BT-Drucksache 18/4092

50 Jahre Europäische Sozialcharta - Deutschlands Verpflichtungen einhalten und die Sozialcharta weiterentwickeln

Vom 24. Februar 2015


Deutscher Bundestag Drucksache 18/4092
18. Wahlperiode 24.02.2015
Antrag
der Abgeordneten Andrej Hunko, Azize Tank, Katja Kipping, Wolfgang Gehrcke,
Jan Korte, Sigrid Hupach, Sabine Zimmermann (Zwickau), Jan van Aken, Matthias
W. Birkwald, Christine Buchholz, Sevim D elen, Dr. Diether Dehm, Nicole
Gohlke, Annette Groth, Heike Hänsel, Dr. Rosemarie Hein, Inge Höger, Ulla
Jelpke, Katrin Kunert, Stefan Liebich, Cornelia Möhring, Niema Movassat,
Norbert Müller (Potsdam), Dr. Alexander S. Neu, Alexander Ulrich, Harald
Weinberg, Katrin Werner, Birgit Wöllert, Jörn Wunderlich, Pia Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

50 Jahre Europäische Sozialcharta – Deutschlands Verpflichtungen einhalten
und die Sozialcharta weiterentwickeln

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor 50 Jahren trat die Europäische Sozialcharta in Kraft. Entsprechend dem Ziel des
Europarates, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern, wurde damit
ein neues rechtsverbindliches Instrument neben der Europäischen Menschenrechts-
konvention (EMRK) geschaffen, um die Menschenrechte zu schützen, die zuvor in
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen niederge-
legt wurden. Damit wurde auch die universelle Geltung und Unteilbarkeit der Men-
schenrechte bekräftigt und fortentwickelt. Die in der Europäischen Sozialcharta ge-
schützten Rechte umfassen unter anderem das Recht auf Arbeit, die Koalitionsfrei-
heit, das Recht auf Kollektivverhandlungen, das Recht auf soziale Sicherheit, das
Recht der Familien auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz sowie das
Recht der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter und ihrer Familien auf Schutz
und Beistand. Die Europäische Sozialcharta soll die Ausübung und Durchsetzung
sozialer Rechte „ohne Diskriminierung aus Gründen der Rasse, der Hautfarbe, des
Geschlechts, der Religion, der politischen Meinung, der nationalen Abstammung
oder der sozialen Herkunft“ sicherstellen.

Heute werden die Rechte der Europäischen Sozialcharta auch von der EU-Grund-
rechtecharta bekräftigt und sowohl vom Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte (EGMR) als auch vom Europäischen Gerichtshof (EUGH) bei seiner Rechts-
auslegung herangezogen. Deutschland gehörte im Oktober 1961 zu den Erstunter-
zeichnern der Sozialcharta und das Abkommen konnte 1965 in Kraft treten, nachdem
Deutschland als fünfter Staat diesen wichtigen Meilenstein der sozialen Menschen-
rechte ratifiziert hatte.

Auch nach 50 Jahren sind nicht alle Rechte der Sozialcharta in Deutschland gewähr-
leistet. Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte des Europarates dokumentiert

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in regelmäßigen Berichten, in welchen Aspekten Deutschland seine völkerrechtli-
chen Verpflichtungen nicht erfüllt, insbesondere:
Das Streikrecht aus Artikel 6 Abs. 4 ist mit der Beschränkung auf das Erreichen

eines Tarifvertrags eingeschränkt und mit den Bedingungen für die Anerken-
nung einer Gewerkschaft, die einen Streik ausrufen kann, bereits ohne Tarifein-
heitsgesetz exzessiv beschränkt, wie auch durch die Regelungen, die einen
Streik von Beamtinnen und Beamten grundsätzlich ausschließen (Conclusions
XIX-3 (2010), S. 14 vom Dezember 2010).

Das Recht auf gleichen Lohn für Frauen und Männer aus Artikel 4 Abs. 3 wird
nicht ausreichend geschützt, da die von Gerichten festzulegende Kompensation
für die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses nach einer unrechtmäßigen Kündi-
gung infolge von Ansprüchen auf gleiche Bezahlung vom Gesetzgeber be-
schränkt ist und dadurch die Gefahr besteht, dass keine adäquate Kompensation
für die Arbeitnehmer/innen erreicht wird und kein ausreichender Abschre-
ckungseffekt für den Arbeitgeber erzielt wird (Conclusions XX-3 (2014), S. 12
vom Januar 2015).

Seit Jahren kritisiert der Ausschuss, dass das Recht auf eine faire Bezahlung aus
Artikel 4 Abs. 1 nicht eingehalten wird, weil die niedrigsten Löhne keinen an-
gemessenen Lebensstandard gewährleisten (zuletzt: Conclusions XX-3 (2014),
S. 12 vom Januar 2015). Auch der eingeführte Mindestlohn von 8,50 € ent-
spricht nicht den vom Ausschuss definierten Standards.

Das in Artikel 1 Abs. 2 garantierte Recht seinen Lebensunterhalt durch eine frei
übernommene Tätigkeit zu verdienen, kann unter bestimmten Bedingungen
durch den angedrohten Verlust der Arbeitslosenunterstützung beziehungsweise
die Kürzungen der Grundsicherungsleistungen im Falle einer Weigerung eine
vorgeschlagene Arbeit anzunehmen, beschränkt werden (Conclusions XX-1
(2012), S. 6 f. vom Januar 2013; Conclusions XX-2 (2013), S. 18 vom Novem-
ber 2014).

Selbständige sind entgegen den Bestimmungen aus Artikel 3 Abs. 1 nicht aus-
reichend durch die beruflichen gesundheits- und arbeitsrechtlichen Bestimmung
geschützt (Conclusions XIX-2 (2009), S. 5 f. vom Januar 2010).

Die Rechte junger Auszubildender auf faire Bezahlung aus Artikel 7 Abs. 5 wer-
den verletzt, da sie am Ende der Ausbildung nicht die erforderlichen zwei Drittel
des Ausgebildetenanfangslohns erhalten (Conclusions XIX-4 (2011), S. 5 vom
Januar 2012).

In Deutschland sind zudem Abschiebungen erlaubt, die die Schranken des Arti-
kels 19 Abs. 8 verletzen (Conclusions XIX-4 (2011), S. 23 f. vom Januar 2012).

In Deutschland wird auch das Recht auf soziale Sicherheit aus Artikel 12 Abs.
4 nicht vollumfänglich umgesetzt, das eine Gleichbehandlung der Staatsange-
hörigen anderer Vertragsparteien hinsichtlich des Zugangs zur Sozialversiche-
rung und zu vollumfänglicher sozialer und medizinischer Versorgung vorsieht
(Conclusions XX-2 (2013), S. 24 vom November 2014). Auch mit Blick auf das
Recht auf soziale und medizinische Unterstützung nach Artikel 13 Abs. 1 und 3
hat der Ausschuss Zweifel an der Gleichbehandlung der Staatsangehörigen an-
derer Vertragsparteien, da ihm die geforderten Informationen nicht vorgelegt
wurden.

Deutschland erfüllt nicht alle Berichtspflichten, da es dem Ausschuss für soziale
Rechte die von ihm angeforderten Informationen nicht übermittelt (zuletzt Con-
clusions XX-3 (2014), S. 3; Conclusions XX-2 (2013), S. 3; Conclusions XX-1
(2012), S. 3).

Darüber hinaus hat die Bundesregierung das Zusatzprotokoll über Kollektivbe-
schwerden (SEV-Nr. 158) aus dem Jahre 1995 nicht unterzeichnet, das es nationalen

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wie internationalen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen ermöglicht, Be-
schwerden über eine nicht zufriedenstellende Anwendung der Charta beim Europä-
ischen Ausschuss für Soziale Rechte vorzubringen, und damit den Rechtsschutz zu
stärken.

Im Jahr 2007 hat die Bundesregierung die seit 1999 in Kraft getretene revidierte
Fassung der Europäischen Sozialcharta (SEV-Nr. 163) unterzeichnet, die weiterge-
hende soziale Grundrechte wie das Recht auf eine Wohnung, den besonderen Schutz
älterer Menschen, den Kündigungsschutz oder den Schutz vor Armut auf europäi-
scher Ebene festschreibt. Bereits 33 der 47 Mitgliedstaaten des Europarates haben
die revidierte Europäische Sozialcharta ratifiziert. In ihrer Darstellung beabsichtigt
zwar auch die Bundesregierung eine Ratifizierung, allerdings gibt es kontinuierli-
chen Widerstand beispielsweise gegen das Diskriminierungsverbot, der zusammen
mit einer grundsätzlichen Kritik an der Spruchpraxis des Europäischen Ausschusses
für Soziale Rechte eine Ratifikation bis jetzt verhindert hat. Eine politische Entschei-
dung wird mit dem wiederholten Hinweis auf weitere Prüfverfahren vermieden. Die
Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) fordert immer wieder die
ausstehende Ratifizierung, wie zuletzt auch ihre Präsidentin, Anne Brasseur, bei ih-
rem Besuch in Berlin im Januar 2015.

Doch nicht nur in Bezug auf die Gewährleistung sozialer Menschenrechte in der
Bundesrepublik wird Deutschland seinen Verpflichtungen aus der Sozialcharta nicht
gerecht. Mit der Ratifizierung der Sozialcharta haben sich die Staaten entschlossen
„gemeinsam alle Anstrengungen zu unternehmen, um durch geeignete Einrichtun-
gen und Maßnahmen den Lebensstandard ihrer Bevölkerung in Stadt und Land zu
verbessern und ihr soziales Wohl zu fördern“ und „mit allen zweckdienlichen Mit-
teln staatlicher und zwischenstaatlicher Art eine Politik zu verfolgen, die darauf ab-
zielt, geeignete Voraussetzungen zu schaffen, damit die tatsächliche Ausübung“ so-
zialer Rechte und Grundsätze gewährleistet ist. Deutschland hat seit der Krise 2009
in anderen europäischen Staaten Einfluss auf die Gewährleistung von Menschen-
rechten aus der Sozialcharta genommen und dabei allerdings nicht auf einen Fort-
schritt, sondern auf einen Abbau der Rechte hingewirkt.

In Griechenland beispielsweise hat die von Deutschland und der EU aufgezwungene
Austeritätspolitik zu einer humanitären Katastrophe und zu zahlreichen Verletzun-
gen sozialer Rechte geführt. In aller Deutlichkeit zeigt dies ein im Dezember 2014
veröffentlichter Bericht der Internationalen Föderation von Menschenrechtsorgani-
sationen (FIDH) mit dem Titel „Downgrading rights: the cost of austerity in Greece“.
Darin kritisiert der Dachverband von 178 Menschenrechtsorganisationen zu Recht
gravierende Menschenrechtsverletzungen in Griechenland und deren Verschärfung
im Zuge der Krisenpolitik der zurückliegenden Jahre. Die Autoren schreiben: „Wir
werden Zeugen eines Übergangs in einen Zustand, bei dem elementare Grundrechte
und der Rechtsstaat herausgefordert und abgebaut werden.“

Bereits 2012 hatte sich die Parlamentarische Versammlung des Europarates äußerst
kritisch mit den Gefahren befasst, die von der Austeritätspolitik für Demokratie und
soziale Menschenrechte ausgehen. Sie zeigte sich besorgt, dass diese Politik „die
Krise weiter (…) vertiefen und die sozialen Rechte (…) untergraben“ könne (Ent-
schließung 1884 (2012): Austerity measures – a danger for democracy and social
rigths). Auch der Generalsekretär und der Menschenrechtsbeauftragte des Europara-
tes haben wiederholt auf die Bedrohung sozialer Rechte durch die Austeritätspolitik
hingewiesen. Nicht zuletzt wurden mehrere Maßnahmen aus den Memoranda of Un-
derstanding der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Interna-
tionalem Währungsfond vom Europäischen Ausschuss für Soziale Rechte als Ver-
letzung von sozialen Rechten der Sozialcharta beurteilt.

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Entgegen ihrer Verpflichtung aus der Europäischen Sozialcharta und der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention trägt die Bundesregierung nicht nur politisch in-
nerhalb der EU, sondern auch völkerrechtlich Verantwortung für Einschränkungen
und Verletzungen sozialer Rechte in anderen Mitgliedstaaten. Denn durch die Ver-
treter Deutschlands im Gouverneursrat des Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM), der einvernehmlich entscheidet, hat Deutschland jedes von diesem bestätigte
Memorandum of Understanding mit zu verantworten und dabei grund- und men-
schenrechtliche Pflichten zu beachten (vgl. Rechtsgutachten „Austeritätspolitik und
Menschenrechte – Rechtspflichten der Unionsorgane beim Abschluss von Memo-
randa of Understanding“).

Die Antworten vieler Unterzeichnerstaaten der Europäischen Sozialcharta und der
EU auf die Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise haben gezeigt, dass die Instru-
mente zum Schutz sozialer Rechte aus der Konvention nicht ausreichen, um unbe-
gründete, unverhältnismäßige, diskriminierende oder gar den Wesensgehalt antas-
tende Einschränkungen sozialer Rechte zu verhindern oder wenigstens angemessen
darauf zu reagieren. Daher stellt sich die Frage einer Reform der Kontrollmechanis-
men und nach der Wiederherstellung von Rechten, die auf Dauer eingeschränkt oder
verletzt wurden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. dem Bundestag einen Gesetzentwurf zur Ratifizierung der revidierten Europäi-
schen Sozialcharta (SEV Nr. 163) zur Ratifizierung vorzulegen;

2. derweil jährlich einen Bericht über die Fortschritte bei der Vorbereitung der Ra-
tifizierung der revidierten Sozialcharta, über die Ergebnisse der Prüfungen der
jeweiligen beteiligten Ministerien sowie über die Fortschritte bei der Abstim-
mung zwischen den Ressorts zu veröffentlichen;

3. im Rahmen ihres Menschenrechtsberichts über den Stand der Umsetzung der
Europäischen Sozialcharta zu berichten, dabei die Schlussfolgerungen des Eu-
ropäischen Ausschusses für Soziale Rechte vorzustellen und die daraus folgen-
den Maßnahmen der Bundesregierung darzustellen;

4. die Kompetenzen des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte zur selbst-
ständigen Auslegung der Europäischen Sozialcharta als Teil des „living instru-
ment“ anzuerkennen, ihn in seiner Arbeit zu unterstützen und alle vom Aus-
schuss angeforderten Informationen zu übermitteln;

5. das Zusatzprotokoll über Kollektivbeschwerden (SEV Nr. 158) zu unterzeich-
nen und einen Gesetzentwurf zur Ratifizierung vorzulegen;

6. einen Reformprozess zur Verbesserung des Schutzes sozialer Rechte und zur
Weiterentwicklung der Sozialcharta auf der Grundlage aktueller Menschen-
rechtsnormen unter breiter Einbeziehung von Nichtregierungsorganisationen
und zivilgesellschaftlichen Organisationen anzustoßen und sich dabei für die
Berücksichtigung des individuellen Charakters von Grundrechten unabhängig
von Alter, Geschlecht und Aufenthaltsstatus einzusetzen;

7. beim diesjährigen Kolloquium „Die Zukunft der sozialen Grundrechte in Eu-
ropa“ des Europarates auf Ministerebene teilzunehmen und den Turin-Prozess
im Europarat zu unterstützen;

8. ein Konzept für eine Reform des Europäischen Ausschusses für Soziale Rechte
zu erarbeiten, das diesem Gremium stärkere Kontroll- und Sanktionsmöglich-
keiten bei Verstößen gegen die Europäische Sozialcharta eröffnet und neben na-
tionalen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen auch anderen fachlichen
Nichtregierungsorganisationen die Möglichkeit gibt, Parallelberichte nach Arti-
kel 23 der Charta abzugeben; insbesondere ist für die Zukunft sicherzustellen,
dass – wie laut Turiner Protokoll vorgesehen – die Mitglieder des Europäischen

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Ausschusses wie auch die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte von der parlamentarischen Versammlung gewählt werden;

9. sich für eine Konferenz der Mitgliedstaaten des Europarates einzusetzen, bei der
die Austeritätspolitik der letzten fünf Krisenjahre ausgewertet und eine men-
schenrechtliche Bilanz gezogen wird sowie die notwendigen Korrekturen ein-
geleitet werden sollen.

Berlin, den 24. Februar 2015

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

anzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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