BT-Drucksache 18/2606

Wiedereingliederung fördern - Gefangene in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einbeziehen

Vom 24. September 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2606
18. Wahlperiode 24.09.2014
Antrag
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Ulla Jelpke, Halina Wawzyniak, Sabine
Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, Azize Tank, Kathrin Vogler, Harald
Weinberg, Birgit Wöllert, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Wiedereingliederung fördern – Gefangene in die Renten-, Kranken- und
Pflegeversicherung einbeziehen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bis heute unterliegen Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in der Bundesrepub-
lik Deutschland einer gesetzlichen Arbeitspflicht. Ihre Arbeitstätigkeit wird aber
nicht im gleichen Maße sozialrechtlich geschützt wie Arbeit außerhalb der Haft.
Nach der derzeitigen Gesetzeslage sind alle Gefangenen zwar ausdrücklich in die
Unfall- und Arbeitslosenversicherung (§ 2 Absatz 2 Satz 2 des Siebten Buches So-
zialgesetzbuch – SGB VII – sowie § 26 Absatz 1 Nummer 4 des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch – SGB III), aber nur ein kleiner Teil ist in die Kranken-, Pflege-
und Rentenversicherung einbezogen.

Diese bislang unvollständig gebliebene ausdrückliche Einbeziehung in die Sozial-
versicherung bedeutet eine besondere Härte für viele Gefangene und ein uneingelös-
tes Versprechen der Politik.

Dass Gefangene in die Sozialversicherungen einbezogen werden sollen, ist bereits
vor 37 Jahren im Rahmen einer grundlegenden Gesamtreform des Strafvollzugswe-
sens mit Erlass des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) festgelegt worden. Damals wie
heute gilt, dass es „nicht gerechtfertigt ist, neben den notwendigen Einschränkungen,
die der Freiheitsentzug unvermeidbar mit sich bringt, weitere vermeidbare wirt-
schaftliche Einbußen zuzufügen“ (Bundestagsdrucksache 7/918, S. 67). Doch das
damals in den §§ 190 ff. StVollzG angekündigte besondere Bundesgesetz, mit dem
die Gefangenen in die Sozialversicherungen einbezogen werden könnten, ist bis
heute verzögert und verschoben worden.

Nach eigenem Bekunden hielt die schwarz-gelbe Bundesregierung in der letzten Le-
gislaturperiode „die Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Renten-
versicherung weiterhin für sinnvoll“ (Bundestagsdrucksache 17/6589 vom 15. Juli
2011). Sie verweigerte sich einer Initiative mit dem Verweis auf die finanziellen
Vorbehalte der Länder, denen Kosten durch Sozialversicherungsbeiträge entstünden.
Auch die neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD hat im Koalitionsvertrag
keine diesbezügliche Initiative angekündigt. Diese finanziellen Gründe sind in An-
betracht des aus der Menschenwürde folgenden Resozialisierungsgebots und des
verfassungsrechtlich verankerten Sozialstaatsprinzips nicht akzeptabel. Die Entloh-

Drucksache 18/2606 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
nung jeglicher Form von Pflichtarbeit von Gefangenen durch ein angemessenes Ar-
beitsentgelt sowie der soziale Schutz für Gefangene in der Renten- und Kranken-
sowie Pflegeversicherung sind geboten, um diesen Prinzipien gerecht zu werden und
das für den Strafvollzug maßgebliche Ziel der Resozialisierung erreichen zu können.
Der Einbeziehung der pflichtarbeitenden Gefangenen in die Sozialversicherung be-
darf es als Interimslösung bis zur erforderlichen vollständigen Abschaffung der
Pflichtarbeit. Ebenso ist die angemessene Entlohnung von erwerbstätigen Gefange-
nen sicherzustellen. Beides unterliegt der Gesetzgebungskompetenz der Bundeslän-
der, welche nun endlich aktiv werden müssen.

Statt einer Arbeitspflicht sollte in den Strafvollzugsgesetzen ein Recht auf Arbeit
festgeschrieben werden. In den meisten Justizvollzugsanstalten sind der Bedarf und
der Wunsch nach Arbeit erheblich größer als die Anzahl der vorhandenen Arbeits-
plätze. Sinnvolle Arbeit kann aber einen wesentlichen Beitrag zur Resozialisierung
von Gefangenen nach der Entlassung leisten und setzt den Angleichungsgrundsatz
um, der besagt, dass die Verhältnisse innerhalb der Anstalt soweit es geht den Ver-
hältnissen der Außenwelt angeglichen werden sollen. Zudem wird den Gefangenen
so ermöglicht, durch ihre Erwerbstätigkeit etwaige Entschädigungsansprüche der
Opfer der von ihnen verübten Straftaten zu erfüllen und so Wiedergutmachung zu
leisten. Um eine weitestgehende Beschäftigung zu erreichen und die Anstalten an-
zuhalten, eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung zu stellen, ist
die Gewährung eines individuellen einklagbaren Anspruchs auf einen Arbeitsplatz
das effektivste Mittel.

Das von den Gefangenen erwirtschaftete angemessene Einkommen soll neben der
Deckung ihres Bedarfs und desjenigen ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen
auch den Opfern der von ihnen verübten Straftaten zu Gute kommen. Daher sind die
Pfändungsvorschriften entsprechend zu gestalten und ihnen Vorrang gegenüber an-
deren Gläubigern einzuräumen.

Außerdem sollte als Akt der Solidarität des Staates und seiner Bürgerinnen und Bür-
ger mit den Opfern schwerer Gewalttaten ein Härtefonds durch den Bund eingerich-
tet werden, der über das Opferentschädigungsgesetz hinaus den Betroffenen schnell
und unbürokratisch hilft und auch Schmerzensgeld, Ersatz bei Unterhaltsausfall oder
bei Schäden im beruflichen Fortkommen gewährt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem die Bestimmungen der gesetzli-
chen Rentenversicherung (SGB VI), der gesetzlichen Krankenversicherung
(SGB V) und der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) dahingehend geän-
dert und erweitert werden, dass
a) Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in die gesetzliche Rentenversiche-

rung und in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung einbezo-
gen werden,

b) die im Strafvollzug geleistete Arbeit in der gesetzlichen Rentenversicherung
und der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung paritätisch beitrags-
pflichtig und anspruchsbegründend wird,

c) Strafgefangene und Sicherungsverwahrte mit Gelegenheit zur Berufsausbil-
dung, zu beruflicher Weiterbildung und anderen ausbildenden oder weiter-
bildenden Maßnahmen als im Sinne des § 1 Satz 1 Nummer 1 SGB VI gegen
Arbeitsentgelt oder zur Berufsausbildung Beschäftigte gelten,

d) die Zeit des Strafvollzugs und der Sicherungsverwahrung von Gefangenen,
die aus unterschiedlichen Gründen keiner Arbeit nachgegangen sind, als ren-
tenrechtliche Zeit gewertet wird, so dass

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2606

i) nach Erfüllen der allgemeinen Wartezeit der Anspruch auf Erwerbs-
minderungsrente aufrechterhalten bleibt,

ii) die Zeit des Strafvollzugs bei der 35-jährigen Wartezeit nach § 51 Ab-
satz 3 SGB VI berücksichtigt wird,

e) die Belange der ehemals in der DDR Inhaftierten berücksichtigt werden, für
die Zeiten des Arbeitseinsatzes während des Strafvollzugs als versicherungs-
pflichtige Zeiten galten, wofür aber nur ein Vertrauensschutz bei einem Ren-
teneintritt bis zum 31. Dezember 1996 gewährt wurde,

2. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Pfändungsvorschriften im Bereich
des Strafvollzugs so gestaltet, dass Opfer von Straftaten, wegen denen die
Gefangenen inhaftiert sind, mit ihren Entschädigungsansprüchen gegenüber
anderen nicht unterhaltsberechtigten Gläubigern privilegiert werden,

3. einen Härtefonds für Opfer von schweren Gewalttaten einzurichten und die-
sen im Entwurf des nächsten Haushaltsgesetzes mit einem Haushaltstitel in
angemessener Höhe zu berücksichtigen,

4. auf die Bundesländer einzuwirken,
a) die Arbeitspflicht für Strafgefangene und Sicherungsverwahrte abzuschaf-

fen,
b) eine angemessene Entlohnung für erwerbstätige Gefangene sicherzustellen,
c) ein individuelles einklagbares Recht auf Arbeit für Gefangene einzuführen.

Berlin, den 23. September 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die allermeisten Gefangenen unterliegen nach geltender Rechtslage immer noch der Arbeitspflicht (§ 41
StVollzG, § 27 HStVollzG, § 38 HmbStVollzG, § 38 NJVollzG, Artikel 43 BayStVollzG, § 47 JVollzGB, § 22
StVollzG M-V, § 29 ThürJVollzGB, § 29 des noch nicht in Kraft getretenen Gesetzentwurfs der Landesregie-
rung NRW, Landtag NRW Drucksache 16/5413), so dass die darauf begründeten öffentlich-rechtlichen Ar-
beitsverhältnisse nicht freiwillig sind. Zwar liegt ein Musterentwurf von zehn Bundesländern vor, der keine
Arbeitspflicht mehr vorsieht. Allerdings wurde er in diesem Punkt nur von wenigen Bundesländern auch tat-
sächlich umgesetzt. Brandenburg (§ 30 BbgJVollzG), Rheinland-Pfalz (§ 29 LJVollzG) und Sachsen (§ 22
SächsStVollzG) schafften die Arbeitspflicht ab, ebenso das Saarland, dessen Strafvollzugsgesetz aber be-
stimmt, dass die Gefangenen dennoch dazu „anzuhalten“ seien, einer Arbeit nachzugehen (§ 22 SLStVollzG).
In Berlin, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt sind entsprechende Entwürfe noch in Arbeit, so dass der im
Bundesstrafvollzugsgesetz vorgesehene Arbeitszwang für die dort inhaftierten Gefangenen fortbesteht. Frei-
willigkeit gilt jedoch als Grundmerkmal einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gemäß § 7 Absatz
1 SGB IV (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. April 2007, L 21 R 1362/05, LSG Rheinland-Pfalz, Urteil
vom 13. August 2008, L 4 R 67/08). Nach den Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 1 Satz
1 Nummer 1 SGB VI) und der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 5 Absatz 1 Nummer 1 SGB V) sind Ge-
fangene deshalb in diese Sozialversicherungen nicht einbezogen. Im Rahmen der Unfallversicherung (§ 2 Ab-
satz 2 SGB VII) und der Arbeitslosenversicherung (§ 26 Absatz 1 Nummer 4 SGB III) sind pflichtarbeitende
Gefangene jedoch explizit einbezogen.

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Laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973 entspricht das Gebot zur Resozialisierung von Ge-
fangenen „dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wert-
ordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden
und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muss der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach
Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses
Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1
GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für
Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftli-
cher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Ge-
fangenen und Entlassenen“ (BVerfG, Lebach-Urteil vom 5. Juni 1973, 1 BvR 536/72, Rn. 72).

Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber zwar zur Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Resoziali-
sierungsgebots einen weiten Spielraum eingeräumt (BVerfG, Urteil vom 1. Juli1998, 2 BvR 441/90), dennoch
erscheint gerade im Hinblick darauf, dass – im Rahmen des Bundesstrafvollzugsgesetzes sowie auch in den
bisher erlassenen Landesstrafvollzugsgesetzen – die Resozialisierung maßgebliches Ziel des Strafvollzugs ist,
die diesem Ziel offensichtlich zuwiderlaufende Ausgrenzung aus dem staatlichen Sicherungssystem nicht nach-
vollziehbar (so auch Schorn, Sozialversicherung im Strafvollzug, NZS 1995,444, 446). Auch der Europarat
empfiehlt den europäischen Staaten, arbeitende Gefangene in das staatliche Sozialversicherungssystem einzu-
beziehen (Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Die Empfehlungen des Europarates Rec (2006)2, Empfehlung
Nummer 26.17).

Zwar unterliegen alle Gefangenen der Arbeitspflicht, aber nicht für alle führt eine in diesem Rahmen ausgeübte
Arbeit zu einer Nichteinbeziehung in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Gefangene, die als soge-
nannte echte Freigänger in einem freien Beschäftigungsverhältnis außerhalb der Strafanstalt stehen (u. a. § 39
Absatz 1 StVollzG), unterliegen der vollen Versicherungspflicht und damit dem vollem Versicherungsschutz.
Zu dieser Gruppe zählt jedoch nur ein kleiner Teil der Gefangenen.

Obwohl alle Gefangenen gleichermaßen der Arbeitspflicht unterliegen, wird ihre Pflichtarbeit nicht in gleichem
Maße sozialrechtlich geschützt. Diese Ungleichbehandlung ist auch im Hinblick auf Artikel 3 Absatz 1 des
Grundgesetzes (GG) problematisch (so auch Schorn, Sozialversicherung im Strafvollzug, NZS 1995, 444, 445)
und kann behoben werden, indem alle Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten in die gesetzliche Renten-,
Kranken- und Pflegeversicherung einbezogen werden. Auch das Bundessozialgericht geht davon aus, dass die
Unterscheidung zwischen der Beschäftigung in einem freien Beschäftigungsverhältnis (u. a. § 39 StVollzG)
und zugewiesener Arbeit (u. a. § 37 i. V. m. § 41 StVollzG) eine sich aus der Abwicklung des Strafvollzugs
ergebende Folge ist, an die aber für die Zeit nach der Strafentlassung keine unterschiedlichen Folgerungen
hinsichtlich der sozialen Sicherung des Gefangenen geknüpft werden dürfen (BSGE 48, 129, 134).

Die Nichteinbeziehung in die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung wirkt sich nicht während
der Haftzeit auf die Gefangenen aus, sondern betrifft die Zeit nach der Haftentlassung. Denn die durch die
Nichtversicherung in der gesetzlichen Rente entstehenden Versicherungslücken führen zu niedrigeren Alters-
renten. Zudem sind Ansprüche auf eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR), auf
Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung, auf eine Erwerbsminderungsrente oder auf eine Altersrente
für langjährig Versicherte an bestimmte Vor- oder Mindestversicherungszeiten geknüpft.

Die Krankenversicherung in Form der KVdR hat den Vorteil, dass versicherte Rentnerinnen und Rentner nicht
den vollen Beitragssatz an die Krankenkasse zahlen müssen. Mit Ausnahme des zusätzlichen und von den
Versicherten allein zu tragenden Anteils von 0,9 Prozent zahlt der Rentenversicherungsträger die Hälfte des
Beitrags. Eine zentrale Zugangsvoraussetzung zur KVdR ist die Vorversicherungszeit in Form der Neun-Zehn-
tel-Belegung (§ 5 Absatz 1 Nummer 11, 11a SGB V). Sie bedeutet, dass in der zweiten Hälfte des Zeitraumes
von der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bis zum Rentenantrag mindestens zu 90 Prozent eine
freiwillige oder Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung bestanden haben muss. Damit
Gefangene nicht an der Vorversicherungszeit scheitern, müssen sie während der Zeit des Strafvollzugs in der
gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sein.

In der gesetzlichen Pflegeversicherung besteht eine Vorversicherungszeit (§ 33 Absatz 2 SGB XI), bei der in
den zehn Jahren vor Antragstellung mindestens zwei Jahre Mitgliedschaft- oder Mitversicherungszeit nachge-
wiesen werden müssen. Bei einer darüber hinausgehenden Haftdauer wird ebenfalls der Sozialversicherungs-
anspruch verfehlt.

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Um etwa einen Anspruch auf eine Altersrente für langjährig Versicherte (§ 36 SGB VI) zu erhalten, muss eine
Mindestversicherungszeit (Wartezeit) von 35 Jahren rentenrechtlicher Zeiten erfüllt sein. Eine Lösung spezi-
fisch für die Gefangenen wäre, die Zeit der Freiheitsentziehung als eigenständige rentenrechtliche Zeit einzu-
führen und auf die Wartezeitregelungen im SGB VI anzurechnen. Damit würden die entsprechenden Warte-
zeiten auch von jenen Gefangenen erfüllt werden, die von der Arbeitspflicht ausgenommen sind (u. a. § 41
Absatz 1 StVollzG), denen keine Arbeit zugewiesen worden ist oder die eine zugewiesene Arbeit verweigern.

Während durch die Nichteinbeziehung von Gefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung in der Regel
bestimmte Ansprüche gar nicht erst entstehen, können bei der Erwerbsminderungsrente sogar bereits erwor-
bene Ansprüche verloren gehen. Neben einer teilweisen, respektive vollen Erwerbsminderung und der allge-
meinen Wartezeit (60 Monate Mindestversicherungszeit) müssen während der letzen fünf Jahre vor Eintritt der
Erwerbsminderung mindestens 36 Monate Pflichtbeiträge gezahlt worden sein (§ 43 Absatz 1 und 2 SGB VI).
Wer vor der Haftzeit die allgemeine Wartezeit erfüllt hat und nach einer mehr als zwei Jahre andauernden,
nicht rentenversicherten Haftzeit erwerbsgemindert wird, hat keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungs-
rente. Dieser Anspruch muss erst wieder durch Pflichtbeiträge erworben werden.

Die Lösung für die beschriebenen Probleme besteht in einer Pflichtversicherung aller bisher nicht versicherten
pflichtarbeitenden Gefangenen in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung.

Damit würde auch dem Gebot des Strafvollzugsgesetzes, dass die Haftstrafe nicht zusätzlich zum Freiheitsent-
zug zu Nachteilen führen darf, endlich Geltung verschafft und dem Resozialisierungsgedanken auch in sozial-
rechtlicher Hinsicht Rechnung getragen.

Da die Zeiten für Arbeitseinsätze für ehemals in der DDR Inhaftierte, die als versicherungspflichtige Zeiten
galten, im Prozess der Rentenüberleitung zwar Eingang in den Artikel 2 „Übergangsrecht nach den Vorschrif-
ten des Beitrittsgebiets“ fanden, damit für Rentenzugänge bis zum 31. Dezember 1996 wirksam wurden, aber
danach ersatzlos wegfielen, ist eine vertrauensschutzwahrende Regelung zu installieren.

Dabei sollte Berücksichtigung finden, dass die Betroffenen im großen Umfang – oft außerhalb von Haftanstal-
ten – in volkseigenen Betrieben eingesetzt waren und ganze Produktionslinien durch sie aufrechterhalten wur-
den, so zum Beispiel für den Export.

Unabhängig von der durch den Bundesgesetzgeber vorzunehmenden Einbeziehung der pflichtarbeitenden Ge-
fangenen in die Sozialversicherung ist die Arbeitspflicht durch die Bundesländer im Rahmen ihrer Strafvoll-
zugsgesetze als unzeitgemäßes Relikt abzuschaffen. Der Bezug zur Arbeit soll vielmehr durch ein individuelles
und einklagbares Recht auf einen Arbeitsplatz positiv ausgestaltet werden. Sinnvolle Arbeit kann einen wich-
tigen Beitrag zur Resozialisierung von Gefangenen leisten, da sie so einen strukturierten und ausgefüllten Tag
haben und viele ihre Arbeit als sinnstiftend erleben. Dementsprechend sind der Bedarf und der Wunsch nach
Arbeit in den meisten Anstalten weit höher als die Anzahl vorhandener Arbeitsplätze. Durch das in den Straf-
vollzugsgesetzen der Länder festzuschreibende Recht auf Arbeit sollen die Anstalten dazu angehalten werden,
den Bedarf durch geeignete Maßnahmen zu decken. Bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze sollen Fähigkeiten
und Neigungen der Gefangenen berücksichtigt werden. So wird Arbeit nicht mehr als Teil des den Gefangenen
auferlegten Strafübels ausgestaltet, sondern allein als Mittel zur Resozialisierung. Dies entspricht auch den
europäischen Strafvollzugsgrundsätzen, wonach Gefangenenarbeit als positiver Bestandteil des Strafvollzugs
ausgestaltet sein soll und nie zur Bestrafung eingesetzt werden darf (Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Die
Empfehlungen des Europarates Rec (2006)2, Empfehlung Nummer 26.1).

Die derzeitige durchschnittliche Entlohnung der Gefangenen in Höhe von 1,50 Euro pro Stunde ist unange-
messen niedrig. Die Bundesländer sind zur Verwirklichung des Resozialisierungs- und Angleichungsgrundsat-
zes angehalten, eine angemessene Entlohnung der in ihren Justizvollzugsanstalten inhaftierten arbeitenden Ge-
fangenen sicherzustellen.

Das Recht auf Arbeit ebenso wie die angemessene Entlohnung würden auch den Opfern von Straftaten zu Gute
kommen. Die Möglichkeit der Gefangenen zur Begleichung ihrer Entschädigungsansprüche wird so erhöht.
Um ihre Chancen auf Entschädigung weiter zu erhöhen, sind die Pfändungsvorschriften im Bereich des Straf-
vollzugs so zu gestalten, dass Opfer von Straftaten mit ihren Entschädigungsansprüchen gegenüber anderen
nicht unterhaltsberechtigten Gläubigern grundsätzlich privilegiert werden. Das schließt auch die Abänderung
bestehender Vorschriften wie des § 50 des Strafvollzugsgesetzes des Bundes, nach dem die Erhebung des Haft-
kostenbeitrags beim Gefangenen nicht zu Lasten der Unterhaltsberechtigten erfolgen darf, ein. Diese Privile-
gierung sollte auf Entschädigungsansprüche der Opfer von Straftaten, wegen denen der Gefangene inhaftiert

Drucksache 18/2606 – 6 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
ist, ausgeweitet werden. Die Gesetzgebungskompetenz dafür ist beim Bund verblieben, da der Pfändungsschutz
als Teil der Vollstreckung zum gerichtlichen Verfahren nach Artikel 74 Absatz 1 Nummer 1 GG gehört (vgl.
u. a. § 83 HStVollzG, § 130 HmbStVollzG, Artikel 208 BayStVollzG).

Der Versuch der Gefangenen und ernsthafte Wille zur Wiedergutmachung der Folgen der Tat und zur Entschä-
digung der Opfer sollte bei einer vorzeitigen Entlassung nach den §§ 57, 57a StGB berücksichtigt werden.

Zugunsten der Opfer und um Härten für sie bei Zahlungsunfähigkeit der Straftäterinnen und Straftäter zu ver-
meiden, ist ein Härtefonds für Opfer schwerer Gewalttaten, worunter auch Sexualdelikte fallen, einzurichten.
Als Opfer sind auch ihre Hinterbliebenen und Nothelfer zu berücksichtigen. Dafür soll im Haushaltsgesetz ein
Titel, entsprechend dem für Härteleistungen an Opfer extremistischer Übergriffe, geschaffen werden, der einen
angemessenen Betrag zur Verfügung stellt. Den Opfern kann somit als Akt der Solidarität des Staates und
seiner Bürgerinnen und Bürger über das Opferentschädigungsgesetz hinaus schnell und unbürokratisch gehol-
fen und auch Schmerzensgeld, Ersatz bei Unterhaltsausfall oder Schäden beim beruflichen Fortkommen ge-
währt werden.

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