BT-Drucksache 18/409

Gefahr eines Missbrauchs von Interpol als Instrument politischer Verfolgung

Vom 30. Januar 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/409
18. Wahlperiode 30.01.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Andrej Hunko, Sevim Dağdelen, Annette
Groth, Harald Petzold (Havelland), Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Gefahr eines Missbrauchs von Interpol als Instrument politischer Verfolgung

Einen zunehmenden Missbrauch der internationalen Polizeiorganisation Inter-
pol als Instrument politischer Verfolgung von Oppositionellen im Exil und
Flüchtlingen durch eine Reihe von Mitgliedstaaten beklagt die in London an-
sässige Menschenrechtsorganisation Fair Trials International (FTI). Dies habe
verheerende Auswirkungen auf die Lebensumstände der Betroffenen, die ihrer
Freizügigkeit beraubt werden und mit der ständigen Angst vor einer Verhaftung
leben müssen. Aus Furcht vor einer Inhaftierung könnten Betroffene jahrelang
nicht ins Ausland reisen. Andere erführen von den bestehenden internationalen
Haftbefehlen erst durch ihre Festnahme bei einer Grenzkontrolle. Zudem werde
der Ruf der Betroffenen geschädigt, indem sie auf teilweise auch öffentlich ein-
sehbaren digitalen Fahndungslisten als gesuchte Kriminelle oder Terroristen
klassifiziert werden. Dies könne zum Verlust des Arbeitsplatzes, der Aufent-
haltsgenehmigung oder des Bankkontos führen.
Ein seit dem Jahr 2009 existierendes Dateisystem ermöglicht es allen 190 Mit-
gliedstaaten, Fahndungsaufrufe und Festnahmeersuchen (Red Notices) direkt
einzustellen. Diese können von Interpol erst überprüft werden, nachdem sie
so bereits Polizeibehörden weltweit zugänglich gemacht wurden. Unter den
Ländern, die laut FTI Interpol zur Verfolgung politscher Dissidentinnen und
von Dissidenten sowie von Flüchtlingen nutzen, werden unter anderem die
Türkei, Russland und der Iran genannt (www.fairtrials.org/wp-content/uploads/
Strengthening-respect-for-human-rights-strengthening-INTERPOL4.pdf).
Die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström erklärte im Dezember 2013 auf
die Anfrage zweier Abgeordneter des Europäischen Parlaments, der Europä-
ischen Kommission seien konkrete, darunter auch von FTI genannte Fälle
bekannt, „bei denen eine Reihe von Interpol-Mitgliedern angeblich politisch
motivierte Ersuchen um Festnahmen gesuchter Personen gestellt haben“. Die
Europäische Kommission wolle in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaa-
ten als Mitglieder von Interpol „mit Interpol die bestehenden Verfahren für die
Interpol-Ausschreibungen ansprechen, einschließlich etwaiger notwendiger
Maßnahmen zur weiteren Stärkung der Mechanismen zur Vermeidung politisch
begründeter Ersuchen“ (www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do?
reference=E-2013-011457& language=DE).
Die Fraktion DIE LINKE. hat bereits mehrfach parlamentarische Anfragen nach
der Praxis der Türkei gestellt, über Interpol Haftbefehle gegen türkische Staats-
angehörige auszuschreiben, die im Rahmen politisch motivierter Prozesse in
Abwesenheit verurteilt worden sind (Antworten der Bundesregierung auf die

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Kleinen Anfragen der Fraktion DIE LINKE. auf den Bundestagsdrucksachen
17/1470, 17/1978 und 17/10400). Mehrfach wurden in den letzten Jahren selbst
anerkannte Asylberechtige und Flüchtlinge in Deutschland sowie Flüchtlinge,
die die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben, bei Auslandsreisen in ein
Auslieferungsverfahren und in Auslieferungshaft genommen. Eine Ausliefe-
rung an die Türkei wurde in den den Fragestellerinnen und Fragestellern bekannt
gewordenen Fällen zwar letztlich auch aufgrund internationaler Proteste abge-
lehnt. Doch für die Betroffenen führte oft schon die Haft in einem fremden Land,
verbunden mit der Angst vor einer Auslieferung an einen Verfolgerstaat, zu
schweren seelischen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen einschließlich
Retraumatisierungen.
Die aufgrund von Interpol-Haftbefehlen drohende Verhaftung bei Auslandsrei-
sen schränkt Exiloppositionelle und Asylberechtigte in ihrer Reisefreiheit und
damit auch in den Möglichkeiten, ihre politische, menschenrechtliche oder
journalistische Arbeit außerhalb ihres Heimatlandes fortzusetzen, erheblich ein.
So besteht gegen den bei München lebenden kurdischstämmigen Schriftsteller
Haydar Isik seit dem 17. Juni 2008 ein internationaler Haftbefehl (vgl. Bundes-
tagsdrucksache 17/1501). Die türkische Justiz wirft Haydar Isik aufgrund seiner
Mitgliedschaft im zwischen 1995 und 1999 bestehenden Kurdistan-Parlament
im Exil die Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor.
Haydar Isik lebt seit dem Jahr 1974 in Deutschland. Nach dem Militärputsch im
Jahr 1980 in der Türkei wurde er ausgebürgert und erhielt im Jahr 1982 die deut-
sche Staatsbürgerschaft. In der Türkei, die Haydar Isik seit dem Jahr 1978 nicht
mehr betreten hat, wurden mehrere Strafverfahren aufgrund seiner Romane, die
sich mit der kurdischen Thematik befassen, eingeleitet.
Bereits eine zufällige polizeiliche Personenkontrolle im Ausland kann heute zu
Haydar Isiks Festnahme, einer mehrmonatigen Auslieferungshaft und schlimms-
tenfalls seiner Auslieferung an die Türkei führen. Aufgrund des Interpol-Haft-
befehls musste Haydar Isik so seine Teilnahme an mehreren, teilweise von ihm
mit organisierten Konferenzen zur kurdischen Frage im Europäischen Parlament
ebenso absagen wie Einladungen zu Lesungen aus seinen Romanen im europä-
ischen Ausland.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwieweit und durch welche Staaten sieht die Bundesregierung die von der

Menschenrechtsorganisation FTI aufgezeigte Gefahr eines Missbrauchs von
Interpol zur Verfolgung von Exiloppositionellen und Flüchtlingen durch in-
ternationale Fahndungsersuche und Haftbefehle?

2. Welche von FTI aufgelisteten Fälle waren der Bundesregierung bereits be-
kannt geworden, bzw. an welchen dieser Fälle war sie selbst beteiligt?

3. Inwieweit war die Problematik eines möglichen politischen Missbrauchs von
Interpol durch einige Staaten zur Verfolgung von Exiloppositionellen und
Flüchtlingen bereits Gegenstand von Gesprächen und Beratungen in zustän-
digen Gremien auf EU-Ebene?
a) Inwieweit sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, diese Thematik

zum Gegenstand von Beratungen in den zuständigen EU-Gremien zu ma-
chen, und inwiefern gedenkt sie, eine solche Beratung anzustoßen?

b) Wann und durch welche Regierungen wurde diese Thematik bislang zum
Gesprächsgegenstand auf EU-Ebene gemacht?

c) Inwieweit wurde die Problematik nach Kenntnis der Bundesregierung in-
nerhalb der Europäischen Kommission angesprochen?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/409
d) Hat die Europäische Kommission – wie von der Innenkommissarin
Cecilia Malmström auf eine Anfrage von Abgeordneten des Europä-
ischen Parlaments angegeben – diese Problematik bereits mit den EU-
Mitgliedstaaten angesprochen, und wenn ja, welche Konsequenzen er-
folgten daraus (siehe Kommissionsdokument E-011457/2013)?

4. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Europäischen
Kommission, wonach konkrete Fälle bekannt seien, „bei denen eine Reihe
von Interpol-Mitgliedern angeblich politisch motivierte Ersuchen um Fest-
nahme gesuchter Personen gestellt haben“?

5. Inwieweit war die Problematik eines möglichen politischen Missbrauchs
von Interpol durch einige Staaten zur Verfolgung von Exiloppositionellen
und Flüchtlingen bereits Gegenstand von bilateralen Gesprächen und Bera-
tungen der Bundesregierung mit den dieses Missbrauchs beschuldigten
Staaten (bitte Staaten benennen)?

6. Inwieweit und wie gedenkt sich die Bundesregierung für eine Reform der
Interpol-Mechanismen einzusetzen, um eine ungerechtfertigte Verfolgung
von Exiloppositionellen, Flüchtlingen, Menschenrechtsaktivistinnen- und
-aktivisten sowie Journalistinnen und Journalisten durch politisch moti-
vierte internationale Haftbefehle zu verhindern?

7. Welche Schutzmechanismen von Interpol gegen politisch motivierten Miss-
brauch internationaler Haftbefehle bestehen nach Kenntnis der Bundesre-
gierung?
a) Sind diese Schutzmechanismen nach Ansicht der Bundesregierung ef-

fektiv und ausreichend?
b) Wenn nein, welche Reformvorschläge hat die Bundesregierung zur Ver-

besserung der Schutzmechanismen von Interpol gegen den Missbrauch
ihrer Instrumente?

8. Welche Möglichkeiten haben Betroffene nach Kenntnis der Bundesregie-
rung, sich gegen einen von einem Staat zu politischen Zwecken missbräuch-
lich eingesetzten Interpol-Haftbefehl zu wehren?
a) Reichen diese Möglichkeiten nach Ansicht der Bundesregierung aus?
b) Wenn nein, welche Reformen schlägt die Bundesregierung hier vor?

9. Welche Möglichkeiten gibt es, dass von Interpol gesuchte Personen vor ih-
rer Festnahme von der Existenz eines solchen Haftbefehls erfahren können?
a) Reichen diese Möglichkeiten nach Ansicht der Bundesregierung aus?
b) Wenn nein, was müsste nach Ansicht der Bundesregierung verändert

werden?
10. Welche Erkenntnisse und Erfahrungen aus anderen EU-Staaten sind der

Bundesregierung bekannt, die das Problem der Interpol-Haftbefehle gegen
Personen betreffen, die in einem EU-Staat internationalen Schutz genießen?

11. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, regelmäßig Daten der In-
terpol-Fahndung mit den Daten von Personen abzugleichen, die in Deutsch-
land oder einem anderen Mitgliedstaat der EU internationalen Schutz ge-
nießen, um unbillige Härten für diese Personen durch Inhaftierung und eine
eventuelle retraumatisierende Konfrontation mit den Behörden ihres Ver-
folgerstaates im Auslieferungsverfahren zu vermeiden?

12. Was ist der Bundesregierung über ein kürzlich bei Interpol erfolgtes Up-
grade auf ein neues Dateisystem „I-link“ bekannt, und worin besteht dessen
Funktionalität (statewatch, 27. November 2013)?

Drucksache 18/409 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
a) Inwiefern trifft es zu, dass bislang unzusammenhängende Datensätze
miteinander abgeglichen werden können?

b) Inwiefern trifft es zu, dass die nationalen Kontaktstellen ihre Informatio-
nen nun selbst in die Informationssysteme bei Interpol einstellen kön-
nen?

c) Sofern dies zutrifft, müssen die eingestellten Datensätze noch von Inter-
pol freigeschaltet werden?

13. Wie erklärt die Bundesregierung die Zunahme der Ausschreibungen bei In-
terpol, die im Jahr 2001 bei 1 418 Personen gelegen haben, im Jahr 2008
mehr als doppelt soviel betrugen und nach der Einführung von „I-link“ auf
7 678 wuchsen?

14. Bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung Möglichkeiten zur Ausset-
zung von Interpol-Haftbefehlen dritter Staaten für das Gebiet der Europä-
ischen Union?
a) Wenn ja, welche Möglichkeiten sind dies?
b) Wenn nein, inwieweit sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, sol-

che Möglichkeiten zur Aussetzung von Interpol-Haftbefehlen dritter
Staaten für das Gebiet der EU zu schaffen?

15. Inwieweit sieht Bundesregierung in missbräuchlichen, politisch motivierten
Haftbefehlen über Interpol eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit inner-
halb der EU und der Reisefreiheit von davon betroffenen deutschen Staats-
bürgerinnen und Staatsbürgern sowie von Personen, die über Aufenthalts-
recht in Deutschland verfügen, und welche Maßnahmen zum Schutz der
Rechte der von solchen Haftbefehlen Betroffenen gedenkt die Bundesregie-
rung zu ergreifen?

16. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Ausschreibung des Gründers der vor allem gegen Walfang aktiven
Umweltschutzorganisation Sea Shepherd Paul Watson sowie des Wikileaks-
Gründers Julian Assange mit einer Red Notice?

17. Welche Fälle seit dem Jahr 2012 sind der Bundesregierung bekannt gewor-
den, in denen Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit oder mit einem
Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines türki-
schen Interpol-Haftbefehls in einem anderen Staat in einem Auslieferungs-
verfahren waren (bitte soweit wie möglich nach Jahren, Aufenthaltsstatus,
Drittstaaten und Ergebnis des jeweiligen Verfahrens auflisten)?

18. Welche Fälle seit dem Jahr 2012 sind der Bundesregierung bekannt, in de-
nen aufgrund eines türkischen Interpol-Haftbefehls in einem anderen Staat
anerkannte Flüchtlinge in Deutschland (vorläufig) festgenommen wurden
(bitte soweit wie möglich nach Jahren, Drittstaaten, Ausgang des jeweiligen
Verfahrens auflisten)?

19. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung zur Zahl und zum Aus-
gang der Auslieferungsverfahren gegen (ehemalige) türkische Staatsange-
hörige in der Bundesrepublik Deutschland vor, die sich auf Straftatbestände
analog den §§ 129, 129a und 129b des Strafgesetzbuchs in den Jahren 2012
und 2013 beziehen?

Berlin, den 30. Januar 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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