BT-Drucksache 18/3080

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/2581, 18/3004, 18/3077 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften

Vom 5. November 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3080
18. Wahlperiode 05.11.2014
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Sevim Da delen, Dr. André Hahn, Kerstin Kassner,
Katja Kipping, Azize Tank, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak,
Harald Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/2581, 18/3004, 18/3077 –

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
und weiterer Vorschriften

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Bundestag verurteilt die unverantwortliche politische Instrumentalisie-
rung eines angeblich verbreiteten Missbrauchs des EU-Freizügigkeitsrechts
und damit zusammenhängender sozialer Rechte in Deutschland. Ohne je-
den Beleg für solch einen Missbrauch wurde mit Parolen wie „Wer betrügt,
der fliegt“ Wahlkampf betrieben. Mit diesen Kampagnen wurden Ressen-
timents gegen so genannte „Armutszuwanderer“ geschürt. Unausgespro-
chen ging es bei diesem Begriff vor allem um Roma aus Rumänien und
Bulgarien. Mit dieser gefährlichen rechtspopulistischen Strategie wurden
rechte Parteien gestärkt, antiziganistische Hetze und Gewalt befördert und
die Akzeptanz der EU-Freizügigkeit in der Bevölkerung gefährdet.

2. Die Bundesregierung musste schon im April 2013 auf Anfrage aus dem
Bundestag einräumen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/13322), dass es sich
bei der Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien „nicht in erster Linie
um so genannte ‚Armutsflüchtlinge‘ handelt“. Der Bundestag erkennt an,
dass einzelne Städte und Kommunen infolge einer hohen Zahl neu einge-
reister Unionsbürgerinnen und -bürger, die auf öffentliche Unterstützung
angewiesen sind, angesichts ohnehin geringer eigener Ressourcen vor gro-
ßen Herausforderungen stehen. Doch insgesamt profitiert die Bundesrepub-
lik Deutschland sehr von der Einwanderung freizügigkeitsberechtigter Uni-
onsbürgerinnen und Unionsbürger, auch aus Rumänien und Bulgarien.

3. Der Bundestag fordert vor diesem Hintergrund eine positive Ausgestaltung
der EU-Freizügigkeit, die nicht auf Ausgrenzung und Restriktionen setzt.
Unionsbürgerinnen und -bürgern sollen, soweit diese auf soziale Unterstüt-
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zungsleistungen angewiesen sind, im Rahmen europäischer Solidarität ent-
sprechend unterstützt werden. Der Bundestag folgt damit auch dem Euro-
päischen Gerichtshof, der in seinem „Brey“-Urteil vom 19. September
2013 die „Solidarität der Staatsangehörigen des Aufnahmestaates mit de-
nen der anderen Mitgliedsstaaten“ vgl. Rechtssache C- 140/02) als ein
Element des EU-Rechts betont hat.

4. Auch die Sachverständigen-Anhörung des Innenausschusses am 13. Okto-
ber 2014 zeigte eine breite Übereinstimmung der geladenen Expertinnen
und Experten, dass es keinerlei Belege für einen Missbrauch der Freizügig-
keit oder von sozialen Leistungen in relevanter Größenordnung gibt. Viel-
mehr wurde die Notwendigkeit sozialpolitischer Unterstützungsmaßnah-
men vor Ort betont, um Probleme im Zusammenhang der EU-Freizügigkeit
in innereuropäischer Solidarität positiv angehen zu können. Partizipation
statt Ausgrenzung müsse das Motto lauten, auf soziale Herausforderungen
könne nicht angemessen mit den überkommenen restriktiven Mitteln des
Ordnungsrechts reagiert werden.

5. Der Bundestag bedauert, dass die Bundesregierung mit ihrem Gesetzent-
wurf auf Bundestagsdrucksache 18/2581 einen grundlegend falschen Weg
eingeschlagen hat und trotz aller Kritik daran festhält. Die vorgesehenen
Verschärfungen des Freizügigkeitsrechts sind weitgehend überflüssig oder
sogar unionsrechtswidrig, etwa die geplanten Wiedereinreisesperren. Sie
werden aber auch absehbar zu inakzeptablen Einschränkungen und Versa-
gungen von Rechten von Unionsbürgerinnen und -bürgern in der Praxis
führen. Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Finanzhilfen schaffen nur
kurzzeitig Abhilfe, sind in der Höhe unzureichend und werden in der Praxis
die betroffenen Kommunen und Zielgruppen oftmals nicht erreichen. Er-
forderlich sind vielmehr eine langfristige Strategie der sozialen Inklusion
der neuen Einwanderinnen und Einwanderer in den Kommunen und ein
grundsätzlich unterstützender Umgang mit arbeitsuchenden Migrantinnen
und Migranten aus der EU.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die geplanten Verschärfungen im Freizügigkeitsrecht nicht weiter zu ver-
folgen;

2. dauerhafte Finanzinstrumente einzurichten, mit denen Länder und Kom-
munen auf kurzfristig stark steigende Zahlen insbesondere von arbeitsu-
chenden Unionsbürgerinnen und -bürger reagieren können, ohne dabei auf
andere Finanz- und Strukturmittel zurückgreifen zu müssen;

3. in Zusammenarbeit mit Ländern, Kommunen, Wohlfahrtverbänden und
Gewerkschaften Konzepte und Maßnahmen zu entwickeln, wie die Integra-
tion insbesondere zur Arbeitsuche eingereister Unionsbürgerinnen und
-bürger verbessert und der Schutz vor ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen
und Mietwucher gesichert werden kann;

4. die pauschalen Ausschlussregelungen in Bezug auf Arbeit suchende Uni-
onsangehörige im Sozialrecht (insbesondere § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 SGB
II) aufzuheben und den Vorgaben des EU-Rechts anzupassen, etwa hin-
sichtlich der erforderlichen Einzelfallprüfung. Soweit dies zu einer finanzi-
ellen Mehrbelastung der Kommunen führt, hat der Bund diese durch eine
entsprechende Beteiligung gegenüber den Ländern auszugleichen;

5. in zukünftigen Regelungen die Prüfung der Voraussetzungen des Bestehens
des Freizügigkeitsrechts allein bei den zuständigen Ausländerbehörden zu
belassen und die Inanspruchnahme sozialer Leistungen nicht von einer Prü-

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fung der Voraussetzungen für das Bestehen des Freizügigkeitsrechts durch
die Leistungsträger abhängig zu machen; in diesem Sinne ist die entspre-
chende Dienstanweisung an die Familienkassen, die eine solche Prüfung
verlangt, zurückzunehmen und auf die Spitzenverbände der gesetzlichen
Krankenkassen hinzuwirken, entsprechende Rundschreiben zur Prüfung der
Aussicht auf Aufnahme einer Beschäftigung nach sechsmonatigem Aufent-
halt im Falle arbeitsuchender Unionsbürgerinnen und -bürger vor der Auf-
nahme in die gesetzliche Krankenversicherung zur revidieren.

Berlin, den 4. November 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Im Februar 2013 wurde die Debatte über einen angeblichen Missbrauch von Freizügigkeitsrechten und Sozial-
leistungen prominent aus der Bundesregierung heraus befördert. Der damalige Bundesinnenminister Dr. Hans-
Peter Friedrich (CSU) hatte in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ vom 22.2.2013 erklärt, wer nur
nach Deutschland komme, „um Sozialhilfe zu kassieren, muss wieder gehen“, für diese Menschen solle es
Wiedereinreisesperren geben. Wer wegen Betrugs „rausgeschmissen“ worden sei, müsse dauerhaft außer Lan-
des gehalten werden, die europäische Rechtslage sei entsprechend anzupassen. In der weiteren Debatte verbrei-
tete sich der Begriff Sozialtourismus, der zum Unwort des Jahres 2013 gekürt wurde. Mit diesem Unwort wer-
de gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer insbesondere aus Osteuropa geschürt, erläuterte die Jury.
Der Begriff diskriminiere Menschen, die in Deutschland eine bessere Zukunft suchten und verschleiere ihr
prinzipielles Recht hierzu. Der Ausdruck „Sozialtourismus“ reihe sich ein in ein Netz weiterer Unwörter, die
zusammen dazu dienen, eine abwehrende Stimmung zu befördern, etwa auch der vermeintlich sachlich-neutrale
Ausdruck „Armutszuwanderung“.
Im Zusammenhang der Wahlkämpfe in den bayerischen Kommunen und zum EU-Parlament wurden diese
diffamierenden und undifferenzierten Begriffe noch um entsprechende Parolen ergänzt. Anknüpfend an die
Äußerung ihres ehemaligen Bundesinnenministers erschuf die CSU den Slogan „Wer betrügt, der fliegt“.
Rechtsextreme Parteien benutzten Parolen, die den sozialchauvinistischen und antiziganistischen Kern dieser
Kampagne offenlegten: „Geld für Oma statt für Sinti und Roma“ plakatierte die NPD, „Zigeunerflut stoppen“
war ein weiterer Slogan.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatte in einer Pressemitteilung vom 5. März 2013 ausdrücklich davor
gewarnt, die Einwanderung aus Bulgarien und Rumänien zu einem Wahlkampfthema zu machen. Die populis-
tischen Parolen zum Missbrauch der Freizügigkeit bzw. von Sozialleistungen würden in der Öffentlichkeit
ausschließlich auf Angehörige der Roma bezogen. Zur selben Zeit wies die EU-Kommission Forderungen der
Regierungen von Mitgliedstaaten, etwa der deutschen, nach Vorschlägen zur Eindämmung von „Sozialtouris-
mus“ in deutlicher Form zurück: Es handele sich „um ein Wahrnehmungsproblem in manchen Mitgliedstaaten,
das keine Grundlage in der Wirklichkeit hat“ (AFP, 7.3.2013). Im Kern musste dies auch die Bundesregierung
auf Kleine Anfragen der Fraktion DIE LINKE. einräumen (vgl. Bundestagsdrucksachen 17/13322 vom April
2013 und 18/223 vom Dezember 2013). Mit dem Bericht des damit befassten Staatssekretärsausschusses (ver-
öffentlicht auf den Bundestagsdrucksachen 18/960, 18/2470) wurden der Öffentlichkeit abermals Fakten be-
kannt gemacht, die ein deutlich differenzierteres Bild der Einwanderung freizügigkeitsberechtigter Unionsbür-
gerinnen und -bürger ermöglichten. Allerdings wurde in dem Staatssekretärs-Bericht nicht thematisiert, wer die
wesentlichen Profiteure von Arbeitskraftausbeutung und Wuchermieten sind und wie gegen sie vorgegangen
werden soll. In seinen Empfehlungen blieb der Bericht deshalb auf restriktive Maßnahmen und Kontrollen
gegenüber den EU-Bürgerinnen und -Bürgern fokussiert. Unbestreitbar gibt es in einzelnen Kommunen in
Deutschland durch die Einwanderung einer vergleichsweise hohen Zahl von arbeitsuchenden, aber wenig bis
gar nicht qualifizierten EU-Bürgerinnen und -Bürgern ohne deutsche Sprachkenntnisse zum Teil erhebliche

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Probleme. Ordnungsrechtlich ist dieser sozialpolitischen Herausforderung aber nicht beizukommen bzw. ver-
schärfen solche Ansätze die tatsächlichen Probleme noch.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung beschränkt sich auf diesen negativen und zum Scheitern
verurteilten ordnungsrechtlichen Ansatz und leistet deshalb keine wirksame Abhilfe für tatsächlich bestehende
sozialpolitische Probleme. Er ist in wesentlichen Punkten auch europarechtswidrig. So wies der Sachverständi-
ge Dr. Klaus Dienelt in der Anhörung des Innenausschusses am 13. Oktober 2014 darauf hin, dass Wiederein-
reisesperren nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verhängt werden dürften.
Zu einer Verschärfung sozialer Probleme führt auch der Ansatz der Bundesregierung, mehreren Behörden und
öffentlichen Stellen (Job-Center, Kindergeldstellen, Krankenkassen) die Prüfung des Bestehens der EU-
Freizügigkeit überzuhelfen, indem diese eigenständig die Aussichten auf Aufnahme einer Beschäftigung prüfen
sollen. Dadurch sind Unionsbürgerinnen und -bürger in der Wahrnehmung ihrer sozialen Rechte bedroht. Denn
es kann durchaus passieren, dass eine der beteiligten Stellen das Bestehen der Voraussetzungen für das Freizü-
gigkeitsrecht verneint – die Ausländerbehörde als eigentlich zuständige Behörde aber keine Zweifel am Beste-
hen der Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts hat und deswegen keine Prüfung vornimmt oder in ihrer
Prüfung zu einer gegenteiligen Auffassung gelangt. Damit werden Unionsbürgerinnen und -bürger weiter in die
Rechtlosigkeit, Ausbeutungsverhältnisse und Verelendung getrieben. Dies hat der Sachverständige Claudius
Voigt in seiner Stellungnahme zur Anhörung des Innenausschusses am 13. Oktober 2014 anschaulich darge-
stellt.

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