BT-Drucksache 18/5504

Dimensionierung der Fußgängeranlagen bei Stuttgart 21

Vom 2. Juli 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/5504
18. Wahlperiode 02.07.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Matthias Gastel, Tabea Rößner, Markus Tressel,
Kerstin Andreae, Dr. Franziska Brantner, Agnieszka Brugger, Harald Ebner,
Sylvia Kotting-Uhl, Christian Kühn (Tübingen), Beate Müller-Gemmeke,
Cem Özdemir, Dr. Gerhard Schick und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Dimensionierung der Fußgängeranlagen bei Stuttgart 21

In dem gemeinsamen Antrag der Bundestagsfraktionen DIE LINKE. und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21
aufklären“ wird der Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit des Tief-
bahnhofs und der ab dem Jahr 2012 bekannt gewordenen Unterdimensionierung
der Fußgängeranlagen dargestellt (Bundestagsdrucksache 18/3647). In ihren
Stellungnahmen zur Anhörung zu diesem Antrag im Verkehrsausschuss des
Deutschen Bundestages am 6. Mai 2015 bezogen die Sachverständigen der
Oppositionsfraktionen zu der Problematik ausführlich Stellung (Ausschuss-
drucksachen 18(15)225-A S. 7, 18(15)225-B S. 13). Die Sachverständigen der
Koalitionsfraktionen legten weder schriftliche Stellungnahmen vor, noch gingen
sie in der Anhörung auf das Thema ein (vgl. Ausschussprotokoll-Nr. 18/41).
Daher sind nach Auffassung der Fragesteller weder der Vorwurf, dass ein Eng-
pass in den Fußgängeranlagen auch einen Engpass für den Bahnverkehr nach
sich zieht, noch der Verdacht der Täuschung eines Finanzierungspartners durch
die Deutsche Bahn AG (DB AG) zur Personenstromanalyse ausgeräumt. Bereits
in der Antwort auf die Kleine Anfrage „Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21“
(Bundestagsdrucksache 18/1240) ließ die Bundesregierung die diesbezüglichen
Fragen (11 bis 13) unbeantwortet. Auf die Kleine Anfrage „Barrierefreiheit
beim Bahnprojekt Stuttgart 21“ (Bundestagsdrucksache 18/4072) antwortete die
Bundesregierung, dass die Fußgängeranlagen nach Reisendenzahlen dimensio-
niert sind, die auf dem „größten Lastfall“ basieren: Dies sind „zwei gleichzeitig
haltende Züge an gegenüberliegenden Bahnsteigkanten“. Zudem werden die
Durchgangsbreiten neben den neuen Fluchttreppenräumen von der Bundes-
regierung als „regelkonform“ bezeichnet.
Diese Auskünfte erscheinen unzutreffend, weil für Stuttgart 21 kein Betriebs-
programm mit praxisnahen Haltezeiten bekannt ist, das die für den Bahnhofs-
neubau geforderte Zugleistung ohne eine umfassende Nutzung von Doppelbele-
gungen (Halt zweier Züge hintereinander an einer Bahnsteigkante) erbringen
kann. In der Anhörung vom 6. Mai 2015 führte Bahnvorstand Dr. Volker Kefer
als Sachverständiger der Koalitionsfraktionen den Stresstest als auditierten
Kapazitätsnachweis für Stuttgart 21 an (vgl. Ausschussprotokoll S. 4). Hier hält
jeder zweite Zug in einer Doppelbelegung. Durch die Doppelbelegungen wer-
den mehr Reisende auf die Bahnsteige gebracht, als es der Dimensionierung der
Fußgängeranlagen entspricht. Daher ist im täglichen Betrieb von zahlreichen
Staus auf den unterdimensionierten Fußgängeranlagen und in Ausnahmesitua-
tionen von Sicherheitsrisiken auszugehen. Dem der Öffentlichkeit versproche-

Drucksache 18/5504 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
nen hohen Bewegungskomfort mit „internationaler Vorbildfunktion“ wird
Stuttgart 21 so nicht gerecht.
Die Bundesregierung verweist beim Projekt Stuttgart 21 grundsätzlich darauf,
dass es sich hierbei um ein eigenwirtschaftliches Projekt der DB AG handele.
Die Beteiligung des Bundes an der Realisierung des Projekts ergibt sich nach
Auffassung der Fragesteller jedoch daraus, dass der Bund 100-prozentiger Eig-
ner der DB AG, der Bund eine grundsätzliche und auch grundgesetzlich veran-
kerte Verantwortung für den Erhalt der Leistungsfähigkeit der Schieneninfra-
struktur hat und das Eisenbahnbundesamt als Genehmigungsbehörde eine Bun-
desbehörde ist, die dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruk-
tur (BMVI) untersteht (das BMVI korrigierte bereits Entscheidungen des
Eisenbahn-Bundesamtes – EBA –, z. B. durch die Ausnahmegenehmigung für
die S-Bahn-Tunnel-Mitbenutzung auf den Fildern vom 18. Juni 2010). Die Bun-
desregierung entsendet mehrere Staatssekretäre in den Aufsichtsrat der DB AG.
In dieser Funktion haben diese die Verpflichtung, Schaden vom Unternehmen,
den Kunden und dem Eigner fernzuhalten.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Mit welcher Entwicklung beim Personenaufkommen an Bahnhöfen rechnet

die Bundesregierung in den nächsten zehn Jahren in westdeutschen Ballungs-
zentren im Allgemeinen und am Stuttgarter Hauptbahnhof im Speziellen?

2. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Aussage des Vor-
standsvorsitzenden der DB Station&Service AG, André Zeug, dass man auf-
grund der steigenden Nachfrage in westdeutschen Ballungszentren die Bahn-
steige dort „doppelt so breit“ bauen könnte (vgl. Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 15. Juni 2015 „Unser Bahnhof soll schöner werden“), und inwieweit
hält die Bundesregierung die bei Stuttgart 21 geplante Dimensionierung der
Fußgängeranlagen vor dem Hintergrund dieser Aussage für angemessen?

3. Ist im geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof nach Kenntnis der Bundesregie-
rung ein überdurchschnittlich hohes Personenaufkommen an den geplanten
Durchgängen für die Fußgänger zu erwarten (bitte begründen)?

4. Inwieweit erwartet die Bundesregierung am geplanten Stuttgarter Tiefbahn-
hof einen überdurchschnittlich hohen Fahrgastwechsel (vgl. Bundestags-
drucksache 13/2161: Ziel- und Quellverkehr im Zusammenhang mit dem
Projekt „Stuttgart 21“ mit einem Anteil von 84 Prozent im Regionalverkehr),
und wird der neue Stuttgarter Tiefbahnhof nach Kenntnis der Bundesregie-
rung bei Fern- und Regionalverkehr in der Stärke des Fahrgastwechsels in
einer Spitzengruppe vergleichbar mit dem Kölner Hauptbahnhof und dem
Hannoveraner Hauptbahnhof sein (bitte anhand von Daten begründen)?

5. Durch welche Untersuchung und mit welchen Ergebnissen sieht die Bundes-
regierung für die Bahnsteige am geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof die For-
derung der DB-Richtlinie 813 „Personenbahnhöfe planen“ erfüllt, nach der
über die Mindestbreiten hinaus der Nachweis „über ein ausreichendes Flä-
chenangebot nach dem Verkehrsaufkommen für den gesamten Bahnsteig“ zu
erbringen ist, wenn die Bundesregierung von regelkonformen Durchgangs-
breiten und der Auslegung der S21-Fußgängeranlagen nach den Reisenden-
zahlen spricht (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage 18/
4072)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/5504
6. Inwieweit kann die Bundesregierung bestätigen, dass die von der DB AG
bisher dem EBA vorgelegte Personenstromanalysen von der Durth Roos
Consulting GmbH aus den Jahren 2009 und 2012 (ohne Berücksichtigung
der neuen Fluchttreppenräume) eine sogenannte Bahnsteigräumzeit von bis
zu vier Minuten zur Bestimmung der erreichten Qualitätsstufen an den
Durchgängen ansetzt (Gutachten Durth Roos Consulting GmbH 2009 S. 16;
s. a. Sven Hantel im Stuttgarter Gemeinderat am 24. Juli 2012)?

7. Akzeptiert die Bundesregierung beim geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof
eine Bahnsteigräumzeit von vier Minuten?
Wenn ja, warum, und wo ist diese Begründung von der DB AG gegenüber
der Genehmigungsbehörde, den Finanzierungspartnern und der Öffentlich-
keit dokumentiert?

8. Kann die Bundesregierung bei Annahme von vier Minuten Bahnsteigräum-
zeit bestätigen, dass im geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof nach zwei Minu-
ten Zugfolgezeit an einem Bahnsteig mit Doppelbelegungen ein zweites
Zugpaar einfahren kann, während für das vordere Zugpaar der Fahrgast-
wechsel erst zur Hälfte abgeschlossen ist, woraus sich eine Mehrbelastung
von rund 50 Prozent als „höchster Lastfall“ ergibt, so dass viele Durch-
gänge, die bisher nur knapp die Stufe D erreichten, als „nicht leistungsfä-
hig“ einzustufen wären?
Falls nein, warum nicht?

9. Sieht die Bundesregierung aufgrund der Mehrbelastung bei Doppelbelegun-
gen die Notwendigkeit, für Stuttgart 21 Doppelbelegungen zu untersagen?
Wenn nein, warum nicht?
Wenn ja, welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen,
und was bedeutet dies für die maximale Leistungsfähigkeit des Bahnhof-
neubaus?

10. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass für die Bahnsteigräumzeit die
„geringste technisch mögliche Zugfolgezeit“ anzusetzen ist (vgl. Richtlinie
813.0202A01, S. 4; Anhörungsverfahren PFA – Planfeststellungsabschnitt –
1.3, Stellungnahme des Vorhabenträgers zur „Kritik an der Leistungsfähig-
keit“, 24. Juli 2014, S. 52) und dass die DB AG für Stuttgart 21 die
„geringstmögliche technische Zugfolgezeit“ mit zwei Minuten angibt (ebd.
S. 15, 50)?
Falls nein, warum nicht?
Falls ja, sind demnach nicht für Stuttgart 21 als regelkonforme Bahnsteig-
räumzeit zwei Minuten anzusetzen?

11. Würden sich nach Kenntnis der Bundesregierung bei Anwendung einer
Bahnsteigräumzeit von zwei Minuten die von der Durth Roos Consulting
GmbH bisher ermittelten Qualitätswerte ca. um einen Faktor 2 verschlech-
tern?
Falls nein, warum nicht?

12. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass bei Anwendung einer Bahn-
steigräumzeit von zwei Minuten die über 50 mit der Stufe D bewerteten
Durchgänge (mit einer Personendichte von mind. 0,4 Pers./m2) mit der dop-
pelten Dichte belastet würden und in die Stufe E (mit über 0,7 Pers./m2) fal-
len würden und somit als „nicht leistungsfähig“ einzustufen wären?
Falls nein, warum nicht?

Drucksache 18/5504 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
13. Inwieweit sieht die Bundesregierung den für die Fußgängeranlagen von
Stuttgart 21 zugesagten Komfort mit internationaler „Vorbildfunktion“
gegeben, obwohl die ursprünglich dem Projekt zu diesem Zweck auch zu
Spitzenzeiten verbindlich vorgegebene Qualitätsstufe C inzwischen auf nur
noch Stufe D reduziert wurde, was dem Minimal-Anspruchsniveau ent-
spricht (vgl. Christoph Engelhardt, S21 – Kritische Würdigung der Perso-
nenstromanalyse, 27. Februar 2013)?

14. Wann wurde nach Kenntnis der Bundesregierung das Anspruchsziel der
Stufe C für Stuttgart 21 aufgegeben, und wie wurde das kommuniziert?

15. Welche Ziel-Qualitätsstufe gilt nach Kenntnis der Bundesregierung für
Stuttgart 21, und ist die Zusage der „internationalen Vorbildfunktion“ noch
haltbar?

16. Kann die Bundesregierung bestätigen, dass im Fall, dass die 49 Züge des
Stresstests gleich viele Reisende pro Zug befördern, wie die von der DB AG
vorgegebenen 32 Züge, sich auf den Gemeinschaftsflächen der Verteiler-
ebene, im Bonatzbau und bei den Ein- und Ausgängen des Bahnhofs eine
rund 50 Prozent höhere Belastung mit Personen ergibt, so dass dort über die
bisher schon „nicht leistungsfähigen“ Durchgänge hinaus weitere Durch-
gänge in der Personenstrombetrachtung durchfallen, oder hat die Bundesre-
gierung Erkenntnisse, dass für die 49 Züge geringere Personenzahlen pro
Zug anzusetzen sind?
Falls die Bundesregierung Erkenntnisse hat, dass für die 49 Züge geringere
Personenzahlen pro Zug anzusetzen sind, in welcher Höhe sind diese anzu-
setzen, und wie wird dies begründet?

17. Inwieweit kann die Bundesregierung (über die Arbeiten von der Durth Roos
Consulting GmbH hinaus) nachvollziehbar die ausreichende und regel-
konforme Dimensionierung der Bahnsteige unter Berücksichtigung der
Engpässe neben den neu eingeführten Fluchttreppenräumen für die geplan-
ten Betriebsprogramme belegen (um Nennung und Veröffentlichung der
entsprechenden Studien wird gebeten), und inwieweit werden in diesen
Untersuchungen Doppelbelegungen berücksichtigt?

18. Haben die Aufsichtsräte der Bundesregierung bei der DB AG das Ergebnis
der „detaillierten Prüfung“ der Vorwürfe durch das Kommunikationsbüro
angefordert (vgl. STUTTGARTER ZEITUNG 1. März 2013 „Zweifel an
den Fluchtwegen“)?
Falls nein, warum nicht?
Falls ja, wie lautet das Ergebnis der Prüfung, und wo ist das Ergebnis doku-
mentiert?

19. Setzen sich die Aufsichtsräte der Bundesregierung bei der DB AG nach
Kenntnis der Bundesregierung dem Vorwurf einer strafbaren Handlung
aus, wenn sie der zuletzt in einem Antrag und einer Anhörung, aber auch
schon in einer Kleinen Anfrage aus dem Jahr 2014 (Bundestagsdrucksache
18/1240, Frage 11) angesprochenen möglichen Täuschung eines Finanzie-
rungspartners durch die DB AG nicht nachgehen (bitte begründen)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/5504
20. Sofern die Bundesregierung die vorausgehenden Fragen dahingehend be-
antworten sollte, dass wesentliche Punkte in diesem Zusammenhang erst
zur Inbetriebnahme des Bahnhofs geklärt werden sollen (vgl. Aussage
des EBA zum Brandschutz in STUTTGARTER NACHRICHTEN vom
20. März 2015 „Fluchtwege im Bahnhof nur 30 Minuten sicher“), inwieweit
kann nach Ansicht der Bundesregierung ein Bahnhof, bei dem zu Baube-
ginn nach Auffassung der Fragesteller nicht gesichert ist, ob er die gefor-
derte Leistung für die Züge und für die Reisenden überhaupt erbringen
kann, ein Maßstab für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sein (Rede von
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im Deutschen Bundestag vom 15. Sep-
tember 2010)?

Berlin, den 30. Juni 2015

Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.