psych-Entgeltgesetzes).
Stattdessen muss ein gutes Honorarsystem Anreize für Qualität in der Versor-
gung bieten und damit zuvorderst an den Bedarfen von psychisch kranken Men-
schen ausgerichtet sein. Es darf weder Unter- noch Über- oder Fehlversorgung
befördern und insbesondere in der Psychiatrie keine Anreize für möglichst kurze
und eingreifende und erst recht nicht für zwangsweise durchgeführte Behandlun-
gen setzen. Es muss eine gute Personalausstattung und gute Arbeitsbedingungen
ermöglichen bzw. durch entsprechende Personalverordnungen flankiert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

a) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Umstellung weiterer Krankenhäu-
ser auf das PEPP bis auf weiteres verhindert;

b) eine Expertenkommission einzurichten und dabei mindestens Fachorganisa-
tionen aus Medizin und Pflege, Vertreterinnen und Vertreter der großen Pa-
tientenorganisationen sowie explizit von Psychiatrie-Erfahrenen und deren
Angehörigen, Gewerkschaften, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der
gesetzlichen Krankenkassen sowie Expertinnen und Experten aus der Wis-
senschaft sowie der Zivilgesellschaft einzubeziehen. Die Expertenkommis-
sion soll Vorschläge für ein Honorarsystem für die stationäre psychiatrische
und psychosomatische Behandlung entwickeln, das die in Abschnitt I ge-
nannte Kritik aufgreift sowie den dort im letzten Abschnitt genannten Krite-
rien genügt.

Berlin, den 18. Februar 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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