BT-Drucksache 18/2249

Entwicklung der Kaiserschnittrate

Vom 30. Juli 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2249
18. Wahlperiode 30.07.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Wöllert, Sabine Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping,
Cornelia Möhring, Harald Petzold (Havelland), Azize Tank, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg, Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Entwicklung der Kaiserschnittrate

Die Entbindung durch Kaiserschnitt erhält vielen Frauen und Kindern Leben
und Gesundheit. Allerdings sollten Kaiserschnitte aus medizinischen Gründen
vorgenommen werden. Denn – auch wenn die Risiken des Kaiserschnitts in den
letzten Jahrzehnten weiter gesunken sind – eine Geburt per Kaiserschnitt bleibt
im Vergleich zur Vaginalgeburt mit gesundheitlichen Belastungen und Risiken
für Mutter und Kind verbunden und kann sich negativ auf mögliche weitere
Geburten der betreffenden Frau auswirken (https://kaiserschnitt.faktencheck-
gesundheit.de/).
Mit einer Kaiserschnittrate von aktuell circa 31,9 Prozent nimmt Deutschland
international einen vorderen Platz ein, während die skandinavischen Länder
Finnland und Schweden lediglich eine Quote von 16,2 Prozent aufweisen (Ant-
wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.,
„Wirtschaftliche Lage der Hebammen und Entbindungspfleger“, Bundestags-
drucksache 18/900, S. 10).
Zudem gibt es innerhalb Deutschlands starke regionale Unterschiede bei der
Höhe der Kaiserschnittrate, die medizinisch nicht erklärbar sind. In Dresden
liegt die Kaiserschnittrate bei 16,9 Prozent, im Kreis Landau in der Pfalz bei
50,7 Prozent (https://kaiserschnitt.faktencheck-gesundheit.de/interaktive-karten/;
www.welt.de/gesundheit/article112807960/Wann-Babys-per-OP-zur-Welt-
kommen-sollten.html). Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Ge-
burtshilfe e. V. (DGGG) geht sogar davon aus, dass „nur zehn Prozent der Kai-
serschnitte“ aufgrund „einer tatsächlichen Gefährdung von Mutter oder Kind“
erfolgen (www.welt.de/gesundheit/article123432872/Wo-die-Spontangeburt-
zur-exotischen-Ausnahme-wird.html).
Handlungsbedarf sehe Prof. Dr. Petra Kolip u. a. bei den medizinischen Leit-
linien, die „häufig keine ausreichende Orientierung für die Geburtshelferinnen
und -helfer bieten, da sie entweder veraltet, zu unkonkret oder gar nicht vorhan-
den sind“ (https://kaiserschnitt.faktencheck-gesundheit.de/fileadmin/daten_fcg/
Downloads/Pressebereich/FCKS/Report_Faktencheck_Kaiserschnitt_2012.pdf).
Um dem Trend in der Versorgungsrealität hin zu mehr Kaiserschnitten entgegen-
zusteuern, werden „eine Weiterentwicklung der Evidenz und die konsequente
Orientierung an evidenzbasierten Leitlinien“ und die „Erarbeitung einer S3-
Leitlinie für besondere Konstellationen wie bspw. Beckenendlagen“ etc. emp-
fohlen (ebd., S. 88).

Drucksache 18/2249 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Wir fragen die Bundesregierung:
Internationale Situation
1. Wie hoch waren die Geburtenrate, die Säuglingssterblichkeit sowie die Le-

benserwartung in Deutschland und nach Kenntnis der Bundesregierung in
den EU-Ländern sowie Norwegen, den USA und Neuseeland in den Jahren
1995, 2000, 2005, 2010 und 2012?

2. Wie hoch waren nach Kenntnis der Bundesregierung die Kaiserschnittraten
in den EU-Ländern sowie in Norwegen, den USA und Neuseeland in den
Jahren 1995, 2000, 2005, 2010 und 2012?

3. Welche Gründe sieht die Bundesregierung für die niedrigeren Kaiserschnitt-
raten in den skandinavischen Ländern?

4. Welche Kenntnisse aus anderen Ländern über ähnlich regionale Differenzen
bei den Kaiserschnittraten wie in Deutschland und gegebenenfalls auch über
deren Gründe liegen der Bundesregierung vor?

5. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung die von der World Health Organi-
zation (WHO) im Jahr 1985 formulierte Empfehlung, der zufolge es „kei-
nerlei Rechtfertigung für eine Kaiserschnittrate über 10 bis 15 Prozent“ gibt
(www.hebammenfuerdeutschland.de, WHO-Empfehlungen zur normalen
Geburt – 1995), derzeit noch im Kraft?
Falls nein, wann und aus welchen Gründen hat nach Kenntnis der Bundes-
regierung die WHO von dieser Aussage Abstand genommen?
Situation in Deutschland
6. Was sind aus Sicht der Bundesregierung die Gründe für die höhere Kaiser-

schnittrate in Deutschland, und kann die Bundesregierung ausschließen,
dass sie mit durch die Fallpauschalen in Krankenhäusern gegebenenfalls ge-
setzten Anreize zur Mengenausweitung zu tun hat?

7. Liegen der Bundesregierung Zahlen der auf Wunsch durchgeführten Kaiser-
schnitte vor?

8. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung von Prof. Dr. Petra Kolip u. a.,
dass „nur zehn Prozent der Kaiserschnitte“ aufgrund „einer tatsächlichen
Gefährdung von Mutter oder Kind“ vorgenommen werden?
Wenn nein, aufgrund welcher wissenschaftlicher Untersuchungen kommt
sie zu ihrer Einschätzung?

9. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung von Prof. Dr. Petra Kolip u. a.,
dass die über das medizinisch notwendige Maß hinausgehende Kaiser-
schnittrate Resultat des regional unterschiedlichen und teilweise groß-
zügigen Ausschöpfens der „Entscheidungsspielräume bei ‚weichen‘ Kaiser-
schnitt-Indikationen“ ist (wenn nein, bitte mit Bezug auf wissenschaftliche
Untersuchungen begründen)?

10. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung folgende Passage zu verstehen,
die Punkt 2.2 der Leitlinie „Absolute und relative Indikationen zur Sectio
caesarea“ der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe
e. V. (DGGG) vom August 2010 entnommen ist: „Als Sectio auf Wunsch
(auch ‚Sectio kraft Vereinbarung‘ oder ‚Gefälligkeitssectio‘ genannt) bleibt
hiernach begrifflich nur der Fall, in dem keine medizinische Indikation er-
sichtlich ist. In Betracht kommen die Fälle, in denen aus beruflichen oder
terminlichen Gründen Zeit und Ort der Entbindung im Voraus fest bestimm-
bar sein sollen (z. B. Tag der Jahrtausendwende oder Geburt unter einem
günstigen Horoskop) oder die Teilnahme des Partners gewünscht wird, der
zeitlich nicht frei verfügbar ist“ (www.awmf.org/uploads/)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2249
11. Seit wann und warum überarbeitet nach Kenntnis der Bundesregierung die
DGGG die Leitlinie „Absolute und relative Indikationen zur Sectio caesa-
rea“ vom August 2010?
Wann wird nach Kenntnis der Bundesregierung die genannte Leitlinie der
DGGG in überarbeiteter Form wieder zur Verfügung stehen?

12. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung eine Alternative zur in Frage 10
genannten Leitlinie?
Falls eine solche existiert, enthält diese ebenfalls zu prüfende Voraussetzun-
gen (wie sie die genannte und in Überarbeitung befindliche Leitlinie in
Punkt 3.5.1 enthält), unter denen eine Sectio auf Wunsch durchzuführen ist?
Falls keine solche alternative Leitlinie existiert, woran können oder sollten
sich Gynäkologinnen und Gynäkologen bei der Entscheidung über die Art
der Geburt nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell orientieren?

13. Sind die Leitlinien in ihrer aktuellen Fassung nach Einschätzung der Bun-
desregierung geeignet, die Kaiserschnittrate zu senken?

14. Welche juristischen Aspekte bzw. welche juristischen Entwicklungen in der
„Rechtsprechung und Rechtslehre“ haben nach Kenntnis der Bundes-
regierung die DGGG nach dem Jahr 1996 dazu veranlasst, ihren bis dahin
eingenommenen Standpunkt zu ändern, dass jede Sectio „neben der Einwil-
ligung der Schwangeren einer ausreichenden medizinischen Indikation“ be-
darf (DGGG: Absolute und relative Indikationen zur Sectio ceasarea, Stand:
August 2010, S. 9, siehe dazu auch Prof. Dr. Petra Kolip, S. 94)?

15. Verfügt die Bundesregierung über Hinweise oder Erkenntnisse, dass sich die
von Prof. Dr. Petra Kolip u. a. beschriebene Situation, dass „die Nachfrage
der Schwangeren nach einer individuellen 1:1-Betreuung während Schwan-
gerschaft und Geburt das derzeitige Angebot der Hebammen übersteigt“
(ebd., S. 85), inzwischen verbessert hat?
Wenn ja, welche?

16. Wie hoch war nach Kenntnis der Bundesregierung in den letzten zehn Jah-
ren der Anteil der Geburten die unter einer 1:1-Betreuung durch Hebammen
stattfanden (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?

17. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung von Prof. Dr. Petra Kolip u. a.,
dass „eine früh einsetzende Betreuung durch Hebammen die Kaiserschnitt-
rate leicht verringert“ (ebd., S. 89)?
Wenn nein, worauf basiert die Einschätzung der Bundesregierung?

18. Teilt die Bundesregierung die Erkenntnis von Prof. Dr. Petra Kolip u. a., dass
bei „Frauen, die eine Beleghebamme vor der Geburt wählen und von dieser
bei der Geburt ausschließlich in einem 1:1-Verhältnis betreut werden“, „eine
um zwei Prozentpunkte geringere Kaiserschnittrate zu beobachten“ ist (ebd.,
S. 85), wenn nein, bitte begründen?
Handlungsbedarf in Deutschland
19. Sieht die Bundesregierung in Deutschland generell Forschungsbedarf zum

Thema Kaiserschnittraten?
Wenn ja, welchen Fragen sollte die Forschung nachgehen?

20. Welche Maßnahmen hält die Bundesregierung für notwendig, um in
Deutschland die Kaiserschnittrate zu senken?
Welche Akteure sollten nach Ansicht der Bundesregierung auf welche
Weise tätig werden?

Drucksache 18/2249 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
21. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung in Deutschland mit
Blick auf die niedrigeren Kaiserschnittraten in skandinavischen Ländern?
Welche Akteure sollten nach Ansicht der Bundesregierung auf welche
Weise tätig werden?

22. Sieht die Bundesregierung in Deutschland einen Handlungsbedarf, wie er
von Prof. Dr. Petra Kolip und anderen an der Studie Beteiligten formuliert
wurde, denen zufolge Maßnahmen erforderlich sind, um „die Zahl der Kai-
serschnittgeburten zukünftig auf das medizinisch notwendige Maß zu be-
schränken“ (ebd., S. 87)?
Falls nein, warum nicht?

23. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung von Prof. Dr. Petra Kolip u. a.,
dass die „Leitlinien dringend (weiter-)entwickelt werden müssen“, um Ge-
burtshelferinnen und -helfern mehr Sicherheit zu geben (ebd., S. 88)?

24. Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der derzeitige Stand der Leit-
linienentwicklung?
Wen sieht die Bundesregierung hier als verantwortliche Akteure?
Welche Schritte haben die Bundesregierung oder nach Kenntnis der Bundes-
regierung andere Akteure seit Erscheinen der Studie unternommen, damit
die Empfehlungen der Studie umgesetzt werden?

25. Stimmt die Bundesregierung der Einschätzung von Prof. Dr. Petra Kolip
u. a. zu, dass „eine Stabilisierung der Rolle der Hebammen in der Geburts-
begleitung“ eine sinnvolle Maßnahme ist (ebd., S. 8)?
Wie ist nach Kenntnis der Bundesregierung der derzeitige Stand in dieser
Frage?
Wen sieht die Bundesregierung hier als verantwortliche Akteure?
Welche Schritte haben die Bundesregierung oder nach Kenntnis der Bun-
desregierung andere Akteure seit Erscheinen der Studie unternommen, da-
mit die Empfehlungen der Studie umgesetzt werden?

26. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung hinsichtlich der Ver-
besserung der Möglichkeit, während der Ausbildung zur Hebamme oder
zum Geburtspfleger bzw. zur Geburtsmedizinerin oder zum Geburtsmedizi-
ner in realen Geburtssituationen oder an Simulatorpuppen die Betreuung der
vaginalen Geburt in Risikokonstellationen zu erlernen?
Welche Schritte haben die Bundesregierung oder nach Kenntnis der Bun-
desregierung andere Akteure seit Erscheinen der Studie unternommen, da-
mit die Empfehlungen der Studie umgesetzt werden?

Berlin, den 30. Juli 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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