BT-Drucksache 18/3077

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 18/2581, 18/3004 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften

Vom 5. November 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/3077
18. Wahlperiode 05.11.2014
Beschlussempfehlung und Bericht
des Innenausschusses (4. Ausschuss)

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
– Drucksachen 18/2581, 18/3004 –

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
und weiterer Vorschriften

A. Problem
Die Freizügigkeit in der EU ist eine der wichtigsten Errungenschaften des europäi-
schen Einigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas für die Bür-
gerinnen und Bürger. Die überwiegende Mehrzahl der Unionsbürgerinnen und Uni-
onsbürger, die nach Deutschland zuzieht, übt ihr Freizügigkeitsrecht in Übereinstim-
mung mit den geltenden nationalen und europäischen Regeln aus. Missbrauch durch
eine Minderheit muss auf der Grundlage des geltenden europäischen Rechts wir-
kungsvoll unterbunden werden. Kommunen, die besonders durch einen wachsenden
Zuzug aus anderen EU-Mitgliedstaaten betroffen sind, sehen sich mit erheblichen
Belastungen konfrontiert.
Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt das Ziel, Fälle von Rechtsmissbrauch oder
Betrug im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht, im Bereich von Schwarzar-
beit und illegaler Beschäftigung sowie bei der Inanspruchnahme von Kindergeld zu
verhindern und konsequent zu ahnden. Zugleich werden die Kommunen wegen den
besonderen Herausforderungen, die sich aus dem verstärkten Zuzug aus anderen EU-
Mitgliedstaaten ergeben, zusätzlich zu bereits beschlossenen Hilfen weiter entlastet.

B. Lösung
Folgende Gesetze sind entsprechend anzupassen:
Im Freizügigkeitsgesetz/EU werden befristete Wiedereinreiseverbote im Fall

von Rechtsmissbrauch oder Betrug in Bezug auf das Freizügigkeitsrecht ermög-
licht. Zugleich sind Wiedereinreiseverbote nunmehr von Amts wegen zu befris-
ten und nicht wie bisher nur auf Antrag. Die Beschaffung von Aufenthaltskarten
oder anderen Aufenthaltsbescheinigungen gemäß dem Freizügigkeitsgesetz/EU
durch unrichtige oder unvollständige Angaben wird unter Strafe gestellt. Das
Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche wird unter Berücksichtigung der Vorgaben
des Unionsrechts befristet.

Mit der Aufnahme weiterer für die Bekämpfung der Schwarzarbeit und der ille-
galen Beschäftigung zuständiger Behörden und Stellen auf Bundes- und Lan-

Drucksache 18/3077 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode

desebene in den Katalog der Zusammenarbeitsbehörden und -stellen in § 2 Ab-
satz 2 Satz 1 des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes werden entsprechende
Unterstützungsrechte sowie Unterstützungspflichten gesetzlich verankert.

Zur Vermeidung von Missbrauch wird eine gesetzliche Regelung in das Ein-
kommensteuergesetz eingeführt, die die Kindergeldberechtigung von der ein-
deutigen Identifikation von Antragstellern und ihren zum Kindergeldbezug be-
rechtigenden Kindern durch Angabe von Identifikationsnummern abhängig
macht.

Der Bund wird die Kommunen wegen der besonderen Herausforderungen, die
sich aus dem Zuzug aus anderen EU-Mitgliedstaaten ergeben, zusätzlich zu den
bereits beschlossenen Hilfen in diesem Jahr um weitere 25 Mio. Euro entlasten.
Hierfür wird die Beteiligung des Bundes an den Kosten für Unterkunft und Hei-
zung im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhöht.

Durch Änderung im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) wird zur weiteren
Entlastung der Kommunen geregelt, dass die gesetzliche Krankenversicherung
für die Impfung von Kindern und Jugendlichen aus EU-Mitgliedstaaten, deren
Versicherteneigenschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung zum Zeit-
punkt der Schutzimpfung noch nicht festgestellt ist, die Kosten für den Impfstoff
übernimmt.

Annahme des Gesetzentwurfs in unveränderter Fassung mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE
LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

C. Alternativen
Annahme der Änderungsanträge.

D. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand
Steuermehr-/-mindereinnahmen in Mio. Euro durch Änderung des Einkommensteuergesetzes
Gebietskörper-

schaft
Volle Jahres-

wirkung 1)
Kassenjahr

2014 2015 2016 2017 2018

Insgesamt +5 +5 +5 +5

Bund +2 +2 +2 +2

Länder +2 +2 +2 +2

Gemeinden +1 +1 +1 +1

1) Wirkung für einen vollen (Veranlagungs-) Zeitraum von 12 Monaten
Dem Bund entstehen durch die Erhöhung der Beteiligung des Bundes an den Leis-
tungen für Unterkunft und Heizung Mehrausgaben in Höhe von rd. 25 Mio. Euro im
Jahr 2014. Die Haushalte der Länder werden entsprechend entlastet. Die auf den
Bundeshaushalt entfallenden Mehrausgaben werden innerhalb des betroffenen Ein-
zelplans ausgeglichen.
Länder und Kommunen werden bei ihrer Aufgabe, das „aufsuchende Impfen“ durch-
zuführen, durch Übernahme der Kosten des Impfstoffs durch die gesetzliche Kran-
kenversicherung jährlich im einstelligen Millionenbereich entlastet. Entsprechende
Ausgaben fallen bei der gesetzlichen Krankenversicherung an.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/3077
E. Erfüllungsaufwand

E.1 Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen und Bürger
Für die Bürgerinnen und Bürger ändert sich der Erfüllungsaufwand mit der Ände-
rung des Einkommensteuergesetzes durch die Veränderung einer Vorgabe nur ge-
ringfügig (die bislang freiwillige Angabe einer Identifikationsnummer wird ver-
pflichtend).

E.2 Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft
Für die Wirtschaft entsteht kein zusätzlicher Erfüllungsaufwand.

E.3 Erfüllungsaufwand der Verwaltung
Ein nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU erlassenes Wiedereinreiseverbot, welches
bislang auf Antrag zu befristen war, muss nun von Amts wegen befristet werden.
Der zusätzliche Erfüllungsaufwand für die Fristsetzung ist zu vernachlässigen, da
die erforderliche Würdigung des Einzelfalls bereits bei der zugehörigen Prüfung des
Verlusts des Freizügigkeitsrechts erfolgt. Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre wur-
den pro Jahr in rund 800 Fällen Wiedereinreiseverbote ausgesprochen.
Mit der Aufnahme weiterer Zusammenarbeitsbehörden in das Schwarzarbeitsbe-
kämpfungsgesetz ergibt sich für die Verwaltung lediglich ein geringfügiger Erfül-
lungsaufwand. Die konkreten Kosten können nicht beziffert werden.
Beim Bundeszentralamt für Steuern und beim Zentrum für Informationsverarbeitung
und Informationstechnik entsteht für die technische Umsetzung der Vorgabe aus der
Änderung des Einkommensteuergesetzes einmaliger, zusätzlicher Vollzugsaufwand
in Höhe von 3,6 Mio. Euro. Über die Deckung des Mehrbedarfs wird im Rahmen
kommender Haushaltsaufstellungsverfahren zu entscheiden sein. Der daneben für
Softwareanpassungen auf Seiten der Familienkassen entstehende Vollzugsaufwand
kann nicht beziffert werden.
Infolge der Änderung der AZRG-Durchführungsverordnung ergibt sich ein zusätz-
licher Erfüllungsaufwand für die erforderliche technische Anpassung des Auslän-
derzentralregisters. Die Kosten beim Bundesverwaltungsamt für die technische An-
passung werden auf ca. 40 000 Euro geschätzt. Diese sollen im Einzelplan 06 aus-
geglichen werden.

F. Weitere Kosten
Der Wirtschaft, einschließlich mittelständischer Unternehmen, entstehen keine di-
rekten weiteren Kosten. Auswirkungen auf Einzelpreise und das Preisniveau, insbe-
sondere auf das Verbraucherpreisniveau, sind nicht zu erwarten.
Drucksache 18/3077 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,
den Gesetzentwurf auf Drucksachen 18/2581, 18/3004 unverändert anzunehmen.

Berlin, den 5. November 2014

Der Innenausschuss

Wolfgang Bosbach
Vorsitzender

Andrea Lindholz
Berichterstatterin

Dr. Lars Castellucci
Berichterstatter

Ulla Jelpke
Berichterstatterin

Volker Beck (Köln)
Berichterstatter

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/3077
Bericht der Abgeordneten Andrea Lindholz, Dr. Lars Castellucci, Ulla Jelpke und
Volker Beck (Köln)

I. Überweisung

Der Gesetzentwurf auf Drucksache 18/2581 wurde in der 54. Sitzung des Deutschen Bundestages am 25.
September 2014 an den Innenausschuss federführend sowie an den Ausschuss für Recht und Verbraucher-
schutz, den Haushaltsausschuss, den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend und an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zur Mitberatung
überwiesen. Dem Haushaltsausschuss wurde der Gesetzentwurf auch gemäß § 96 GO-BT überwiesen. Ebenso
beteiligte sich der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung gutachtlich. Die Unterrichtung der
Bundesregierung auf Drucksache 18/3004 wurde in der 62. Sitzung des Deutschen Bundestages am 5. No-
vember 2014 den beteiligten Ausschüssen überwiesen.

II. Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse

Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz hat in seiner 30. Sitzung am 5. November 2014 mit den
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN die Annahme des Gesetzentwurfs empfohlen.
Der Haushaltsausschuss hat in seiner 27. Sitzung am 5. November 2014 mit den Stimmen der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN emp-
fohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen. Seinen Bericht gemäß § 96 GO-BT wird er gesondert abgeben.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat in seiner 24. Sitzung am 5. November 2014 mit den Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN die Annahme des Gesetzentwurfs empfohlen.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in seiner 18. Sitzung am 5. November 2014
mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE. und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union hat in seiner 18. Sitzung am 5. November
2014 mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen DIE LINKE.
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen.

III. Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse im federführenden Ausschuss

Der Innenausschuss hat in seiner 24. Sitzung am 8. Oktober 2014 einvernehmlich beschlossen, eine öffentliche
Anhörung zu dem Gesetzentwurf auf Drucksache 18/2581 und den Unterrichtungen auf den Drucksachen
18/960 und 18/2470 durchzuführen. Die öffentliche Anhörung, an der sich sieben Sachverständige beteiligt
haben, hat der Innenausschuss in seiner 25. Sitzung am 13. Oktober 2014 durchgeführt. Hinsichtlich des Er-
gebnisses der Anhörung wird auf das Protokoll der 25. Sitzung (Protokoll 18/25) verwiesen. Die Stellungnahme
des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung auf Ausschussdrucksache 18(4)153 hat sowohl
bei der Anhörungssitzung als auch bei den Beratungen vorgelegen.
Der Innenausschuss hat den Gesetzentwurf in seiner 28. Sitzung am 5. November 2014 abschließend beraten.
Sowohl im Vorblatt auf Seite 2 als auch in der Begründung auf Seite 12 des Gesetzentwurfs auf Drucksache
18/2581 muss nach den Erklärungen der Koalitionsfraktionen in der entsprechenden Tabelle zum Kassenjahr
2016 in der Zeile zu den Gemeinden statt einer „2“ eine „1“ aufgenommen werden.
Der Innenausschuss empfiehlt mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Annahme des Gesetzentwurfs auf Druck-
sache 18/2581.
Zuvor wurden die Anträge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der Ausschussdrucksache 18(4)190
mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE LINKE. sowie auf den Ausschussdrucksachen 18(4)191 und

Drucksache 18/3077 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
18(4)192 jeweils mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen
DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.
Der Änderungsantrag auf Ausschussdrucksache 18(4)190 einschließlich Begründung lautet:
Die Bezeichnung des Gesetzes wird wie folgt gefasst:
„Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden und zur Entlastung
der Kommunen“
Artikel 1 wird aufgehoben.
Die bisherigen Artikel 2 bis 5 werden Artikel 1 bis 4.
Artikel 6 wird aufgehoben.
Artikel 7 wird Artikel 5 und wie folgt geändert:
In Satz 1 wird die Angabe „4“ durch die Angabe „3“ ersetzt.
Satz 2 wird gestrichen.
Begründung
Die Freizügigkeit in der Europäischen Union ist eine der wichtigsten Errungenschaften des europäischen Ei-
nigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas für die Bürgerinnen und Bürger. Im bestehenden
Freizügigkeitsgesetz/EU wird die Freizügigkeit ausgestaltet; dabei wird öffentlichen Belangen hinreichend
Rechnung getragen. Es besteht kein Anlass, diese Regelungen zu ändern. Insbesondere finden sich auch in den
Berichten des Staatssekretärsausschusses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme
der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ (BT-Drs. 18/960 und 18/2470)
keine Belege für einen relevanten „Missbrauch“ der Freizügigkeit. Dies gilt gleichermaßen für den von CDU,
CSU und AfD behaupteten betrügerischen Bezug von Leistungen durch Unionsbürger/innen. Von einer Ände-
rung des Freizügigkeitsgesetzes/EU ginge eine freiheitswidrige Signalwirkung aus, die geeignet wäre, die Frei-
zügigkeit an sich in Frage zu stellen.
Darüber hinaus begegnen die vorgesehenen Änderungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU ernsthaften Bedenken.
In der Öffentlichen Anhörung im Innenausschuss am 13. Oktober 2014 betonte die Sachverständige Dr. Fran-
ziska Giffey (SPD), Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport des Bezirks Neukölln von Berlin,
dass die tatsächliche Umsetzung der Regelungen aus ihrer Sicht mit einem sehr hohen Erfüllungsaufwand
verbunden sei; die Frage, „wie das in jedem Einzelfall zu prüfen und zu definieren sei“, bleibe offen (vgl.
Ausschussdrucksache 18(4)164 G, S. 2).
In derselben Anhörung monierten der DGB, der Paritätische Gesamtverband und der Sachverständige Dr.
Klaus Dienelt, dass die vorgesehenen Änderungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU teilweise nicht mit höherran-
gigem Recht vereinbar seien (Ausschussdrucksachen 18(4)164 A, B und D); zu diesem Ergebnis kommt auch
ein Gutachten des Fachbereichs Europa des Deutschen Bundestags (PE 6 – 3000 – 157/14).
Dies betrifft insbesondere die vorgeschlagenen Wiedereinreiseverbote: sie sind nicht mit Artikel 15 der Frei-
zügigkeitsrichtlinie vereinbar, da sie die Freizügigkeit von Unionsbürger/innen beschränken ohne aus Grün-
den der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erlassen zu werden. Der unionsrechtliche Begriff der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung setzt eine tat-sächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr voraus, die ein Grundin-
teresse der Gesellschaft berührt (vgl. Gutachten des Fachbereichs Europa, S. 10 f.). Die Tatsache einer straf-
rechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht für die Annahme einer solchen Gefahr (vgl. Ausschuss-
drucksachen 18(4)164 D, S. 4). Aus Artikel 35 der Freizügigkeitsrichtlinie ergibt sich nichts anderes: zwar
sind Rechtsmissbrauch und Betrug unter Umständen geeignet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu tan-
gieren; dann aber kann die Wiedereinreise bereits nach § 7 Abs. 2 S. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU verboten
werden. Aus Sicht des DGB sind die vorgeschlagenen Wiedereinreiseverbote zudem unverhältnismäßig und
bergen das Risiko, dass Unionsbürger/innen, die Opfer von Arbeitsausbeutung werden, doppelt bestraft wer-
den, weil die Ausstellung falscher Dokumente durch die Arbeitgeber/innen (etwa gefälschte Krankenversiche-
rungsbescheinigungen, die von Arbeitgeber/innen für entsandte Beschäftige ausgestellt werden) einerseits aus-
beuterisch ist und andererseits nach der vorgesehenen Neuregelung zu einem Wiedereinreiseverbot führen
kann (vgl. Ausschussdruck-sache 18(4)164 A, S. 9).
Im Übrigen enthält der Gesetzentwurf der Bundesregierung längst überfällige Regelungen zur Verbesserung
der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden und zur Entlastung der Kommunen, die allerdings nicht in
einen Zusammenhang mit der Freizügigkeit von Unionsbürger/innen gestellt werden sollten. Insbesondere den

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 7 – Drucksache 18/3077
ungerechtfertigten Doppelbezug von Kindergeld gilt es zu verhindern. Bereits im Jahr 2009 hatte der Bundes-
rechnungshof darauf hingewiesen, dass hunderte Beamte Kindergeld von der Familienkasse des öffentlichen
Dienstes bezogen haben, während der nicht verbeamtete Elternteil für dasselbe Kind Kindergeld von einer
anderen Familienkasse bezogen haben. Dies kostete den Steuerzahler mehr als 6,5 Millionen Euro.
Der Änderungsantrag auf Ausschussdrucksache 18(4)191 einschließlich Begründung lautet:
In Artikel 5 werden die Wörter „aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ gestrichen.
Begründung:
Um Infektionskrankheiten zum Schutz von Kindern zu verhindern, ist eine Verbesserung der Durchimpfungs-
rate für alle Kinder eine wichtige gesundheitspolitische Maßnahme. Die Übernahme der Kosten für den Impf-
stoff durch die gesetzliche Krankenversicherung weist daher in die richtige Richtung und entlastet die Kom-
munen. Nicht nachvollziehbar ist es jedoch, dass die Kostenübernahme nur dann erfolgen soll, wenn die Kinder
aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union kommen (vgl. Stellungnahme des Paritätischen Gesamtver-
bands, Ausschussdrucksache 18(4)164 B, S. 16). Denn Infektionskrankheiten verbreiten sich ungeachtet der
Herkunft eines Kindes. Aus Gründen der öffentlichen Gesundheit sollen daher die Kosten des Impfstoffs für
alle Minderjährigen übernommen werden, deren Versichertenstatus ungeklärt ist. In vielen Fällen dürfte ein
Anspruch dieser Personen auf Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung nach abschließender
Prüfung ohnehin feststehen, insbesondere bei Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten des Europäischen Wirt-
schaftsraums und der Schweiz.
Die Kommunen werden durch diese Änderung weiter entlastet.
Der Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Ausschussdrucksache 18(4)192 hat
einschließlich Begründung folgenden Wortlaut:
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Freizügigkeit in der Europäischen Union ist eine der wichtigsten Errungenschaften des europäischen Ei-
nigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas für die Bürgerinnen und Bürger. Das geltende
Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) trägt öffentlichen Belangen hin-
reichend Rechnung. Es besteht kein Anlass, dieses Gesetz zu ändern.
Nach dem System des Freizügigkeitsrechts sind Unionsbürgerinnen und Unionsbürger bis zu einer anderslau-
tenden Feststellung der Ausländerbehörden freizügigkeitsberechtigt. Dies darf nicht dadurch unterlaufen wer-
den, dass den Behörden, insbesondere den Sozialbehörden, die Prüfung der Voraussetzungen der Freizügigkeit
in eigener Verantwortung übertragen wird.
In den Berichten des Staatssekretärsausschusses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruch-
nahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ (BT-Drs. 18/960 und
18/2470) finden sich keine Belege für einen relevanten „Missbrauch“ der Freizügigkeit oder einen betrügeri-
schen Bezug von Sozialleistungen durch Unionsbürgerinnen und Unionsbürger.
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger werden jedoch teilweise auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt ausge-
beutet und benachteiligt. Zur Vorbeugung solcher rechtswidriger Handlungen ist der Ausbau staatlicher Maß-
nahmen zur Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Integration von Unionsbürgerinnen und Uni-
onsbürgern dringend angezeigt.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
das Recht auf Freizügigkeit zu verteidigen;
darauf hinzuwirken und sich gegenüber den Ländern dafür einzusetzen, dass Unionsbürgerinnen und Unions-
bürger in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, effektiv vor
Ausbeutung, Wucher und Diskriminierung geschützt werden;
die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit ausreichend Personal- und Sachmitteln auszustatten, damit wirkungs-
voller gegen Arbeitsausbeutung vorgegangen werden kann;
darauf hinzuwirken und sich gegenüber den Ländern dafür einzusetzen, dass die Anerkennung von Berufsab-
schlüssen, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erworben wurden, erleichtert und das
Anerkennungsverfahren vereinfacht und beschleunigt wird;
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern einen Anspruch auf Teilnahme
an Integrationskursen einräumt;

Drucksache 18/3077 – 8 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den unionsrechtswidrigen, pauschalen Leistungsausschluss im Zweiten
und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch beseitigt;
darauf hinzuwirken, dass die gesetzlichen Krankenkassen Beratungsmöglichkeiten für Menschen ohne Kran-
kenversichertenkarte schaffen, die den Versicherungsschutz klären und die Betroffenen bei der Herbeiführung
des Versicherungsschutzes unterstützen (Clearingstellen), und wenn dies nicht gelingt, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, der die Schaffung solcher Clearingstellen vorsieht.
Begründung
Die Freizügigkeit in der Europäischen Union ist eine der wichtigsten Errungenschaften des europäischen Ei-
nigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas für die Bürgerinnen und Bürger. Grundpfeiler
des Systems der Freizügigkeit ist, dass der Aufenthalt von Unionsbürger/innen – anders als der Aufenthalt von
Drittstaatsangehörigen – keiner Erlaubnis bedarf. Zwar unterliegt er gewissen Voraussetzungen, deren Nicht-
erfüllung dazu führt, dass die Ausländerbehörden den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellen können. Bis
zu einer solchen Feststellung gilt der Aufenthalt von Unionsbürger/innen aber als rechtmäßig. Dieses System
hat sich bewährt und trägt maßgeblich zur Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas bei
(Artikel 1 des Vertrags über die Europäische Union). Vor diesem Hintergrund war die Abschaffung der Frei-
zügigkeitsbescheinigung, die lediglich deklaratorische Wirkung hatte, richtig. Das bestehende System in Frage
zu stellen würde zu erheblichen Rechtsunsicherheiten in der Behördenpraxis führen. Wenn das Prüfungsmo-
nopol der Ausländerbehörden aufgeweicht wird und einzelnen Behörden – etwa im Zusammenhang mit der
Gewährung von Sozialleistungen – die Prüfung der Voraussetzungen der Freizügigkeit übertragen wird, wird
dies unweigerlich zu divergierenden und miteinander nicht in Einklang zu bringenden Entscheidungen führen
(vgl. Stellungnahme des Sachverständigen Voigt in der Öffentlichen Anhörung des Innenausschusses am 13.
Oktober 1014, Ausschussdrucksache 18(4)164 B).
Unionsbürger/innen werden teilweise auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie in anderen gesellschaftli-
chen Bereichen ausgebeutet und diskriminiert (vgl. jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/589582/Zu-Gast-bei-
Ausbeutern). Das geltende Recht bietet zwar zahlreiche Möglichkeiten für die Betroffenen, sich gegen Diskri-
minierung und Ausbeutung zu wehren; staatlichen Behörden stehen Instrumente zur Vorbeugung und Ahndung
von Diskriminierung und Ausbeutung zur Verfügung. Diese Möglichkeiten werden jedoch weiterhin nicht hin-
reichend genutzt. Verbesserungen bei der gesellschaftlichen und beruflichen Integration von Unionsbürger/in-
nen würden zur Prävention von Diskriminierung und Ausbeutung beitragen. Integrationshemmend wirkt ins-
besondere das weiterhin langwierige und komplexe Verfahren zur Anerkennung von Berufsabschlüssen, die in
einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erworben wurden. Förderlich für die Integration wäre
es, Unionsbürger/innen endlich einen Anspruch auf Teilnahme an den Integrationskursen einzuräumen. Dies
fordert die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration der Bundesregierung im 10. Bericht über
die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland zu Recht erneut. Bislang haben Unionsbürger/in-
nen lediglich einen nachrangigen Zugang zu freigebliebenen Kursplätzen.
Auch die Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch fördert den Zugang
zum Arbeitsmarkt. Arbeitsuchende Unionsbürger/innen sind jedoch pauschal von diesen Leistungen ausge-
schlossen. Ob dieser pauschale Leistungsausschluss überhaupt mit dem Recht der Europäischen Union ver-
einbar ist, wird derzeit vom Europäischen Gerichtshof geprüft. Entsprechende Zweifel bestehen hinsichtlich
der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.
Unionsbürger/innen sind in Deutschland ganz überwiegend krankenversichert. Teilweise sind sie Mitglied in
der gesetzlichen Krankenversicherung, teilweise haben sie private Krankenversicherungen abgeschlossen –
wie deutsche Staatsangehörige auch. In manchen Fällen ist die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenver-
sicherung jedoch klärungsbedürftig, da die Regelungen des Fünften Buches Sozialgesetzbuch komplex sind
und es weiterhin in Deutschland keine allgemeine Bürgerversicherung gibt. Dieses Problem besteht zwar nicht
nur für Unionsbürger/innen, die von der Freizügigkeit Gebrauch machen, doch sind sie davon besonders be-
troffen, da es bei der Beurteilung der Versicherteneigenschaft maßgeblich auch auf den (früheren) Versiche-
rungsstatus im EU-Ausland ankommt (vgl. BT-Drs. 18/2470, S. 30). Zwar sind die Krankenkassen zur Klärung
des Versicherungsschutzes verpflichtet; in der Praxis erfüllen die Krankenkassen diese Pflicht jedoch auf sehr
unterschiedliche Weise. Abhilfe würden Clearingstellen bieten, die auf die Klärung der aufgeworfenen Fragen
spezialisiert sind. Solche Stellen sollten die Krankenkassen in eigener Verantwortung schaffen. Erfolgt dies
nicht innerhalb einer angemessenen Zeit, sollen sie durch Gesetz dazu verpflichtet werden.

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 9 – Drucksache 18/3077
IV. Begründung

Die Koalitionsfraktionen sprechen sich für den Gesetzentwurf aus und heben als wesentliche Kernelemente
die Einführung befristeter Wiedereinreisesperren in besonderen Einzelfällen, die Verpflichtung zur Abgabe der
Steueridentifikationsnummer oder Personenkennziffer im Kindergeldantrag zur Verhinderung von doppelten
Kindergeldzahlungen, Verbesserungen bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit durch bessere Zusammenarbeit
der Behörden mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sowie eine Entlastung der Kommunen um 25 Mio. Euro
durch die Erhöhung der Bundesbeteiligung an den Unterkunfts- und Heizungskosten und um weitere 10 Mio.
Euro durch die Übernahme der Impfkosten von Kindern aus den EU-Staaten. Im Vordergrund müsse stehen,
dass die von der Zuwanderung besonders betroffen Kommunen die Hilfen erhielten, die ihnen zugesagt worden
seien. Auch wenn man sicherlich noch mehr fordern könne, gehe der Gesetzentwurf in die richtige Richtung.
In Konsequenz aus der öffentlichen Anhörung sollen in den kommenden zwei Jahren die praktischen Erfah-
rungen mit den Regelungen beobachtet werden. Deutschland profitiere von der Freizügigkeit in Europa und
stelle diese in keiner Weise in Frage.
Die Fraktion DIE LINKE. hält den Gesetzentwurf für den kläglichen Rest einer unverantwortlichen populis-
tischen Kampagne und lehnt ihn ab. Es sei hinreichend festgestellt worden, dass Missbrauch, falls er überhaupt
vorkomme, nur marginal sei. Stattdessen werde der EU-Freizügigkeit mit diesem Gesetzentwurf schwerer
Schaden zugefügt. In der Sachverständigenanhörung sei darauf hingewiesen worden, dass der Gesetzentwurf
gegen EU-Recht verstoße und die Mittel von 25 Mio. Euro bei den betroffenen Kommunen nicht ankämen.
Insgesamt gebe es zu wenig Hilfestellung, insbesondere in den Bereichen Fortbildung, Ausbildung und soziale
Strategien. Die kritisierten EU-Bürger würden schlichtweg nur die ihnen zustehenden Rechte wahrnehmen.
Demgegenüber werde nichts gegen die Ausbeutung oder den Mietwucher, dem diese Menschen ausgesetzt
seien, getan.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weist darauf hin, dass es nach der Sachverständigenanhörung für
den vorgesehenen Gesetzentwurf keinen Bedarf gebe. Die gegenwärtige Rechtslage lasse bereits Wiederein-
reisesperren zu, wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts von Unionsbürger/-innen aus Gründen der öffentli-
chen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt wird (§ 7 Abs. 2 FreizügG/EU).Die darüber hinaus ge-
henden Regelungen seien klar europarechtswidrig (§ 15 Abs. 3 Freizügigkeitsrichtlinie) und würden die Prob-
leme in der Praxis nicht lösen. Insbesondere werde kritisiert, dass die Übernahme von Impfkosten nur für Kin-
der aus EU-Mitgliedstaaten vorgesehen sei und zudem der Eindruck erweckt werde, Kindergeldbetrug sei ein
relevantes Problem bei den rumänischen und bulgarischen Zuwanderern. Dies war es laut Bundesrechnungshof
viel mehr in der Vergangenheit bei deutschen Beamten. Ohne irgendwelche empirischen Grundlagen im Staats-
sekretärsbericht oder der Anhörung werden Beschneidungen der Freizügigkeit vorgenommen. Es werde vor-
geschlagen, im Gesetzentwurf die Änderungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU zu streichen und das Gesetz in
„Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Verwaltungsbehörden und zur Entlastung der Kommunen“
umzubenennen. Deshalb werbe sie für die von ihr eingebrachten Anträge.

Berlin, den 5. November 2014

Andrea Lindholz
Berichterstatterin

Dr. Lars Castellucci
Berichterstatter

Ulla Jelpke
Berichterstatterin

Volker Beck (Köln)
Berichterstatter

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