BT-Drucksache 18/4185

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit einer starken Jugendhilfe aufnehmen

Vom 3. März 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4185
18. Wahlperiode 03.03.2015
Antrag
der Abgeordneten Norbert Müller (Potsdam), Ulla Jelpke, Sigrid Hupach, Nicole
Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Cornelia Möhring, Harald Petzold (Havelland), Katrin
Werner, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit einer starken Jugendhilfe aufnehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hat in den vergangenen Jah-
ren zugenommen. Wer jünger als 18 Jahre ist, fällt unter den Schutz der UN-Kinder-
rechtskonvention. Damit einher geht ein Vorrang der Kinder- und Jugendhilfe und
die Betroffenen erhalten Zugang zu den Angeboten des Achten Buches Sozialge-
setzbuch (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe) sowie Unterstützung für die asyl-
bzw. ausländerrechtlichen Verfahren. Dies führt in zahlreichen Kommunen zu
Mehrbelastungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Die betroffenen Kinder und Ju-
gendlichen finden derzeit nicht immer Strukturen vor, in denen sie gemäß den Vor-
gaben der UN-Kinderrechtskonvention adäquat aufgenommen, geschützt, betreut
und gefördert werden. Zum Wohle der Kinder und Jugendlichen, die nach einer oft-
mals langen und dramatischen Flucht die Bundesrepublik Deutschland erreichen,
sowie im Interesse der zahlreichen engagierten Mitarbeiter/-innen und ehrenamtlich
Aktiven muss dringend gehandelt werden. Bestehende Missstände müssen schnellst-
möglich beseitigt werden.

Für die Betreuung, Begleitung, Unterbringung und Versorgung der unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlinge ist die Kinder- und Jugendhilfe in den Kommunen zu-
ständig, in denen die jungen Flüchtlinge von Behörden aufgegriffen werden bzw. wo
sie sich bei den Behörden melden. Dort werden sie von den Jugendämtern in Obhut
genommen und ihnen wird aufgrund ihrer Minderjährigkeit ein Vormund gestellt,
der ihre Interessen vertritt. Der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige
Flüchtlinge e. V. (BUMF) dokumentiert eine Zunahme von 2.998 in Obhut genom-
menen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Jahr 2009 auf 5.605 in 2013.
In einem anschließenden Clearingverfahren erfolgt für die Kinder und Jugendlichen
eine Auslotung der Perspektiven. Damit soll der UN-Kinderrechtskonvention Rech-
nung getragen werden, die allen Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 18
Jahren Rechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung zuspricht.

Die Aufnahme und der Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen er-
folgen derzeit aber nicht überall im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention und in
dem skizzierten Ablauf. Ein Fachgespräch in der Kinderkommission des Deutschen
Bundestages am 4. Februar 2015 deckte erneut bestehende gravierende Mängel auf.
So werden Altersangaben von Jugendlichen trotz Vorlage amtlicher Dokumente an-

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gezweifelt und Jugendliche zu Erwachsenen erklärt. Immer wieder finden umstrit-
tene Altersfeststellungsverfahren Anwendung. Auch die Bestellung eines Vormun-
des verläuft nicht immer zeitnah und reibungslos. Es wurde von Fällen berichtet, in
denen es bis zu 18 Monate dauerte, bevor Minderjährigen ein entsprechender Rechts-
vertreter beiseite gestellt wurde. Damit werden den Betroffenen fundamentale
Rechte vorenthalten. Um dies zu vermeiden, müssen strukturelle Missstände ausge-
räumt und das Verfahren verbindlich geregelt werden.

Werden Jugendliche im Laufe der Verfahren mit der Vollendung des 18. Lebensjah-
res volljährig, entfällt der Vorrang der Kinder- und Jugendhilfe und die Vormund-
schaft. Im Einzelfall kann dies den Auszug aus einer Einrichtung der Kinder- und
Jugendhilfe und den Einzug in eine Sammelunterkunft bedeuten, verbunden mit ei-
ner grundlegenden Veränderung der Betreuungs- und mühsam aufgebauten Vertrau-
ensstruktur. Dieser abrupte Übergang muss verhindert werden. Dem SGB VIII muss
auch im Geiste der Jugendhilfe für junge Flüchtlinge über 18 Jahre der Vorrang ein-
geräumt werden, um sie bestmöglich zu fördern und zu unterstützen.

Die Unterbringung und Versorgung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge
orientiert sich an den Orten der Ankunft der Kinder und Jugendlichen, die sich wie-
derum an den Zugangswegen in die Bundesrepublik Deutschland ausrichten. Dem-
zufolge sind derzeit laut BUMF insbesondere 20 Kommunen von der Aufnahme be-
sonders betroffen, darunter Frankfurt, Berlin, Hamburg und München. Aber auch
andernorts wird über eine Überlastung der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe
durch die Betreuung und Versorgung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge
geklagt. Die von diesen Verfahren betroffenen Kommunen brauchen sofort Unter-
stützung und müssen entlastet werden.

Eine Umverteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auf alle Bundes-
länder in Anlehnung an den so genannten Königsteiner Schlüssel löst die bestehen-
den Problemlagen nicht auf. In vielen Kommunen fehlen dafür Strukturen, Wissen
und Erfahrungen. Daher muss zuerst die Jugendhilfe flächendeckend gestärkt und
ausgebaut werden, damit minderjährige unbegleitete Flüchtlinge überall aufgenom-
men werden können und gute Bedingungen vorfinden.

Statt einer Umverteilung nach festen Quoten ist ein zeitlich offenes und an den Inte-
ressen und Belangen der Kinder und Jugendlichen orientiertes Verfahren zu etablie-
ren, das den Betroffenen eine bestmögliche Förderung sichert und ihnen Zukunfts-
perspektiven eröffnet. Erst am Ende dieses Verfahrens kann im Einvernehmen ein
Umzug und auf diese Weise eine Verteilung erfolgen. Zu den größten Herausforde-
rungen der Kinder- und Jugendhilfe gehört in diesem Kontext, Vertrauen zu den
Kindern und Jugendlichen aufzubauen. Es muss das Primat gelten, statt der Kinder
und Jugendlichen die Kosten ihrer Versorgung und Betreuung zu verteilen.

Anhand der Debatte um die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlin-
gen und einer damit einhergehenden Überlastung der Kinder- und Jugendhilfe wird
eine generelle Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe bei einem gleichzeitig
wachsenden Aufgabengebiet deutlich. Dieser Aufgabenzuwachs spiegelt sich nicht
ausreichend in der Finanz- und Personalstruktur der Kinder- und Jugendhilfe wider.
Daher bedarf es einer Stärkung der Kinder- und Jugendhilfe, damit diese ihre Auf-
gaben zum Wohle aller Kinder und jungen Menschen gebührend wahrnehmen kann.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

konkrete Maßnahmen und gesetzgeberische Initiativen einzuleiten mit dem Ziel,

1. sowohl im Asylverfahrensgesetz als auch im Aufenthaltsgesetz Regelungen zu
verankern, die den in der UN-Kinderrechtskonvention vorgesehenen Vorrang

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/4185

des Kindeswohls („best interest of the child“) bei allen behördlichen Entschei-
dungen verbindlich festlegen;

2. umgehend das Alter für die Verfahrensmündigkeit in aufenthalts- und asylrecht-
lichen Angelegenheiten auf 18 Jahre heraufzusetzen, Widerspruchsmöglichkei-
ten für die Altersfestlegung durch Behörden zu schaffen und medizinisch um-
strittene Verfahren der Altersfeststellung (Röntgen der Handwurzelknochen,
Vermessungen etc.) auszuschließen. Die Altersfestsetzung muss auf der Grund-
lage ethisch und wissenschaftlich vertretbarer Methoden erfolgen und das Ver-
fahren rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Um diesen Vorgaben gerecht zu
werden, ist ein Altersfestsetzungsverfahren beim zuständigen Vormundschafts-
bzw. Familiengericht anzusiedeln;

3. analog zur Dublin-III-Verordnung im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht ei-
nen erweiterten Familienbegriff zugrunde zu legen, so dass bei Entscheidungen
zu Vormundschaften, zur Wahrung der Familieneinheit und des Kindeswohls
auch die Beziehungen zu erwachsenen Geschwistern oder zu anderen Verwand-
ten gewahrt werden können, soweit dies dem Interesse der Minderjährigen ent-
spricht;

4. die in den Ländern geschaffenen Clearingverfahren für die Aufnahme und Be-
treuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge auf einem hohen Niveau zu
standardisieren und zu harmonisieren;

5. wie in der Kinder- und Jugendhilfe üblich, unbegleiteten minderjährigen Flücht-
lingen einen Zugang zu deren Angeboten auch über das 18. Lebensjahr hinaus
zu gewährleisten, ihnen die notwendige Unterstützung und Förderung zukom-
men zu lassen und damit Artikel 22 der UN-Kinderrechtskonvention umzuset-
zen. Dazu zählen insbesondere der Erhalt aufgebauter Beziehungen und Ver-
trauensverhältnisse zwischen Jugendhilfe und Jugendlichen, die Fortführung be-
gonnener Maßnahmen sowie eine über das 18. Lebensjahr hinausgehende Un-
terbringung in Einrichtungen der Jugendhilfe;

6. auf eine nach starren Quoten erfolgende Verteilung von unbegleiteten minder-
jährigen Flüchtlingen zu verzichten und stattdessen mit Rücksicht auf die Inte-
ressen und Bedürfnisse der jungen Menschen und die Aufnahmekapazitäten der
Kommunen flexible Möglichkeiten der bundesweiten Unterbringung zu schaf-
fen. Dieser Unterbringungsmechanismus sollte folgende Kriterien erfüllen:
a) Am Anfang steht eine zeitlich flexible Aufnahmephase, die dazu dient, ein

Vertrauensverhältnis zwischen den jungen Flüchtlingen und den Struktu-
ren der Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln, die Interessen der jungen
Menschen zu erfassen und Zukunftsoptionen auszuloten;

b) dazu gehört neben den aufenthaltsrechtlichen Perspektiven auch, an wel-
chem Ort in der Bundesrepublik Deutschland die besten Bedingungen für
die jeweils individuelle Situation der jungen Flüchtlinge anzutreffen sind.
Dabei sind zahlreiche Kriterien zu beachten wie insbesondere familiäre
Bindungen, soziale Kontakte, kulturelle Aspekte, persönliche Interessen,
Berufsperspektiven sowie ggf. das Vorhandensein spezialisierter Jugend-
hilfeeinrichtungen;

c) die Bestellung eines Vormundes muss zum Beginn dieses Verfahrens er-
folgen, um einen durchgehenden Beistand zu garantieren;

7. die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt zu stärken und auszubauen, damit sie
ihren allgemeinen und vielfältigen Aufgaben in der gesamten Bandbreite nach-
kommen und darüber hinaus genügend Kapazitäten vorhalten kann, um unbe-
gleitete minderjährige und junge erwachsene Flüchtlinge im Sinne des SGB VIII
aufzunehmen, zu betreuen und zu unterstützen. Auch die Interessen und Bedürf-
nisse begleiteter Kinder und Jugendlicher sind stärker zu berücksichtigen;
anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

Drucksache 18/4185 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
8. kurz- und mittelfristig auf der Grundlage eines Schlüssels und einer Kostenbe-

messung die Verteilung der Kosten der Unterbringung minderjähriger unbeglei-
teter Flüchtlinge zwischen dem Bund und den Ländern entsprechend den realen
Anforderungen und Ausgaben zu regeln. In entsprechenden Vereinbarungen ist
sicherzustellen, dass die Mittel von den Ländern an ihre Kommunen weiterge-
leitet werden. Langfristig müssen die Kommunen finanziell in die Lage versetzt
werden, diesen Aufgabenbereich bestmöglich wahrnehmen zu können;

9. ein System der Interessenvertretung der betroffenen Kinder und Jugendlichen
aufzubauen sowie flächendeckend Ombudsstellen in der Kinder- und Jugend-
hilfe zur unabhängigen Beratung und Unterstützung einzurichten. Die Angebote
der Kinder- und Jugendhilfe sind barrierefrei auszugestalten.

Berlin, den 3. März 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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