BT-Drucksache 18/2916

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 18/1798, 18/2379, 18/2909 - Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch - Leistungsausweitung für Pflegebedürftige, Pflegevorsorgefonds (Fünftes SGB XI-Änderungsgesetz - 5. SGB XI-ÄndG)

Vom 15. Oktober 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2916
18. Wahlperiode 15.10.2014
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Pia Zimmermann, Sabine Zimmermann (Zwickau), Matthias
W. Birkwald, Katja Kipping, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Birgit
Wöllert und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 18/1798, 18/2379, 18/2909 –

Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Elften Buches
Sozialgesetzbuch – Leistungsausweitung für Pflegebedürftige,
Pflegevorsorgefonds
(Fünftes SGB XI-Änderungsgesetz – 5. SGB XI-ÄndG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit mehr als acht Jahren gibt es einen gesellschaftlichen und politischen Konsens
darüber, dass eine umfassende Reform der Pflegeversicherung notwendig ist. Die
Neudefinition des Pflegebegriffs ist eine entscheidende Voraussetzung für eine
menschenwürdige und selbstbestimmte Pflege. Der Anspruch auf Leistungen bei
Pflegebedürftigkeit darf sich nicht vorrangig an persönlichen Beeinträchtigungen
und alltäglichen Verrichtungen orientieren. Stattdessen sollen individuelle Teil-
habe und Selbstbestimmung ermöglicht werden. Eine Neuausrichtung der Pflege
muss den Grad der Selbstständigkeit bestimmen und bei den individuellen Fähig-
keiten und Bedürfnissen ansetzen. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention
gebietet, Teilhabe zum Ziel pflegerischen und assistierenden Handelns zu ma-
chen.
Die Grundlagen für diese Strukturreform sind längst gelegt. Zwei Expertenbeiräte
haben Gutachten zum Pflege(bedürftigkeits)begriff und zum Begutachtungsver-
fahren erstellt und es liegen zahlreiche weitere wissenschaftliche Expertisen vor.
Statt zügig ein Gesetzgebungsverfahren einzuleiten und einen konkreten Zeitplan
bis zur Umsetzung des neuen Pflegebegriffs vorzulegen, spielt die Regierung –
wie bereits die vorherigen Regierungen – auf Zeit. Die Anhebung des Beitrags-
satzes sowie kleine Verbesserungen der ambulanten Pflege bedeuten nur Trippel-
schritte auf dem Weg zu einer dringend notwendigen umfassenden Pflegereform.
Diese Maßnahmen reichen nicht, um die grundlegenden Probleme und Nöte der
Menschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen sowie die Arbeitsbedingungen
der Beschäftigten in der Pflege zu verbessern.

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Im Kern geht es um die Frage, wie ein sozial gerechter und ethisch bedeutsamer
Perspektivwechsel in der Pflege voranzutreiben ist. Die Fraktion DIE LINKE. im
Bundestag forderte in ihrem Antrag „Menschenrecht auf gute Pflege verwirkli-
chen – Soziale Pflegeversicherung solidarisch weiterentwickeln“ (Bundestags-
drucksache 18/1953) die Bundesregierung auf, noch in der 18. Wahlperiode eine
wirkliche Reform der Pflegeabsicherung vorzunehmen. Dafür sind die Leistungen
auszuweiten und die Finanzierung auf eine stabile Grundlage zu stellen.
Die Bundesregierung verfolgt den Ansatz der kleinen Verbesserungen als Vor-
griffe auf den neuen Pflegebegriff. Doch ohne dass erkennbar wird, welches Ge-
samtkonzept die Bundesregierung zu dessen Umsetzung verfolgt, wird so der
zweite Schritt vor dem ersten gemacht.
Ein eigenständiger Sektor an niedrigschwelligen Entlastungsangeboten nach

§ 45c Absatz 3a des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) und die bis zu
50-prozentige Anrechnung auf die Pflegesachleistung nach den §§ 36 und
123 SGB XI sind als Vorgriff auf die Einführung eines neuen Pflegebedürf-
tigkeitsbegriffs ungeeignet. Eine Ersetzung der qualitätsgesicherten Pflege-
sachleistungen durch das Kostenerstattungsprinzip kann zur Überforderung
der Menschen mit Pflegebedarf und ihrer Angehörigen führen. Es besteht die
Gefahr, dass diese sich für das kostengünstige Angebot entscheiden, ohne die
Qualität tatsächlich bewerten zu können.
Durch neu in den Markt drängende Anbieter von Erstattungsleistungen wird
der Wettbewerb unter den Pflegedienstleistern weiter angeheizt mit entspre-
chendem Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen. Eine Abgren-
zung der Leistungen für Grundpflege, Hauswirtschaft und Betreuung ist nicht
vorgesehen, so dass es in der Praxis zur Vermischung kommen kann. Ein auf
Betreuungsleistungen oder Hauswirtschaft spezialisierter Dienstleister wird
in der konkreten Pflegesituation wahrscheinlich auch Leistungen der Grund-
pflege übernehmen. Die Kontrolle bzw. Qualitätssicherung ist kaum möglich
– zumal die Kostenerstattung auch für ehrenamtlich Pflegende als Aufwands-
entschädigung in Anspruch genommen werden kann. Bei aller Wertschätzung
für Pflegende: Ehrenamtliche Leistungen sind ergänzende Angebote, die pro-
fessionelle Pflege nicht ersetzen können und dürfen, wenn eine qualitativ
hochwertige Pflege für alle gesichert werden soll.

Ein echter erster Schritt bestünde darin, pflegerische Betreuung neben der
Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung zu einer gleichberech-
tigten Leistung der Pflegeversicherung zu machen. Eine gute Übergangslö-
sung, die zu mehr Transparenz und Flexibilität für die Betroffenen führen
würde, wäre die Einführung eines Entlastungsbetrags, wie er von den Ver-
bänden der Freien Wohlfahrtspflege gefordert wird. In dem Entlastungsbetrag
würden die Sachleistungen zur Kurzzeitpflege, die Sachleistungen zur Ver-
hinderungspflege und die zusätzlichen Betreuungsleistungen zu einer Teil-
leistung zusammengefasst, um das Pflegesetting zu entlasten.

Eine wirkliche Entlastung der pflegenden Familienangehörigen und der sons-
tigen Menschen, die Pflege übernehmen, setzt voraus, dass diese – wenn ge-
wünscht – ambulante Pflegeleistungen in Anspruch nehmen können. Dafür
ist die professionelle Pflege zu stärken. Doch der Gesetzentwurf sieht hier
kaum Verbesserungen vor. Die Familien – und damit vor allem Frauen – blei-
ben der „größte Pflegedienst“. Die Ausgaben der Pflegeversicherung hält die
Bundesregierung auf Kosten der Familien niedrig. Dass gute Pflege fachliche
Qualifikationen voraussetzt, wird nicht anerkannt.

Zusätzliche Angebote nach § 87b SGB XI zur Betreuung und Aktivierung der
Pflegebedürftigen und eine Erhöhung der Zahl der Betreuungskräfte sind zu
begrüßen, lenken aber davon ab, dass dringend Pflegefachkräfte benötigt wer-
den. Dass die soziale Betreuung, die aktivierenden Pflege, die Alltagsbewäl-

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tigung und die Kommunikation aus der Tätigkeit der Pflegefachkräfte ausge-
gliedert werden, bedeutet außerdem die Aufspaltung von Pflegetätigkeiten.
Für die Pflegefachkräfte kann das zur Entwertung von erworbenen Qualifi-
kationen führen. Gegen den Fachkräftemangel leitet die Bundesregierung
keine Schritte ein. Überfällig sind die Einführung einer kostenfreien Ausbil-
dung durch eine Ausbildungsumlage aller Arbeitgeber, Regelungen zu einer
verbindlichen gesetzlichen Personalbemessung sowie praktische Schritte, um
vernünftige Löhne und gute Arbeitsbedingungen in der Pflege zu schaffen.

Es ist ein sozialpolitischer Skanda,l dass Menschen, die Hilfe zur Pflege er-
halten, keinen Anspruch auf Betreuungsleistungen haben. Denn bei Men-
schen, die Hilfe zur Pflege erhalten, werden Grundpflege und Hauswirtschaft
als Sachleistung erbracht. Somit gehen die Sozialhilfeträger davon aus, dass
die Regelung nach § 124 SGB XI im Sozialhilferecht (SGB XII) nicht an-
wendbar ist. Für diese Abstimmungslücke zwischen den Sozialgesetzbüchern
XI und XII unterbreitet die Bundesregierung noch immer keine Lösung.

Die Neuausrichtung der Pflege gibt es nicht zum Nulltarif. Gute Pflege kostet
Geld. Deshalb muss die Finanzierung der Pflege zwingend zusammen mit der in-
haltlichen Neugestaltung auf ein solides und gerechtes Fundament gestellt wer-
den.
Die solidarische Finanzierung ist auszuweiten. Mit der Einführung einer so-

lidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wäre ein echter Durch-
bruch möglich. Dies ist aufgrund der identischen Ausgestaltung von privater
und sozialer Pflegeversicherung durchaus möglich, wenn der politische Wille
vorhanden ist.

Stattdessen betreibt die Bundesregierung finanzpolitisches Harakiri. Denn die
geplanten Erhöhungen der Beitragssätze um 0,3 Prozentpunkte zum 1. Januar
2015 und in einem weiteren Schritt um noch einmal 0,2 Prozentpunkte rei-
chen nicht aus, um die vorgesehenen Leistungsverbesserungen, eine anstän-
dige Dynamisierung der Leistungen und die Umsetzung des neuen Pflegebe-
griffs zu finanzieren – zumal 0,1 Prozentpunkte (aktuell 1,2 Milliarden) jähr-
lich in einen unsinnigen Vorsorgefonds fließen. Eine Integration von privater
und sozialer Pflegeversicherung, eine Ausweitung der Beitragspflicht auf alle
Einkommen und Einkommensarten sowie die schrittweise Abschaffung der
Beitragsbemessungsgrenze wären verantwortungsvolle und sinnvolle
Schritte.

Auch bei der Anpassung der Leistungen bleibt diese Bundesregierung bei ei-
ner Politik nach Kassenlage. Die vorgenommene Dynamisierung von vier
Prozent gleicht nicht einmal den realen Kaufkraftverlust der letzten Jahre aus.
Dieser liegt bei mindestens fünf Prozent.
Der Gesetzentwurf sieht für das Jahr 2017 einen erneuten Prüfauftrag vor.
Die Bundesregierung führt also weiterhin keinen Regelmechanismus für eine
Dynamisierung ein. Auch die Regelung, dass eine Dynamisierung mit Ver-
weis auf gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen ausgesetzt werden
kann, bleibt bestehen. Sachverständige weisen darauf hin, dass es notwendig
ist, die Dynamisierung regelhaft an die Bruttolohnentwicklung anzuknüpfen,
da die Kosten der Pflege überwiegend durch die Lohnkosten bestimmt wer-
den.

Der mangelhafte Ausgleich des Realwertverlustes wiegt besonders schwer,
weil die Höhe der Leistungsbeträge der Pflegeversicherung zwischen den
Jahren 1995 und 2008 nahezu unverändert blieb. Allein in den Jahren zwi-
schen 1999 bis 2008 gab es einen Realwertverlust von 20 bis 25 Prozent.
Menschen mit geringen und mittleren Einkommen sind auf eine ausreichende
Leistungsdynamisierung angewiesen, um im Teilleistungssystem der sozia-
len Pflegeversicherung die Eigenbelastung in einem verträglichen Umfang zu

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halten. Ein sofortiger vollständiger Ausgleich des Kaufkraftverlustes ist so-
mit zwingend geboten. Langfristig ist zudem die Abkehr vom „Teil-
kaskoprinzip“ notwendig.

Eine große Pflegereform ist möglich und muss jetzt angegangen werden. Weiteres
Zögern bedeutet, dass der neue Pflegebegriff auch in dieser Wahlperiode nicht
umgesetzt wird. Das ist unverantwortlich gegenüber den Menschen mit Pflegebe-
darf, ihren Angehörigen und den Beschäftigten in der Pflege.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

a) unverzüglich einen Gesetzentwurf für eine grundlegende Reform der Pflege-
absicherung vorzulegen, der mindestens die folgenden Punkte beinhaltet:

1. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsverfahren
sind zügig gesetzlich zu verankern und umzusetzen. Hierzu ist ein konkreter
Zeitplan vorzulegen. Kognitive und/oder psychische Beeinträchtigungen
müssen endlich neben den körperlichen mit erfasst werden. Pflege muss den
Menschen mit den vorhandenen Fähigkeiten in den Vordergrund stellen und
den Grad der Selbstständigkeit berücksichtigen, statt sich an Defiziten sowie
am Zeitfaktor der alltäglichen Verrichtungen zu orientieren. Durch einen Be-
standsschutz in Höhe des bisherigen Leistungsanspruchs muss sichergestellt
werden, dass durch die neue Begutachtungspraxis niemand schlechter gestellt
wird als durch die bisherige Einstufungspraxis.

2. Damit die Leistungen aus der Pflegeversicherung nicht dauerhaft entwertet
bleiben, muss der Kaufkraftverlust seit 1995 vollständig ausgeglichen wer-
den. Um den Wert der Pflegeleistungen in der Zukunft zu sichern, sind die
Dynamisierungsregeln in § 30 SGB XI zu ersetzen durch eine jährliche regel-
gebundene Leistungsanpassung, die sich zu zwei Dritteln an der allgemeinen
Lohnentwicklung und zu einem Drittel an der allgemeinen Preisentwicklung
orientiert.

3. Die Gesetzeslücke bei der Hilfe zur Pflege ist zu schließen. Häusliche Be-
treuung muss zu den Leistungen nach § 28 Absatz 1 SGB XI hinzugefügt
werden.

4. Leistungen zur Kurzzeitpflege, Leistungen zur Verhinderungspflege und zu-
sätzliche Betreuungsleistungen sind zu einer einheitlichen Entlastungspflege
in Form eines Entlastungsbetrages zusammenzufassen. Die Wartezeit von
sechs Monaten für die Inanspruchnahme von Verhinderungspflege in § 39
Absatz 1 Satz 2 SGB XI ist zu streichen.

5. Um Lohndumping in der Pflege zu verhindern, ist der mit der Pflegearbeits-
bedingungenverordnung 2010 eingeführte flächendeckende gesetzliche
Pflege-Mindestlohn für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die überwie-
gend pflegerische Tätigkeiten in der Grundpflege erbringen, in Ost und West
auf 12,50 Euro brutto pro Stunde zu erhöhen.

6. Es ist zu gewährleisten, dass in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtun-
gen eine ausreichende Zahl qualifizierten Personals zur Verfügung steht. Zur
Sicherung der Qualität in der Pflege ist ein bundesweit verbindlicher Standard
im Hinblick auf eine qualitätsbezogene Personalbemessung einzuführen.

7. Es ist eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in der Pflege
einzuführen. Die private Pflegeversicherung ist in die soziale Pflegeversiche-
rung zu integrieren. Die Beitragsbemessungsgrenze ist abzuschaffen. Ein-
kommen aus unselbständiger und selbständiger Arbeit sowie die weiteren
Einkommensarten wie Kapital-, Miet- und Pachterträge werden bei der Be-
messung des Beitrags zugrundegelegt. Kapitalerträge und Zinsen bis zum
Sparer-Pauschbetrag (§ 20 Absatz 9 des Einkommensteuergesetzes) bleiben

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2916

beitragsfrei. Bei Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit hat der Arbeitge-
ber die Hälfte der Beiträge zu zahlen. Der Buß- und Bettag, der zur Entlastung
der Arbeitgeber bei der Einführung der Pflegeversicherung abgeschafft wor-
den war, wird wieder eingeführt oder es wird eine andere Maßnahme ergrif-
fen, welche die Parität zwischen Beschäftigten und Arbeitgeberinnen und Ar-
beitgebern tatsächlich herstellt. Rentnerinnen und Rentner zahlen in der ge-
setzlichen Pflegeversicherung nur den halben Beitragssatz; die andere Hälfte
wird aus der gesetzlichen Rentenversicherung beglichen.

b) den Pflegevorsorgefonds nicht einzuführen und die steuerliche Förderung der
ergänzenden privaten Pflegeversicherung („Pflege-Bahr“) zu beenden. Für
die Versicherten ist in der fünfjährigen Karenzphase ein Rückabwicklungs-
recht für die vorhandenen geförderten Zusatzverträge vorzusehen.

Berlin, den 14. Oktober 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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