BT-Drucksache 18/4802

Bologna Prozess grundlegend reformieren

Vom 5. Mai 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4802
18. Wahlperiode 05.05.2015
Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Sigrid Hupach, Dr. Rosemarie Hein, Ralph
Lenkert, Cornelia Möhring, Norbert Müller (Potsdam), Harald Petzold (Havelland),
Dr. Petra Sitte, Katrin Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Bologna-Prozess grundlegend reformieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor 16 Jahren verabschiedeten Bildungsministerinnen und Bildungsminister aus 29
Staaten die Vereinbarung über einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum
(sogenannte Bologna-Erklärung). Diese Erklärung, die mittlerweile von insgesamt
47 Staaten unterzeichnet wurde, war die Grundlage für einen beispiellosen Umbau
des Hochschulsystems.

Ein Ziel dieses Umbaus war die Schaffung eines gemeinsamen Hochschulraums, in
dem Studierenden, Absolventinnen und Absolventen sowie Beschäftigten von Hoch-
schulen die uneingeschränkte Mobilität zwischen Ländern und Hochschulen garan-
tiert werden sollte. Als Voraussetzung hierfür sollten insbesondere die gegenseitige
Anerkennung von Studienleistungen und Studienabschlüssen, die Transparenz und
Vergleichbarkeit der Abschlüsse in einem gestuften System von Abschlüssen, die
europäische Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung, die Verwendung von Trans-
parenzinstrumenten wie des europäischen Kreditsystems ECTS, der Zeugniserläute-
rung (Diploma Supplement) und des einheitlichen Qualifikationsrahmens für Hoch-
schulabschlüsse verbessert werden (vgl. www-Seiten der Kultusministerkonferenz
zum Bologna-Prozess).

In Deutschland hat die Umsetzung des Bologna-Prozesses tiefgreifende Verände-
rungen an den Hochschulen hervorgerufen: Die Umstellung der Studiengänge auf
das zweistufige Bachelor-/Mastersystem und die sich daraus ergebenden neuen Stu-
dienstrukturen, neue Systeme zur Dokumentation von Leistungen sowie eine neue
inhaltliche Ausrichtung von Studiengängen – die sich unter dem Stichwort „Emplo-
yability“ hauptsächlich auf die Vermittlung von marktgängigen Fähigkeiten und
Wissen für den späteren Beruf konzentrieren.

Gleichzeitig wurden die Prüfungsdichte und der Arbeitsdruck erhöht, so dass 40 Pro-
zent der Studierenden an Universitäten angeben, hinter ihrem eigenen Zeitplan zu-
rückzuliegen. Die Möglichkeit interdisziplinär zu studieren oder sich politisch zu
engagieren wird den Studierenden damit nahezu unmöglich gemacht – vor allem,
wenn 61 Prozent der Studierenden neben ihrem Studium noch arbeiten müssen (20.
Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks).

Auf diese Weise wurden die Hochschulen den Interessen des wirtschaftlichen Stand-
orts untergeordnet und das Studium an kurzfristigen Interessen des Arbeitsmarktes

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ausgerichtet. Ein an langfristigen Kompetenzen und wichtigen gesellschaftlichen
Fragen wie der wachsenden sozialen Spaltung, dem Klimawandel, den Ernährungs-
problemen in großen Teilen der Welt oder dem Wandel von Arbeits- und Lebens-
modellen ausgerichteter Bildungsbegriff spielt an der Hochschule höchstens noch
eine untergeordnete Rolle.

Dass die Bologna-Reform auch eine Lohnkürzung für Akademikerinnen und Aka-
demiker bedeutet, zeigen die Einstiegsgehälter von Bachelorabsolventinnen und
-absolventen im Gegensatz zu Absolventinnen und Absolventen traditioneller Ab-
schlüsse: Ein Bachelor erhält 26 Prozent weniger Gehalt (vgl. Hochschulabschlüsse
im Umbruch, 2011).

Aber auch die selbstgesteckten Ziele werden nicht erreicht: Die Zahl der Studienab-
brecherinnen und -abbrecher bei Bachelorstudiengängen ist auf hohem Niveau kon-
stant. Mehr als jeder vierte Studienanfänger/jede vierte Studienanfängerin schließt
das Bachelorstudium nicht ab (DZHW 2014). Und auch die Verkürzung der Regel-
studienzeit, auf sechs Semester im Bachelor und vier Semester im Master, geht völ-
lig an der Lebensrealität der Studierenden vorbei, nicht einmal jede und jeder Zweite
schafft das Studium in der vorgegebenen Regelstudienzeit (vgl. Statistisches Bun-
desamt 2014).

Ebenso verbleibt die Auslandsmobilität der Studierenden auf niedrigem Niveau.
Nicht einmal jeder dritte Studierende aus Deutschland ging 2012 für ein oder meh-
rere Semester zum Studieren, für ein Praktikum oder Sprachkurs ins Ausland (vgl.
20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks). Als häufigste Ursache für einen
Verzicht auf einen Auslandsaufenthalt werden fehlende finanzielle Voraussetzungen
genannt, weshalb auch weiterhin besonders Studierende der ersten Generation auf
einen Auslandaufenthalt während des Studiums verzichten.

Ein Teil des Studiums im Ausland zu absolvieren ist zudem auch weiterhin mit gro-
ßen Risiken verbunden. Immer noch werden rund 30 Prozent aller Leistungen, die
von den Studierenden im Ausland erbracht wurden und deren Anerkennung bean-
tragt wurde, nicht oder nur teilweise anerkannt (vgl. Bericht der Bundesregierung
über die Umsetzung des Bologna-Prozesses 2012 – 2015 in Deutschland). Diese
Quote ist damit immer noch deutlich zu hoch.

Außerdem wurden neue Hürden für den Hochschulzugang aufgebaut. Durch zuneh-
mende und durch die einzelnen Hochschulen selbst verantwortete Zugangs- und Zu-
lassungsvoraussetzungen wird die Hochschulreife, als alleinige Zugangsvorausset-
zung zu einem Studium, zunehmend entwertet. Ebenso sind beim Übergang vom
Bachelor- zum Masterstudium vielfach willkürliche zusätzliche Zulassungsvoraus-
setzungen geschaffen worden. Bei einem Viertel der angebotenen Masterstudien-
gänge reicht der Bachelorabschluss nicht mehr als Zugang aus. (vgl. Bericht der
Bundesregierung über die Umsetzung des Bologna-Prozesses 2012 – 2015 in
Deutschland).

Die Hochschulen wurden nicht mit den erforderlichen Finanzmitteln ausgestattet,
die zur Umsetzung der neuen Studienstrukturen notwendig gewesen wären und im-
mer noch sind. Im Jahr 2008 hat dies bereits der Wissenschaftsrat bemängelt und
Finanzmittel für zusätzliches Personal gefordert (vgl. Wissenschaftsrat 2008). An-
stelle diese Finanzmittel den Hochschulen zu gewähren, sanken die durchschnittli-
chen laufenden Ausgaben für Lehre und Forschung für einen Studienplatz in
Deutschland von über 7.300 Euro auf knapp 6.900 Euro (vgl. Statistisches Bundes-
amt 2015).

Ein Umsteuern in Zielsetzung und Umsetzung der Bologna-Reform ist daher drin-
gend geboten.

Wir brauchen einen neuen Reformprozess für die Hochschulen, der Bildungschan-
cen nicht einschränkt, sondern sich an einer umfassenden Öffnung der Hochschulen

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4802
orientiert. Die Hochschulen müssen sich auf neue Zielgruppen einstellen und neue
Aufgaben u. a. in der akademischen Weiterbildung übernehmen. Und wir brauchen
eine Studienreform, die sich an den Bedürfnissen der Studierenden orientiert, eine
eigenständige Studiengestaltung und forschendes Lernen ermöglicht und eine kriti-
sche Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Disziplin sowie mit den gesell-
schaftlichen Verhältnissen fördert. Eine neue Vision für einen europäischen Hoch-
schulraum muss in einem demokratischen Verfahren und unter Beteiligung von Stu-
dierenden und Lehrenden entwickelt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. auf der Grundlage des inzwischen geänderten Art. 91b GG mit den Ländern in
Verhandlungen über eine Entfristung des Hochschulpaktes einzutreten, um eine
stetige Kofinanzierung über das Jahr 2020 hinaus zu erreichen und hierbei
a) der gravierenden Unterfinanzierung der Hochschulen Rechnung zu tragen,
b) neben der Sicherstellung einer bedarfsdeckenden Anzahl an grundständigen

Studienplätzen auch die Schaffung einer bedarfsdeckenden Anzahl von
Masterstudienplätzen zu vereinbaren,

c) die Erhebung von Studiengebühren für jegliche mit Bundesmitteln geför-
derten Studienplätze auszuschließen,

d) die erste Säule des Hochschulpakts 2020 zu verstetigen und auf dem Niveau
von 2017 dauerhaft fortzuführen sowie die Länder bei der Finanzierung der
tatsächlichen durchschnittlichen Kosten eines Studienplatzes zu unterstüt-
zen, um die nötigen Grundlagen dafür zu schaffen, dass die Hochschulen
die Studienbedingungen verbessern, mehr vierjährige Bachelorstudien-
gänge einrichten und die Möglichkeit zum Studieren in Teilzeit sicherstel-
len,

e) im Zusammenwirken mit den Studentenwerken einen Ausbau der sozialen
Infrastruktur an den Hochschulen zu vereinbaren, der auf den Ausbau der
Wohnheimkapazitäten und damit bezahlbaren Wohnraum, die Einstellung
zusätzlichen Personals für die Beratung und einen Ausbau der Mensen für
die Studierenden abzielt;

2. den von Deutschland bereits 1973 ratifizierten Pakt der Vereinten Nationen über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umzusetzen und die Erhebung von
Studiengebühren bundesweit auszuschließen;

3. dem Bundestag umgehend einen Entwurf zur Änderung des Bundesausbil-
dungsförderungsgesetzes (BAföG) vorzulegen, der
a) die Bedarfssätze an den tatsächlichen Bedarf für Lebensunterhalt und Aus-

bildung anpasst; als erster Schritt ist die für 2016 beschlossene Erhöhung
der Bedarfssätze um mindestens 10 Prozent zu erhöhen, zum Wintersemes-
ter 2014/15 vorzuziehen und die Wohnkostenpauschale auf 298 Euro anzu-
heben,

b) Darlehensanteile der Förderung abschafft und das BAföG stattdessen wie-
der zu einem Vollzuschuss macht,

c) mehr Menschen in die Förderung einbezieht, indem die Freibeträge für ei-
genes Einkommen bzw. das Einkommen der Eltern unverzüglich um min-
destens 10 Prozent erhöht werden,

d) die allgemeine Förderung von Schülerinnen und Schülern in der Oberstufe
allgemeinbildender Schulen sowie an Berufsschulen wieder herstellt,

e) die Höchstaltersgrenze von 30 bzw. 35 Jahren streicht und Beschränkungen
bei der Förderung von Masterstudiengängen aufhebt;

Drucksache 18/4802 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
4. sich gegenüber der Kultusministerkonferenz für eine Änderung der Strukturvor-

gaben für Bachelor- und Masterstudiengänge einzusetzen, die
a) den Master als Regelabschluss eines Studiums definiert,
b) festlegt, dass der Zugang zum Masterstudium mit Ausnahme von weiterbil-

denden Masterstudiengängen neben einem Bachelorabschluss von keinen
weiteren Zugangskriterien abhängig gemacht werden darf,

c) als Studienziele wissenschaftliches Arbeiten, Persönlichkeitsentwicklung
und die Fähigkeit, gesellschaftliche Prozesse und die Verwertung der eige-
nen wissenschaftlichen Arbeit zu hinterfragen und zu gestalten, gleichran-
gig neben der beruflichen Qualifizierung festschreiben,

d) eine deutliche Entschleunigung der BA-/MA-Studiengänge anstrebt durch
die an der tatsächlich benötigten Semesterzahl orientierten Regelstudien-
zeit, weniger Prüfungsdichte und eine Verringerung des Arbeitsdrucks,

e) gewährleistet, dass in allen Studiengängen ein angemessener Anteil der Mo-
dule bzw. Lehrveranstaltungen von mindestens 25 Prozent der insgesamt zu
erbringenden Leistungspunkte durch die Studierenden frei wählbar ist und
so eine eigenständige Schwerpunktsetzung im Studium ermöglicht wird,

f) sicherstellt, dass die reguläre Arbeitsbelastung von Studierenden außerhalb
der sechs Wochen Ferienzeit eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von
38,5 Stunden nicht überschreitet und die Möglichkeit zum Studieren in Teil-
zeit besteht,

g) Anwesenheitsüberprüfungen in Lehrveranstaltungen ausschließt;
5. dem Bundestag einen Entwurf für ein Gesetz über die Hochschulzulassung vor-

zulegen, welches
a) das Recht auf einen Zugang zum Bachelor sowie zum Master für jede und

jeden sichert, die/der eine entsprechende Zugangsberechtigung erreicht hat,
b) sicherstellt, dass bundesweit einheitliche und transparente Verfahren der

Hochschulzulassung geschaffen werden und in öffentlicher Verantwortung
verbleiben,

c) sozialen Kriterien bei der Vergabe der Studienplätze einen hohen Stellen-
wert einräumt,

d) eine gezielte Förderung bisher an den Hochschulen unterrepräsentierter
Gruppen vorsieht;

6. dem Bundestag einen Gesetzentwurf über die Hochschulabschlüsse vorzulegen,
welcher
a) eine verlässliche Qualitätssicherung von Studium und Lehre in öffentlicher

Verantwortung sicherstellt und hierzu die privatwirtschaftliche Organisati-
onsform von Akkreditierungsagenturen aufhebt und sie durch öffentliche
und demokratische Institutionen im Sinne der akademischen Selbstverwal-
tung ersetzt,

b) eine Gleichwertigkeit der Studienabschlüsse gewährleistet sowie die Aner-
kennung von Studienleistungen und damit Mobilität ermöglicht,

c) eine wettbewerbliche Steuerung im Akkreditierungssystem für die Zukunft
ausschließt und stattdessen einen verbindlichen Rahmen sowie verbindliche
Vorgaben für demokratische Verfahren der Qualitätssicherung formuliert,

d) eine gleichberechtigte, paritätische Teilhabe von Studierenden einerseits
und Professorinnen und Professoren sowie dem weiteren Lehrpersonal an-
dererseits auf allen Ebenen der Qualitätssicherung sicherstellt;

7. sich gegenüber den anderen Signatarstaaten der Bologna-Erklärung dafür ein-
zusetzen, dass

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/4802

a) zur Stärkung der sozialen Dimension des Bologna-Prozesses ein Europäi-
sches Observatory on the Social Dimension of Higher Education eingerich-
tet und mit verbindlichen Zielen zur Öffnung der Hochschulen und zur Ver-
besserung der sozialen Lage der Studierenden verbunden wird,

b) der Bachelorabschluss europaweit als hinreichende Zugangsvoraussetzung
für ein Masterstudium anerkannt wird und weitere Zugangsvoraussetzungen
zurückgedrängt werden,

c) die Promotion nicht als dritte Phase des Studiums, sondern als erste Phase
eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit anerkannt wird und Initiativen er-
griffen werden, die die sozialen Absicherungen von Doktorandinnen und
Doktoranden verbessern und ihnen eine unabhängige wissenschaftliche Ar-
beit ermöglichen,

d) die europäische Hochschulpolitik sich von der Wirtschaftspolitik der Euro-
päischen Union emanzipiert, indem sie der eingeschränkten ökonomischen
Perspektive auf den europäischen Wirtschaftsraum die gesamtgesellschaft-
liche Perspektive und die der Lernenden gegenüberstellt und in diesem
Sinne eigenständige Ziele für die Entwicklung der Hochschulen und ihren
Beitrag zu gesellschaftlichem Fortschritt formuliert.

Berlin, den 5. Mai 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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