BT-Drucksache 18/4322

Gesundheitsförderung und Prävention konsequent auf die Verminderung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit ausrichten

Vom 17. März 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4322
18. Wahlperiode 17.03.2015
Antrag
der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias W.
Birkwald, Katja Kipping, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Pia
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Gesundheitsförderung und Prävention konsequent auf die Verminderung
sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit ausrichten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Gesundheitsförderung und Prävention zielen darauf ab, für alle und jeden die ge-
sunde Lebenserwartung, also die Zahl guter, gesunder Jahre im Leben zu erhöhen.
Sozial Benachteiligte oder Menschen mit niedrigem Sozialstatus haben hier deutlich
geringere Chancen. Menschen aus der unteren Einkommensschicht haben in jedem
Lebensalter – von der Kindheit bis zum Tod – ein doppelt so hohes Risiko wie wohl-
habende Menschen, ernsthaft krank bzw. zum Pflegefall zu werden oder vorzeitig zu
sterben. Schwere Erkrankungen zeigen sich in der oberen Einkommensgruppe rund
vier Jahre später – ein deutlicher Zugewinn an Lebensqualität. Der Unterschied zwi-
schen Arm und Reich in der Sterblichkeit und bei den gesunden Lebensjahren nimmt
nicht etwa ab – er hat sich nach zehn Jahren Hartz IV und Sozialstaatsabbau deutlich
vergrößert. Deshalb ist die Verminderung sozial bedingter gesundheitlicher Un-
gleichheit eine der zentralen politischen Herausforderungen.

In der Politik der Bundesregierung, aber auch der EU, ist die Beschäftigung mit Ge-
sundheitsförderung und Prävention meist ökonomisch motiviert. Sie sollen dazu die-
nen, Behandlungskosten zu begrenzen, Arbeitgeber und Sozialversicherungen zu
entlasten oder den Fachkräftebedarf der Unternehmen zu sichern. Auch das aktuell
vorgelegte Präventionsgesetz der Bundesregierung wird auf diese Weise begründet.
Als Menschen- und Grundrecht ist Gesundheit aber ein Ziel an sich, kein Mittel zum
Zweck. Der UN-Sozialpakt von 1973, den die Bundesrepublik Deutschland ratifi-
ziert hat, schreibt das Recht eines jeden Menschen auf das erreichbare Höchstmaß
an Gesundheit fest. Gesundheit bezeichnet danach das vollständige geistige, soziale
und körperliche Wohlergehen der Menschen.

Der größte Teil der gesundheitlichen Ungleichheit erklärt sich aus der sozialen Po-
sition selbst. So wirken sich die Arbeits- und Wohnbedingungen sowie der unter-
schiedliche Zugang zur Gesundheitsversorgung direkt auf den Gesundheitszustand
aus. Zudem muss Gesundheitsförderung Aufgabe aller Politikbereiche sein und in
der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Sozial-, Bildungs-, Sport-, Um-
welt-, Verkehrs-, Verbraucherschutz-, Ernährungs-, Wohnungs- und Gesundheits-
politik umgesetzt werden (siehe „Health in all policies“-Ansatz der 8. WHO Global
Conference on Health Promotion 2013).

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Informationskampagnen zur Verhaltensänderung blenden die gesellschaftliche Rea-
lität sowie die individuelle Situation der Menschen meist aus und bewirken erwiese-
nermaßen kaum Verhaltensänderungen – und wenn, dann allenfalls bei den Men-
schen, die bereits gesundheitsbewusst leben („Präventionsdilemma“). Sozial Be-
nachteiligte werden nachweislich nur wenig erreicht.

In der Erklärung von Jakarta 1997 wird Gesundheitsförderung als Prozess gesehen,
der Menschen befähigen soll, mehr Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen und
diese durch Beeinflussung der Bedingungen zu verbessern. Die Menschen müssen
an der Planung, Gestaltung und Umsetzung aktiv beteiligt werden. Sie sind als Ex-
pertinnen und Experten ihrer ganz unterschiedlichen Lebenswelt anzuerkennen. Das
bedeutet, sich aus der Position des Besser-Wissens zu verabschieden und Menschen
nicht als Erziehungsobjekte zu behandeln, sondern als Partnerinnen und Partner mit
dem Recht auf Teilhabe und Mitsprache. Partizipation ist eine Schlüsselgröße für
Gesundheitsförderung.

Erfolgreiche Gesundheitsförderung setzt in den Lebenswelten (Settings) der Men-
schen an – Kindertagesstätten, Schulen, Arbeitswelt, Dorf, Kiez, Stadt- oder Ortstei-
len. Diese Lebenswelt sollen sie nach ihren Maßgaben verändern und so gesund-
heitsförderliche Umgebungen und Lebensbedingungen schaffen. Beispiele dafür
können etwa Initiativen zur Lärmreduktion im Wohnumfeld oder die kinderfreund-
liche Ausgestaltung des Stadtteils sein. Kitas können bewegungsfreundlich und als
Räume für interkulturellen Austausch gestaltet werden, gemeinsam mit den Betei-
ligten. Im betrieblichen Bereich ist die Reduzierung von Arbeitsbelastungen und
Stress aufgrund der Dauer und Lage der Arbeitszeit sowie Arbeitsverdichtung und
prekäre Beschäftigung vorrangiges Ziel, um gesundheitsförderliche Arbeitsbedin-
gungen zu schaffen (vgl. Antrag Bundestagsdrucksache Nr. 17/11042).

Die Gesundheit der Menschen wird maßgeblich durch ihre Ressourcen bestimmt.
Teilhabe am Leben, gute Bildung, gute Arbeitsbedingungen und stabile Beziehun-
gen führen zu Ressourcen, die es Menschen ermöglichen, gesund zu bleiben. Des-
halb nimmt moderne Gesundheitsförderung die Ressourcen der Menschen in den
Blick und nicht nur die Verminderung von Krankheiten, Pflegebedürftigkeit oder
Gesundheitsbelastungen.

Und sie muss an der sozialen Lage ansetzen. Kinderarmut und Elternarmut stehen
im engen Zusammenhang. Bereits die Neugeborenen von sozial benachteiligten El-
tern wiegen durchschnittlich weniger und sind kränker als die von gutsituierten El-
tern. Darüber hinaus wirkt sich die Armut von Kindern besonders in ihren Lebens-
welten aus. Sie werden von Teilhabe in vielfältigen Bereichen auf Grund ihrer finan-
ziellen Armut ausgeschlossen (Geburtstage, weil sie mit Geschenken nicht mithalten
können, keine Freunde einladen, wegen ärmlicher Wohnverhältnisse, Ersatz von
Schulmaterial ist oft erst möglich, wenn wieder Geld da ist usw.). Die Entwicklung
einer positiven Selbstwahrnehmung ist für diese Kinder ungleich schwieriger und
damit auch der Erwerb positiver Bewältigungsstrategien.

Damit alle Menschen in der Lage sind, ihr größtmögliches Gesundheitspotential zu
verwirklichen, müssen bestehende sozial bedingte Unterschiede des Gesundheitszu-
standes verringert sowie gute Entwicklungsmöglichkeiten und -voraussetzungen für
alle geschaffen werden. Gesundheitsförderung und Prävention sind konsequent an
diesem Ziel auszurichten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

den Entwurf eines Gesetzes zur Gesundheitsförderung und nichtmedizinischen Pri-
märprävention vorzulegen, der folgende Eckpfeiler umfasst:
1. eine integrierte und koordinierte Gesamtstrategie zur Verringerung der sozial

bedingten gesundheitlichen Ungleichheit in folgendem Sinn:

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a) Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention werden als
gesamtgesellschaftliche Aufgaben anerkannt und dementsprechend ausge-
staltet. Sie sollen die Gesundheit der gesamten Bevölkerung verbessern
und dazu beitragen, die sozial-, geschlechts-, behinderungs- und migrati-
onsbedingten Unterschiede in den Gesundheitschancen zu verringern.

b) Eine gesundheitsförderliche Politik muss darauf zielen, die Ursachen sozi-
aler Ungleichheit und Armut zu beseitigen. Gleichzeitig sind alle Gesetz-
entwürfe einer Prüfung zu unterziehen, welche Auswirkungen sie auf die
sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen haben.

c) Die Maßnahmen sind an bundeseinheitlichen Gesundheitszielen auszurich-
ten, die für an der Gesundheitsförderung Beteiligte verbindlich sind.

d) Die nichtmedizinische Primärprävention ist im Fokus von Gesundheitsför-
derung vorzunehmen. Mindestens zwei Drittel der Ausgaben müssen in
Projekte und Programme mit lebensweltbezogenen Maßnahmen fließen.

e) Für eine wirksame Gesundheitsförderungspolitik ist eine funktionsfähige,
flächendeckende und barrierefreie Infrastruktur zu schaffen. Wissenschaft-
lich evaluierte Modellprojekte, die ihre hohe Wirksamkeit bewiesen haben
(Leuchtturmprojekte), müssen verstetigt und in der Fläche umgesetzt wer-
den. Die Aktivitäten sind unter dem Oberziel der Verringerung sozial be-
dingter gesundheitlicher Ungleichheit zu bündeln.

f) Gesundheitsförderung und nichtmedizinische Primärprävention müssen
sich an der Lebenslaufperspektive ausrichten. Gesundheitsförderung ist als
teilhabeorientierte Praxis zu gestalten.

g) Die Evaluation und Qualitätssicherung von Maßnahmen zu Gesundheits-
förderung und nichtmedizinischer Primärprävention werden verbindlich
verankert. Die entsprechenden Maßnahmen sind auf ihre Wirksamkeit hin
zu überprüfen. Die Befunde werden zentral ausgewertet und dienen der
Qualitätsverbesserung und Weiterentwicklung künftiger Maßnahmen.

h) Eine umfassende und systematische wissenschaftliche Forschung zur Ver-
besserung des Wohlbefindens und der Gesundheit der Bevölkerung sowie
zur Verringerung der sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheit ist zu
fördern. Dazu sind anerkannte, moderne Public-Health-Strategien wie Le-
benswelt-, Empowerment-, Salutogenese- und Ressourcenansätze in den
Fokus der Forschung zu rücken und weiterzuentwickeln. Horizontale und
vertikale Faktoren sozialer Ungleichheit wie Alter, Geschlecht, Migration,
Behinderung, Bildung und Einkommen sind zentral in der Forschung zu
berücksichtigen.

2. eine vernetzte Organisationsstruktur:
a) Es ist eine Koordinierungs- und Entscheidungsstelle auf Bundesebene zu

schaffen, die organisatorisch an die Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung angebunden wird und die über eigene finanzielle Mittel im
Rahmen eines von Bund, Ländern und Beiträgen der Sozialversicherungen
sowie aller privaten Kranken- und Pflegeversicherungen finanzierten
Fonds verfügt. Dem Gremium gehören insbesondere Vertreterinnen und
Vertreter der Wissenschaft, der Finanzierungsträger, der Leistungserbrin-
ger im Gesundheits- und Pflegesystem, der kommunalen Spitzenverbände,
der Gewerkschaften, der Sozialverbände sowie von Patienten- und Selbst-
hilfeorganisationen an. Zentral werden durch diese Stelle bundeseinheitli-
che und verbindliche Gesundheitsziele festgelegt, Empfehlungen für die
Weiterentwicklung der Präventionsforschung gegeben und die Qualitäts-
berichte zusammengeführt.

b) Von den politischen Akteuren auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene
sind Strategien zu entwickeln, wie partizipative Entscheidungsstrukturen
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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von der Konzeption von Projekten und Programmen der Gesundheitsför-
derung und nichtmedizinische Primärprävention bis hin zur Qualitätssiche-
rung gewährleistet werden können.

c) Vorhandene bewährte Strukturen auf Landesebene und kommunaler Ebene
wie die öffentlichen Gesundheitsdienste sind so weiterzuentwickeln, dass
sinnvolle und integrierende Präventionsmaßnahmen verstetigt und damit
institutionell anerkannt werden können. Hierfür ist ein entsprechendes Zu-
sammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen notwendig. Der Grad
der Vernetzung ist zu erhöhen.

d) Ein Präventionsbericht ist von der Koordinierungs- und Entscheidungs-
stelle auf Bundesebene alle vier Jahre dem Bundestag vorzulegen.

3. folgende Prämissen in der Finanzierung:

Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung muss in der Finanzierung von Maß-
nahmen, die den Gesundheitszustand der Bevölkerung nachhaltig bewahren und
anzuheben helfen, zum Ausdruck kommen. Bund und Länder müssen sich
ebenso wie die Sozialversicherungszweige und die privaten Kranken- und Pfle-
geversicherungen an einem Fonds zur Gesundheitsförderung und nichtmedizi-
nischen Primärprävention beteiligen. Zusätzlich sind zum Start aus dem Bun-
deshaushalt in den nächsten vier Jahren jeweils 1 Mrd. Euro in den Fonds ein-
zuzahlen.

Von den Gesamtmitteln des Fonds können 75 Prozent von der kommunalen
Ebene abgerufen werden. Den Kommunen dürfen keine zusätzlichen Kosten
auferlegt werden.

Nach Abschluss der Aufbauphase ist der Finanzierungsbeitrag des Bundes für
die Folgejahre rechtzeitig festzulegen und eine Mindesthöhe zu verstetigen.

Zu prüfen ist, ob über eine zweckgebundene Abgabe die Industriezweige an der
Finanzierung beteiligt werden, die beträchtliche Gesundheitsrisiken hervorru-
fen. Die Arbeitgeber sind an den Kosten für die betriebliche Gesundheitsförde-
rung verpflichtend zu beteiligen.

Berlin, den 17. März 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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