BT-Drucksache 18/4780

Zivile Handelsschiffe und die Seenotrettung

Vom 28. April 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4780
18. Wahlperiode 28.04.2015
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Dr. Dietmar
Bartsch, Sevim Dağdelen, Annette Groth, Andrej Hunko, Kerstin Kassner,
Sabine Leidig, Niema Movassat, Dr. Alexander S. Neu, Petra Pau, Harald Petzold
(Havelland), Martina Renner, Kersten Steinke, Dr. Kirsten Tackmann,
Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Jörn Wunderlich, Hubertus Zdebel und
der Fraktion DIE LINKE.

Zivile Handelsschiffe und die Seenotrettung

Zivile Handelsschiffe haben nach Angaben des UNHCR (Hohen Kommissars
der Vereinten Nationen für Menschenrechte) im Jahr 2014 rund 40 000 Flücht-
linge aus der Seenot im Mittelmeer gerettet. In einem offenen Brief vom
31. März 2015 („Humanitarian Crisis in Mediterranean Sea“) an die Regierun-
gen der Europäischen Union (EU) fordern europäische Reeder und interna-
tionale Seefahrergewerkschaften von der Europäischen Union entschlossene
Maßnahmen zur Seenotrettung. Es sei „nicht akzeptabel, dass die internationale
Gemeinschaft sich zunehmend auf Handelsschiffe und ihre Besatzungen ver-
lasse, um immer umfangreichere Rettungsoperationen vorzunehmen“. Die Ver-
bände führen zudem an, dass die Rettungsmaßnahmen beträchtliche Risiken be-
inhalten und die Schiffe nicht für die Aufnahme hunderter Flüchtlinge ausgelegt
seien.
Die Fragesteller sind darüber besorgt, dass zivile Handelsschiffe bestrebt sein
könnten, ihre Maßnahmen zur Seenotrettung künftig einzuschränken. Anlass
dafür liefert ein ihnen vorliegendes Rundschreiben des Transport- und Logistik-
unternehmens Hapag-Lloyd von November 2014 („Fleet Circular“), das die
Kapitäne seiner Schiffe auffordert, bei der allfälligen Rettung von Personen aus
Seenot „höchste Vorsicht“ („utmost caution“) walten zu lassen. In Zeiten von
Piraterie und ernsthaften Gesundheitsproblemen in Afrika „und anderen zu-
nehmenden Herausforderungen“ sollen die Kapitäne „aus angemessener Entfer-
nung“ beurteilen, ob beobachtete Boote tatsächlich in einer „wirklichen Not-
lage“ sind.
Als Anlass für die Warnung nennt das Schreiben ausdrücklich die zunehmende
Zahl von Flüchtlingen, die aus Ländern Nordafrikas über das Mittelmeer nach
Europa zu gelangen versuchen, um dort Asyl zu beantragen.
Insbesondere im Hinblick auf kleinere Schiffe, wie sie zum Transport von
Flüchtlingen häufig genutzt werden, heißt es in dem Schreiben, nicht jedes
kleine Boot sei automatisch in einer Notlage. Es gebe keine Verpflichtung, sich
des Wohlergehens von Passagieren auf solchen Booten zu vergewissern, sofern
diese nicht „offensichtlich“ Hilfe erbitten in Form von „offensichtlichen“ Sig-
nalen.

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Offensichtliche Notsignale in der Seefahrt sind unter anderem Signalraketen
oder entsprechende Beflaggung. Die Fragesteller gehen davon aus, dass die
große Mehrzahl von Flüchtlingen mit der korrekten Handhabung dieser Signale
nicht ansatzweise vertraut ist und die Boote häufig nicht entsprechend ausgestat-
tet sind. Auch die Besatzung wird häufig nicht einschlägig geschult sein.
Die Fragesteller sehen in dem Rundschreiben eine kaum verklausulierte Auffor-
derung, Zurückhaltung bei der Rettung von Flüchtlingen zu üben, die mit zu
kleinen, kaum hochseefähigen Booten die Überfahrt nach Europa unternehmen.
Darauf weist auch die Aufforderung des Absenders des Flottenrundschreibens
hin, bei Zweifeln, „ob und welcher Art Hilfe“ nötig sei, zunächst die Leitung
von Hapag Lloyd zu kontaktieren.
Hintergrund für eine solche Politik, die für viele Flüchtlinge tödliche Gefahren
birgt, könnten ökonomische Überlegungen sein. Im Schreiben von Hapag-Lloyd
heißt es, es werde immer schwieriger, Länder zu finden, die bereit sind, solche
Flüchtlinge an Land zu lassen. Die Nachrichtenagentur dpa berichtete am
20. April 2015 über einen deutschen Reeder, er bange, „ob er seinen Charterver-
trag erfüllen kann – eine einzige Rettungsmission kann 24 Stunden dauern“.
Nach Informationen der Fragesteller kostet eine Verzögerung des Handelsweges
pro Tag schnell mehrere zehntausend Euro.
Wenn auch Hapag-Lloyd deutlich auf die völkerrechtliche Verpflichtung hin-
weist, in Seenot geratene Menschen zu retten, deutet das Schreiben doch darauf
hin, dass die Handelsflotte dies in Zukunft mit mehr Zurückhaltung tun soll. Da
die Europäische Union Flüchtlingen keinen legalen Zugang nach Europa ge-
währt und derzeit kein Seenotrettungsprogramm unterhält, droht sich die Zahl
ertrunkener Flüchtlinge noch erheblich zu erhöhen.
Die Fragesteller bitten darum, bei der Beantwortung der folgenden Fragen auch
von Dritten (etwa Flüchtlingshilfsorganisationen oder Internationalen Organisa-
tionen) erworbene Kenntnisse mit anzugeben.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele Personen sind nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten

fünf Jahren von zivilen Handelsschiffen aus Seenot gerettet worden
a) im Mittelmeer
b) in anderen Meeren
(bitte jeweils nach Schiffen deutscher, europäischer und sonstiger Reedereien
aufgliedern)?

2. Wie viele von zivilen Handelsschiffen gerettete Personen sind nach Kenntnis
der Bundesregierung in den letzten fünf Jahren jeweils in Zypern, Griechen-
land, Kroatien, Italien, Malta, Frankreich und Spanien an Land gegangen?

3. Wie viele Rettungsmaßnahmen sind von zivilen Handelsschiffen in den letz-
ten fünf Jahren unternommen worden
a) im Mittelmeer
b) in anderen Meeren
(bitte analog zu Frage 1 aufgliedern), und wie viele Handelsschiffe waren da-
ran jeweils beteiligt?

4. Welche weiteren Kenntnisse und welche Einschätzung hat die Bundesregie-
rung zur, ggf. zunehmenden, Bedeutung ziviler Handelsschiffe bei der Ret-
tung aus Seenot?

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5. Wann, in welcher Weise, mit welchem Inhalt und welchem Ergebnis wurde
die Thematik der Seenotrettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer durch
zivile Handelsschiffe in den Gremien der EU besprochen, und welche Posi-
tion hat die Bundesregierung dabei jeweils eingenommen (bitte auflisten
und ausführen)?

6. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung zur beschriebenen Problema-
tik, es falle schwer, ein Land zu finden, das zur Aufnahme der geretteten
Flüchtlinge bereit ist?

7. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über das Ausmaß der zeitlichen
Verzögerungen, die Handelsschiffe in den letzten fünf Jahren jeweils infolge
von Seenotrettungsmaßnahmen in Kauf genommen haben?

8. Welche allgemeinen und konkreten Kenntnisse hat die Bundesregierung
über die finanziellen Folgen solcher Verzögerungen?

9. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung darüber, in welchem Umfang
Reeder in den letzten fünf Jahren ihre Vertragspflichten nicht einhalten
konnten, weil es aufgrund von Rettungsmaßnahmen zu Verzögerungen
kam?
a) Inwiefern greifen nach Kenntnis der Bundesregierung in solchen Fällen

die in der Seefahrt üblichen Versicherungen, um ggf. entstandene finan-
zielle Schäden auszugleichen?

b) Welche allgemeinen und konkreten Kenntnisse hat sie über die finan-
ziellen Kosten solcher Verzögerungen?

c) Welche Kenntnisse hat sie darüber, inwiefern Reeder Aufträge verloren
haben, weil sie aufgrund von Rettungsmaßnahmen Verträge nicht pünkt-
lich einhalten konnten?

d) Welche Kenntnisse hat sie darüber, inwiefern Reeder (nach eigenen An-
gaben) wegen der finanziellen Folgen von Rettungsmaßnahmen Insol-
venz beantragen oder Konkurs anmelden mussten?

10. Sind der Bundesregierung Berichte bekannt, dass Handelsschiffe sich in den
letzten fünf Jahren der Verpflichtung zu Rettungsaktionen entzogen haben
(bitte ggf. ausführen), und welche Maßnahmen sind gegen die Verantwort-
lichen ergriffen worden?

11. Inwiefern haben sich einzelne Reeder, Reederverbände, Schifffahrtsunter-
nehmen oder Seefahrer- und Transportarbeitergewerkschaften hinsichtlich
der unterschiedlichen beschriebenen Problemlagen (vermehrte Aufnahme
von Flüchtlingen durch Handelsschiffe, Probleme, sie an Land zu bringen
sowie finanzielle und strafrechtliche Implikationen) an die Bundesregierung
bzw. Bundesbehörden gewandt, was war im Wesentlichen Gegenstand der
Mitteilungen, und was war Inhalt der Reaktionen der Bundesregierung bzw.
Bundesbehörden?

12. Inwiefern werden die beschriebenen Problematiken in (welchen) interna-
tionalen Gremien erörtert, und welche Schlussfolgerungen, Empfehlungen
oder sonstige Hinweise haben diese erarbeitet?

13. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus den beschriebe-
nen Problemlagen?

14. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über mögliche strafrechtliche
Folgen von Seenotrettungsmaßnahmen durch zivile Handelsschiffe und
Anlandungen Geretteter in den Mitgliedstaaten der EU in den jeweiligen

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Mitgliedsländern (etwa Ermittlungen wegen Schleusungsaktivitäten), und
wie beurteilt die Bundesregierung dieses Problem?
a) Wie häufig wurden in den letzten fünf Jahren gegen Kapitäne ziviler

Handelsschiffe wegen des Verdachts auf Schleusung, Beihilfe zu illega-
ler Einreise oder ähnlicher Delikte ermittelt (bitte auflisten)?

b) Welche Strafen wurden dabei verhängt?
15. Inwiefern gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung im Mittelmeer ein

Piraterie-Problem?
a) Welche Kenntnisse hat sie über versuchte oder erfolgte Kaperungen zivi-

ler Handelsschiffe durch Piraten in den letzten fünf Jahren im Mittelmeer
(bitte angeben, wo sich die Vorfälle ereignet haben)?

b) Gibt es eine allgemeine Warnung vor Piraterie im Mittelmeer, und wenn
ja, wer hat diese ausgesprochen, und auf welchen Erkenntnissen beruht
diese?

16. Inwiefern gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung bei der Seenotrettung
im Mittelmeer ein Gesundheitsproblem aufgrund von Seuchenerkrankun-
gen in Afrika?
a) Hat nach Kenntnissen der Bundesregierung in den letzten Jahren die Zahl

jener Personen zugenommen, die an hamörrhagischem Fieber (etwa
Ebola, Lassa usw.) leiden oder von dessen Erregern befallen sind und die
Überfahrt über das Mittelmeer angetreten haben, und welche konkreten
Zahlen hat sie ggf. hierzu?

b) Inwiefern sind ihr Meldungen bekannt, dass die Besatzungen von zivilen
Handelsschiffen sich bei Seenotrettungsmaßnahmen mit schweren
Krankheiten infiziert haben?

c) Inwiefern wurden nach Kenntnis der Bundesregierung entsprechende
Schutzmaßnahmen oder Schulungen unter den Besatzungen ziviler Han-
delsschiffe vorgenommen?

17. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung darüber, inwiefern Flüchtlinge
bei Rettungsaktionen von Handelsschiffen aufgrund der für solche Maßnah-
men und hohen Passagierzahlen nicht ausreichenden medizinischen und
sonstigen Versorgungsmöglichkeiten an Bord zu Schaden kommen?

18. Welche Nachteile sind mit der Rettung von Menschen in Seenot durch zivile
Handelsschiffe gegenüber der Rettung durch spezialisierte und entspre-
chend geübte und geschulte Seenotrettungs-, Marine- oder Grenzschutzein-
heiten verbunden (etwa in Bezug auf die Wendigkeit der Schiffe und verfüg-
barer Rettungsboote und anderer Hilfsmittel, die Ausbildung und Erfahrung
der Besatzung usw.), und inwieweit ist dies aus Sicht der Bundesregierung
ein Argument dafür, die Seenotrettung insbesondere im Mittelmeer wieder
verstärkt in nationalstaatlicher oder europäischer Verantwortung zu organi-
sieren?

19. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung über weitere, zunehmende
Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen, denen sich Reeder oder Kapitäne
(objektiv oder subjektiv) hinsichtlich der Seenotrettungsmaßnahmen oder
des Umgangs mit Flüchtlingen ausgesetzt sehen?

20. Inwiefern arbeiten zivile Handelsschiffe nach Kenntnis der Bundesregie-
rung mit den
a) Grenzbehörden nordafrikanischer Länder,
b) Grenzbehörden von EU-Mittelmeeranrainern,

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c) den Grenzbehörden weiterer Mittelmeeranrainer, und
d) mit FRONTEX (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit

an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union)
hinsichtlich von Seenotrettungsmaßnahmen zusammen?

21. Inwiefern erfolgen Meldungen der Handelsschiffe an die jeweiligen Grenz-
behörden oder an FRONTEX bezüglich der Aufnahme von aus Seenot
Geretteten, insbesondere von Flüchtlingen?

22. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung von nationalen Grenzbehörden,
anderen Behörden oder von FRONTEX Empfehlungen, Hinweise oder ver-
gleichbare Handreichungen für Handelsschiffe hinsichtlich des Umgangs
mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen, die auf dem Weg in die EU sind
(bitte ggf. im Einzelnen benennen und den Inhalt angeben)?

23. Welche Praxis verfolgen zivile Handelsschiffe nach Kenntnis der Bundesre-
gierung mit aus Seenot geretteten Personen?
a) Werden diese überwiegend zum nächstgelegenen Hafen gebracht, oder

erst am nächsten regulären Hafen von Bord gebracht?
b) Wie gehen Handelsschiffe damit um, wenn Gerettete zu erkennen geben,

dass sie um Asyl nachsuchen wollen?
c) Inwiefern wird nach Kenntnis der Bundesregierung von zivilen Handels-

schiffen das Nonrefoulement-Gebot beachtet bzw. ist es überhaupt be-
kannt?

24. Inwiefern sieht die Bundesregierung derzeit Defizite beim Umgang ziviler
Handelsschiffe mit Seenotrettungsmaßnahmen, insbesondere mit Flücht-
lingen?

25. Inwiefern teilt sie die Befürchtung der Fragesteller, das zitierte Schreiben
von Hapag-Lloyd könne ein Indiz dafür sein, dass Handelsschiffe künftig
zögerlicher bei Seenotrettungsmaßnahmen sind, und was unternimmt sie
ggf., um die Reeder von einer solchen Zögerlichkeit abzuhalten?

26. Teilt die Bundesregierung die Auffassung von Seenot, wie sie etwa Pro Asyl
in einem Informationsblatt „Refugees in distress at sea: acting and assisting“
vertritt, dass von Seenot nicht erst dann auszugehen sei, wenn Insassen über
Bord gegangen sind, sondern auch bei Manövrierunfähigkeit oder -pro-
blemen, bei Schäden am Boot, Überlastung durch zu viele Insassen oder bei
mangelhafter Versorgung mit Nahrung, Trinkwasser und notwendigen
Medikamenten (bitte ggf. darlegen, inwiefern die Bundesregierung abwei-
chende Auffassungen vertritt)?

27. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem offenen
Brief der Reeder und Seefahrer?

Berlin, den 28. April 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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