BT-Drucksache 18/2297

Mögliche Einflussnahme von Unternehmen mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien auf Curricula und Schulen unter Förderung von Bundesministerien

Vom 30. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2297
18. Wahlperiode 30.07.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Nicole Gohlke, Sigrid Hupach,
Ralph Lenkert, Cornelia Möhring, Harald Petzold (Havelland), Katrin Werner,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Mögliche Einflussnahme von Unternehmen mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien
auf Curricula und Schulen unter Förderung von Bundesministerien

Immer mehr Wirtschafts- und Finanzverbände, Privatunternehmen, Stiftungen,
Vereine und sonstige Lobbygruppen drängen in den Unterrichtsalltag und be-
stimmen die Unterrichtsinhalte in den Schulen. Sie publizieren z. B. nicht nur
Standards für die „Ökonomische Bildung“ sowie die entsprechende Ausbildung
von Lehrkräften und unterbreiten den Schulen dazu Fortbildungsangebote, son-
dern veranstalten auch interessengeleitete Projekte und Schulwettbewerbe. Zu-
nehmend gehen Firmenvertreter in den Unterricht. Wirtschaftsunternehmen und
-verbände – vom Bankenverband bis hin zur Initiative Neue Soziale Marktwirt-
schaft (INSM) – überfluten die Schulen mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien,
die in den Schulen gerne für den Unterricht genutzt werden. Diese werden nicht
selten von staatlichen Stellen, Universitätsinstitutionen oder wirtschaftsnahen
Stiftungen und Medienverlagen empfohlen (vgl. DGB Positionspapier „Wirt-
schaft in der Schule – Was sollen unsere Kinder lernen?“, 2012, S. 4).
Oftmals verfolgen diese Materialien das Ziel, das im Zuge der Finanzkrise ver-
lorene Vertrauen in die Märkte, die Wirtschaftslobby und Finanzindustrie zu
stärken, ohne auf die Ursachen der Krise einzugehen oder Regulierungspro-
bleme aufzuwerfen. Die Universität Augsburg hat im Jahr 2012 über 800 000
solcher Lehrmaterialien im Internet gefunden und schätzt die Dunkelziffer auf
etwa eine Million Materialien, die sich an Schulen und Lehrkräfte richten. Von
den 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen bieten 15 kostenlose Unter-
richtsmaterialien an. Aufgrund der sinkenden staatlichen Schulbuchausgaben ist
anzunehmen, dass die Materialien auch weiterhin auf großes Interesse stoßen
werden (vgl. GEW, Privatisierungsreport 15, S. 9; Studie „Bildungsmedien
online“, 2012, Universität Augsburg). So droht mittel- und langfristig der neu-
trale staatliche Bildungsauftrag durch das Eigeninteresse der Finanz- und Wirt-
schaftswelt einseitig unterlaufen zu werden. Es ist zu fragen, inwieweit hier in
der Unterrichtspraxis die Einhaltung des Kontroversitätsgebots im Sinne des
Beutelsbacher Konsenses gewährleistet wird.

Drucksache 18/2297 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Grundsätzlich ist die Zusammenarbeit der örtlichen Unternehmen, aber auch
von Vereinen, Verbänden und Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge mit
Schulen im Interesse eines lebensweltbezogenen Unterrichts zu begrüßen. Da-
raus können für die Schülerinnen und Schüler praxisnahe Einblicke in die Wirt-
schaft erwachsen, und erworbenes Wissen kann auch in der Praxis angewendet
werden. Allerdings sollten diese Praxisverbindungen alle Lebensbereiche be-
treffen und nicht nur einseitig das Wirtschaftsverständnis von Unternehmen oder
Lobbyverbänden im Eigeninteresse widerspiegeln.
Laut Artikel 7 des Grundgesetzes (GG) untersteht das gesamte Schulwesen der
Aufsicht des Staates. Die Schule darf ihre Hoheit im Rahmen staatlicher Schul-
pflicht über die Gestaltung und Vermittlung pädagogischer Inhalte und von Wer-
ten nicht einfach Dritten überlassen. Deshalb wird u. a. jedes neu auf den Markt
kommende Schulbuch der Schulbuchverlage in den Bundesländern einer inten-
siven fachlichen und pädagogischen Überprüfung durch die jeweiligen Kultus-
ministerien unterzogen. Dies gilt offenbar nicht für andere Unterrichtsmateria-
lien, die von Wirtschaftsverbänden, Großkonzernen oder anderen Akteuren ver-
breitet werden. Damit besteht die Gefahr, dass die Ziele schulischer Bildung der
staatlichen Aufsicht entzogen werden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie viele für Schulen bestimmte Unterrichtsmaterialien (Filme, Brettspiele,

Rollenspiele, Fortbildungsangebote für Lehrkräfte oder Ähnliches) wurden
seit dem 1. Januar 2010 welchen Bundesministerien oder nachgeordneten
Behörden von jeweils welchem Unternehmen, Verband, Stiftung oder Verein
zur Prüfung, Weiterempfehlung oder Förderung zugeleitet?
a) Wie viele und welche dieser zugleiteten Materialien wurden und werden

einer Prüfung unterzogen?
b) Nach welchen Kriterien, und in welcher Art und Weise wird und wurde

durch welche Stelle entschieden, welche der genannten Materialien für
den Gebrauch im Unterricht empfohlen werden, und welche nicht?

c) Hat die Bundesregierung die Vorgaben des Beutelsbacher Konsenses bei
der Prüfung von Materialien bzw. Zuleitungen einbezogen?
Wenn ja, wie und mit jeweils welchem Ergebnis?
Wenn nein, warum nicht?
Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die zugeleiteten
Materialien den Vorgaben des Beutelsbacher Konsenses entsprechen, ins-
besondere dem Überwältigungsverbot und dem Kontroversitätsgebot?

d) Welche Materialien wurden bzw. werden mit jeweils welcher Summe aus
welchem Haushaltstitel mit jeweils welchem Förderzeitraum gefördert?

e) Sind bei der Prüfung der jeweiligen Materialien jeweils das Bundesminis-
terium für Bildung und Forschung (BMBF), die Bundeszentrale für poli-
tische Bildung (bpb), das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), die
Kultusministerkonferenz (KMK) und die Kultusministerien der Länder
einbezogen oder informiert worden?
Wenn ja, wann, in welcher Art und Weise, und mit welchem Ergebnis?
Wenn nein, warum nicht?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2297
f) Wie (rechtlich, politisch und pädagogisch) bewertet die Bundesregierung
folgendes Zitat zur Bewertung von Artikel 14 Absatz 2 GG („Eigentum
verpflichtet“) aus dem kostenlosen Unterrichtsmaterial „Das kleine 1 × 1
der Sozialen Marktwirtschaft“ der INSM: „Zugegeben, dieses Gebot ist
ohne Zweifel gut gemeint, doch von einer freiheitlichen Wirtschaftsver-
fassung zeugt es nun wirklich nicht“ (vgl. INSM-Broschüre „Das kleine
1 × 1 der Sozialen Marktwirtschaft“, S. 21)?

g) Inwieweit ist die Bundesregierung vor dem Hintergrund dieser Bewertung
des Artikels 14 Absatz 2 GG durch die INSM der Auffassung, dass dieses
Material an Schulen verteilt, und dort verwendet werden darf?

2. Seit wann, und auf wessen Initiative, betreibt das Bundesministerium für
Wirtschaft und Energie (BMWi) das Internetportal www.unternehmergeist-
macht-schule.de?
a) Wer sind die Initiatoren der Plattform, und welche Personen aus jeweils

welchen juristischen Personen gehören dem Initiativkreis an?
b) Wie, seit wann, und mit welchen personellen, sächlichen oder Haushalts-

mitteln fördert das BMWi den Initiativkreis „Unternehmergeist in die
Schulen“?

c) In welcher Auflage wurde die Broschüre „Gemeinsam für mehr Unterneh-
mergeist“ wann an welche Schulen zu welchen Kosten versendet?

d) Wie viele und welche Unterrichtsmaterialien wurden nach jeweils welcher
inhaltlichen Prüfung durch welche Stelle an wen bereitgestellt?

e) Wie viele, und welche Schülerwettbewerbe, wurden nach jeweils welcher
pädagogischen Prüfung von welcher Stelle durchgeführt?

f) Wer zeichnet verantwortlich für die inhaltlichen und presserechtlichen In-
halte des Portals der Initiative?

g) Erfolgte jeweils eine Einbeziehung des BMBF und/oder der bpb bzw. der
KMK und der Länder?
Wenn ja, wann, in welcher Art und Weise, und mit welchem Ergebnis?
Wenn nein, warum nicht?

h) Welche Kenntnis besitzt die Bundesregierung darüber, in welchen Bun-
desländern seit jeweils welchem Datum, und auf welcher Rechtsgrund-
lage, welche Initiativen flächendeckend welche Leistungen anbieten?

i) Werden die Materialien, die von Bundesministerien oder nachgeordneten
Behörden für den Unterricht in den Schulen empfohlen werden, regelmä-
ßig evaluiert?
Durch wen werden Evaluationen durchgeführt (bitte nach internen und ex-
ternen Stellen aufschlüsseln)?

j) Wie bewertet die Bundesregierung die Aktivitäten einzelner Bundes-
ministerien bei der Förderung derartiger Unterrichtsmaterialien und der
Einrichtung von entsprechenden Internetportalen angesichts des Koopera-
tionsverbots in der Bildung?

Drucksache 18/2297 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
3. Hält das BMWi seine im „Monatsbericht 05-2012: Ökonomische Bildung an
allgemein bildenden Schulen“ (S. 1) getroffene Aussage gegenüber der
Kultusministerkonferenz der Länder aufrecht, wonach es die in der „Verein-
barung über die Schularten und Bildungsgänge im Sekundarbereich I“ getrof-
fenen Regelungen im Bereich der ökonomischen Bildung für „unzureichend“
hält, und „dem Ziel ökonomischer Bildung nicht gerecht“ werden (bitte be-
gründen)?
a) Wurde die vorbezeichnete Aussage vor Publizierung mit dem BMBF

abgestimmt?
Wenn ja, wann, mit welcher Stelle, und welchem Ergebnis?
Wenn nein, warum nicht?

b) Wie bewertet die Bundesregierung diesen Umgang und diese Aussage ge-
genüber der KMK, insbesondere vor dem Hintergrund der bestehenden
grundgesetzlichen Kulturhoheit der Länder sowie dem Kollegialitäts- und
Ressortprinzip innerhalb der Bundesregierung?

c) Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass der Bundesver-
band deutscher Banken e. V. ein geeigneter und insbesondere die notwen-
dige Neutralität wahrender Akteur für die Erhebung einer Umfrage aus
dem Jahr 2011 zum Stellenwert ökonomischer Sachverhalte im Schul-
unterricht (vgl. Monatsbericht 05-2012: Ökonomische Bildung an allge-
mein bildenden Schulen, S. 1) ist?

d) Wurde die vorbezeichnete Studie „Ökonomische Bildung an allgemein
bildenden Schulen“ (Monatsbericht 05-2012) durch die Bundesregierung
gefördert?
Wenn ja, mit welchen Haushaltsmitteln aus welchen Haushaltstiteln?

e) Mit welcher Summe aus welchem Haushaltstitel auf wessen Veranlassung
und aus welchem Grund wurde im Jahr 2010 die Studie „Unternehmer-
geist in die Schulen“ finanziert?
Wer erstellte die Studie, und wurde das BMBF, die bpb, das BIBB, die
KMK oder die Kultusministerien der Länder in die Erarbeitung der Studie
einbezogen?
Wenn ja, mit welchem Ergebnis?
Wenn nein, warum nicht?

f) Inwiefern sieht die Bundesregierung eine Notwendigkeit, neben den be-
reits vorhandenen Angeboten zur Ökonomischen Bildung (etwa Fortbil-
dungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer der bpb) private Wirtschafts-
unternehmen Zugang zu Schulen zu ermöglichen, um dort ökonomische
Bildung über die Bereitstellung ihrer Unterrichtsmaterialien zu prägen?

4. In welchen Bundesländern gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung auf
welcher gesetzlichen Grundlage ein Produktwerbungsverbot für Schulen,
und inwieweit unterstützt die Bundesregierung ein solches Verbot aus recht-
licher und bildungspolitischer Perspektive?
a) Inwiefern hat die Bundesregierung Kenntnis darüber, dass das Portal

„Business Schoolgames“ von der Deutschen Telekom AG, Pricewater-
houseCoopers AG, der Allianz, der EDEKA ZENTRALE AG & Co. KG
sowie der Deutschen Bank AG hauptsächlich gesponsert, und von weite-
ren 22 Unternehmen gefördert wird?

b) Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass vor diesem Hin-
tergrund noch von einer interessenfreien und dem Produktwerbungsverbot
an Schulen entsprechenden Initiative ausgegangen werden kann?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2297
c) Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das Unterrichts-
material dieser Initiative den Vorgaben des Beutelsbacher Konsenses ent-
spricht?

5. Welche Strategie verfolgt die Bundesregierung künftig unter Beachtung der
Kultushoheit der Länder bei der Bewertung an sie herangetragener interes-
sengeleiteter Unterrichtsmaterialien und Initiativen?
Auf welche Weise will sie dazu beitragen, das Kontroversitätsgebot zu wah-
ren und die politische Neutralität von Schule im Rahmen einer humanisti-
schen Werteerziehung im Sinne des GG sowie die Bildungshoheit der Länder
zu stärken?
Welches Bundesministerium ist nach Ansicht der Bundesregierung dafür
fachlich und sachlich federführend zuständig?

Berlin, den 30. Juli 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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