BT-Drucksache 18/23

Aufnahme syrischer Flüchtlinge in den EU-Mitgliedstaaten und der Bundesrepublik Deutschland

Vom 30. Oktober 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 18/23
18. Wahlperiode 30.10.2013
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko,
Stefan Liebich, Niema Movassat, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Katrin Werner und
der Fraktion DIE LINKE.

Aufnahme syrischer Flüchtlinge in den EU-Mitgliedstaaten und der
Bundesrepublik Deutschland

Die unveränderte Lage in Syrien treibt immer mehr Menschen in die Flucht. Mit
Stand Anfang Oktober 2013 waren 6,35 Millionen Menschen vertrieben oder
geflüchtet, 2,1 Millionen davon befanden sich in den Nachbarstaaten Syriens.
Sie leben dort in Flüchtlingslagern oder haben andere Formen der Aufnahme
gefunden. Die insbesondere für den Libanon und Jordanien entstehenden Be-
lastungen durch die Flüchtlingsaufnahme sind immens. Ägypten, das lange Zeit
eine Politik der offenen Grenzen für die syrischen Flüchtlinge betrieben hatte,
hat nach der faktischen Machtübernahme des Militärs und der Absetzung von
Präsident Mohammed Mursi diese Politik beendet und eine Visumpflicht für sy-
rische Staatsangehörige eingeführt. Die im Land lebenden ca. 100 000 syrischen
Flüchtlinge fürchten zudem, dass ihre Aufenthaltserlaubnisse durch die neuen
Machthaber nicht mehr verlängert werden. In der Öffentlichkeit werden sie als
Unterstützer von Mohammed Mursi bzw. der Muslimbruderschaft gebrand-
markt und müssen in Teilen des Landes mit Diskriminierungen rechnen. In
einem am 17. Oktober 2013 veröffentlichten Bericht prangerte die Menschen-
rechtsorganisation Amnesty International an, dass syrische Flüchtlinge inhaf-
tiert und in andere Staaten der Region, auch nach Syrien selbst, abgeschoben
würden. Von den Maßnahmen seien selbst Kleinkinder und unbegleitete Min-
derjährige betroffen.
In der Folge könnten sich vermehrt syrische Flüchtlinge veranlasst sehen, von
Ägypten aus mit Booten auf die gefährliche Überfahrt in die Europäische Union
begeben. Doch auch daran werden sie von der ägyptischen Marine gehindert.
Der Amnesty-International-Bericht dokumentiert 13 Fälle, in denen Boote mit
insgesamt 946 syrischen Flüchtlingen gestoppt wurden, 724 Flüchtlinge wurden
inhaftiert. Damit wird den Flüchtlingen einer der irregulären Wege in die Euro-
päische Union abgeschnitten. Legale Möglichkeiten, in die Europäische Union
zu gelangen, gibt es nur in wenigen Ausnahmefällen. Immer mehr syrische
Flüchtlinge sterben aufgrund dieser Politik bei dem Versuch, illegal in die
Europäische Union einzureisen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Eine legale und gefahrlose Einreise wäre syrischen Flüchtlingen allerdings mög-
lich, wenn die Richtlinie der Europäischen Union zum vorübergehenden Schutz
im Falle eines „Massenzustroms von Vertriebenen“ (2011/55/EG vom 20. Juli
2001) angewandt würde. Diese sieht für den Fall einer gesteigerten Zuflucht-
suche aus einer bestimmten Region die Möglichkeit vorübergehenden Schutzes

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vor; notwendig ist ein entsprechender Beschluss des Rates mit qualifizierter
Mehrheit. Die Mitgliedstaaten sind dann verpflichtet, Kontingente für die Auf-
nahme von Flüchtlingen zu benennen, die jederzeit aufgestockt werden können.
Die Aufnahme wird mit Mitteln der Europäischen Union unterstützt. Erforderli-
che Visa sollen möglichst unkompliziert und kostenlos erteilt werden. Staaten,
die durch spontane Einreisen von Flüchtlingen besonders betroffen sind, sollen
zusätzlich unterstützt werden. Durch einen Solidaritätsmechanismus soll die
Aufnahme bzw. ihre Finanzierung unter den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union gerecht verteilt werden. Seit ihrem Inkrafttreten im August 2001 ist die
Richtlinie der Europäischen Union noch in keinem Fall angewendet worden.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse ist dies nur schwer nachvollzieh-
bar.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele syrische Staatsangehörige leben nach Kenntnis der Bundesregie-

rung derzeit in Deutschland, die
a) seit Anfang 2011 eingereist sind (bitte nach Aufenthaltstitel und Jahr der

Einreise auflisten),
b) aufgrund des Aufnahmebeschlusses von Bund und Ländern vom Mai

2013 aufgenommen wurden, wie viele von ihnen sind selbsttätig einge-
reist, wie viele wurden (beispielsweise wegen schwerer Verletzungen
u. Ä.) einzeln aufgenommen, und wie viele kamen bislang gruppenweise
im Rahmen einer organisierten Einreise (bitte Einzelheiten auflisten),

c) aus besonderen politischen Interessen auf Grundlage von § 22 des Aufent-
haltsgesetzes (AufenthG) aufgenommen wurden,

d) im Rahmen der Aufnahmeanordnungen der Länder zu in Deutschland le-
benden Verwandten nach individueller Verpflichtungserklärung nachzie-
hen konnten,

e) seit Anfang 2011 im Rahmen des regulären Familiennachzugs einreisen
durften,

f) einen Aufenthaltstitel auf anderer Rechtsgrundlage erhalten haben, nach-
dem ihr ursprünglicher Aufenthaltstitel (beispielsweise zum Zwecke eines
Studiums) ausgelaufen ist bzw. nicht verlängert werden konnte?

2. Welche anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ggf. weitere
europäische Staaten, für die die Dublin-II-Verordnung Anwendung findet,
haben nach Kenntnis der Bundesregierung bislang
a) die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen im Rahmen eines Aufnahme-

programms verbindlich zugesagt,
b) ein solches Aufnahmeprogramm in Aussicht gestellt
(bitte mit beschlossenen bzw. geplanten Aufnahmezahlen auflisten)?

3. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung Überlegungen bei der Europä-
ischen Kommission oder bei einzelnen Mitgliedstaaten, die „Richtlinie zur
vorübergehenden Aufnahme im Falle eines Massenzustroms von Vertriebe-
nen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Be-
lastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Auf-
nahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten“ (Richtlinie 2001/55/EG) zur
Anwendung zu bringen (bitte ausführen)?

4. In welchem Rahmen wurden solche Überlegungen geäußert, und wie waren
die Positionen der Mitgliedstaaten bzw. insbesondere der Vertreter der Bun-
desrepublik Deutschland?

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5. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die formellen Voraussetzun-
gen für die Anwendung der Richtlinie erfüllt sind, insbesondere der Um-
stand, dass es eine „große Zahl Vertriebener“ aus einem bestimmten Land
bzw. Gebiet gibt, aus dem sie wegen der dort herrschenden Lage fliehen
mussten und nicht sicher dorthin zurückkehren können (vgl. Artikel 1, 2
und 5 der Richtlinie, bitte ausführen)?

6. Wie steht die Bundesregierung zur Frage der Anwendung der Richtlinie in
Bezug auf die Aufnahme syrischer Flüchtlinge, und würde ihre Anwendung
nicht insbesondere eine solidarische und gerechte Aufnahme in der Europä-
ischen Union ermöglichen, wie von vielen politisch Verantwortlichen ge-
fordert (bitte mit Benennung von Vor- und Nachteilen ausführen)?

7. Ist die Bundesregierung bereit oder erwägt sie, einen nach Artikel 5 Ab-
satz 1 der Richtlinie möglichen Antrag zu stellen, wonach die Kommission
dem Rat einen Vorschlag zur Anwendung der Richtlinie machen soll (bitte
ausführen), und welche Aufnahmekapazitäten nach Artikel 5 Absatz 3c der
Richtlinie würde sie in etwa angeben?

8. Sind zur möglichen Anwendung der Richtlinie zur vorübergehenden Auf-
nahme Treffen, Konferenzen etc. auf Ebene der Europäischen Union
geplant oder bereits in Vorbereitung, und wie sähe nach Auffassung der
Bundesregierung das genaue Verfahren und die Umsetzung der Richtlinien-
vorgaben im Detail aus?

9. Wie könnte oder sollte nach den Vorstellungen der Bundesregierung insbe-
sondere ein „Solidaritätsmechanismus“ aussehen, der nach dem Erwä-
gungsgrund 20 der Richtlinie geschaffen werden sollte, um Belastungen der
Aufnahme ausgewogen auf die Mitgliedstaaten zu verteilen (sowohl in
finanzieller Hinsicht als auch in Bezug auf die Aufnahme selbst, bitte aus-
führen)?

10. Wie lange würde das Verfahren zur Anwendung der Richtlinie nach Ein-
schätzung der Bundesregierung in Anspruch nehmen, einschließlich der er-
forderlichen Abgabe von Erklärungen zur Höhe der nationalen Aufnahme-
kontingente und der Klärung der Fragen zur (finanziellen) Unterstützung
besonders belasteter Mitgliedstaaten, und welche Schwierigkeiten in der
Anwendung der Richtlinie sieht die Bundesregierung?

11. Hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren erwogen, der Kommis-
sion und den Mitgliedstaaten vorzuschlagen, die Richtlinie im Lichte der
fortschreitenden Harmonisierung der nationalen Asylsysteme und der Er-
weiterung der Europäischen Union zu überarbeiten, und was war ggf. das
Ergebnis dieser Erwägungen respektive darauf folgender Initiativen?

12. Wie beurteilt es die Bundesregierung und welche Erklärung hat sie dafür,
dass die Richtlinie seit ihrem Inkrafttreten niemals angewandt wurde und
dass nicht einmal angesichts der aktuellen Flüchtlingskatastrophe im Zu-
sammenhang mit Syrien ihre Anwendung auch nur öffentlich diskutiert
wird?
Handelt es sich um bloß symbolisches Recht oder ist dies Ausdruck dafür,
dass die Europäische Union zur Aufnahme von Flüchtlingen selbst in be-
sonderen Notsituationen nicht bereit ist und einmal geschaffene Regelun-
gen deshalb ungenutzt lässt (bitte ausführen)?

13. Welche Szenarien für die Anwendung einer solchen Richtlinie hatten die
Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten damals vor Augen, wel-
che Positionen, Vorstellungen und Ziele hatte die Bundesrepublik Deutsch-
land bei der Erarbeitung und Verabschiedung der Richtlinie, und welche
Vorstellungen wurden von den anderen Mitgliedstaaten und der Europä-
ischen Kommission damals verfolgt?

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14. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung, dass aufgrund der hohen Anfor-
derungen an die Einkommen der aufnehmenden Haushalte die von 14 Bun-
desländern erlassenen Anordnungen zur Aufnahme syrischer Verwandter
bei in Deutschland lebenden Angehörigen weitgehend leerlaufen werden
(bitte begründen), und welche Möglichkeiten für einheitlichere und deutlich
erleichterte Voraussetzungen für die Aufnahme von Verwandten sieht die
Bundesregierung?

15. Inwieweit ist die Bundesregierung bereit, angesichts der zunehmenden
Flüchtlingsnot und der enormen Belastungen der Nachbarländer Syriens,
eine weitere „Kontingent-Aufnahme“ nach § 23 Absatz 2 AufenthG in wel-
cher Größenordnung vorzusehen (bitte ausführen)?

16. Inwieweit ist die Bundesregierung vor dem Hintergrund der jüngsten Ereig-
nisse (alleine über 360 Tote bei einem Schiffsunglück vor Lampedusa am
3. Oktober 2013) dazu bereit, sich auf der Ebene der Europäischen Union
dafür einzusetzen, dass Schutzsuchende einen sicheren und legalen Zugang
zur Europäischen Union erhalten müssen, und wenn nicht, warum will sie
trotz zehntausender Toten an den Außengrenzen der Europäischen Union in
den letzten Jahrzehnten an den bestehenden Regelungen festhalten und
keine Änderungen vornehmen (bitte begründen und ausführen)?

17. Inwieweit ist die Bundesregierung vor dem Hintergrund der jüngsten Ereig-
nisse dazu bereit, entsprechend der Forderungen von Mitgliedstaaten der
Europäischen Union mit besonders vom Migrationsgeschehen betroffenen
Außengrenzen der Europäischen Union nach einer grundlegenden Ände-
rung der Dublin-Regelungen zuzustimmen, da das geltende System nach
Ansicht der Fragesteller einen Anreiz zur verstärkten Abschottung darstellt
und keinen fairen Ausgleich zwischen den Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union beinhaltet (bitte ausführen)?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die aktuelle Lage der syrischen Flücht-
linge in Ägypten, und wie sind ihre Prognosen bezüglich einer Weiterflucht
der Flüchtlinge in die Europäische Union, u. a. mit Booten über das Mittel-
meer?

19. Hat die Bundesregierung Kenntnis von den Abfangaktionen der ägyp-
tischen Marine gegen syrische Flüchtlinge, die Ägypten in Richtung Europa
verlassen wollen, handelt die ägyptische Regierung hierbei gänzlich aus
eigenem Antrieb oder bestehen nach Kenntnis der Bundesregierung mit
europäischen Staaten oder Institutionen Verabredungen oder Vereinbarun-
gen mit Ägypten betreffend die Migrationskontrolle und die Bekämpfung
illegaler Migration in die Europäische Union?

20. Wie weit sind nach Kenntnis der Bundesregierung Planungen gediehen,
Ägypten als Drittstaat in die Kooperationsstrukturen von EUROSUR
(Europäisches Grenzüberwachungssystem) einzubinden?

21. Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage in Jordanien, im Libanon und
in der Türkei, insbesondere im Hinblick auf Faktoren, die die Weiterflucht
syrischer Flüchtlinge in die Europäische Union auslösen oder verstärken
könnten?

22. Welches sind nach Kenntnis der Bundesregierung die von syrischen Flücht-
lingen benutzten Fluchtrouten und Vorgehensweisen bei einer (zunächst
irregulären) Einreise in die Europäische Union, und welche Prognosen lie-
gen zur weiteren Entwicklung auf diesen Routen bis Ende des Jahres 2013
vor (bitte so weit wie möglich Zahlen zu Asylanträgen, festgestellten ir-
regulären Grenzübertritten, Zurückweisungen an der Grenze, festgestellte
Fluchthelfer bzw. Schleuser etc. nach Monaten für die Jahre 2012 und 2013
mit Bezug zu den einzelnen Fluchtrouten angeben)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/23
23. Führt die Bundespolizei oder eine andere Stelle Befragungen der syrischen
Asylsuchenden zu ihrer Fluchtroute durch, und durch welche Stelle werden
die Ergebnisse ggf. zentral gesammelt, ausgewertet und an welche weiteren
Stellen weitergegeben?

24. Inwiefern und mit welchen Abteilungen bzw. Dienststellen ist die Haupt-
stelle für Befragungswesen des Bundesnachrichtendienstes mit Flüchtlin-
gen aus Syrien befasst?
a) In welcher Größenordnung bewegen sich Vorgespräche und Befragun-

gen syrischer Flüchtlinge durch die Hauptstelle für Befragungswesen?
b) Wo wurden bzw. werden diese durchgeführt?
c) Nach welchen Kriterien wurden bzw. werden die Befragten hierfür aus-

gewählt?
25. Welchen Effekt hatten nach Kenntnis und Einschätzung der Bundesregie-

rung die von den Staaten der Europäischen Union ergriffenen Grenzsiche-
rungsmaßnahmen auf die genutzten Fluchtrouten?

26. An welchen Maßnahmen der Europäischen Agentur für die operative Zu-
sammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX) ist die Bundespolizei
derzeit beteiligt, in deren Durchführung es zu Berührungen mit syrischen
Flüchtlingen kommt, welche genaueren Erkenntnisse hat sie hierzu, und
welche Schlüsse hat die Bundesregierung aus den Erkenntnismitteilungen
und Mitteilungen zu besonderen Ereignissen der beteiligten Bundespolizis-
ten gezogen?

27. Sind derzeit Mitarbeiter von Bundesbehörden im Rahmen von Aktivitäten
des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) mit Vorgän-
gen um die Aufnahme und den Schutz syrischer Asylsuchender befasst, in
welchem Rahmen liefern auch diese Mitarbeiter regelmäßig Berichte und
Mitteilungen an die Bundesregierung oder nachgeordnete Behörden, und
welche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen haben sich aus diesen Berich-
ten oder Mitteilungen ergeben?

Berlin, den 30. Oktober 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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