BT-Drucksache 18/2054

Mobilfunkindustrie und objektiver Strahlenschutz

Vom 25. Juni 2014


Deutscher Bundestag Drucksache 18/2054
18. Wahlperiode 25.06.2014
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Annette Groth, Ralph Lenkert, Herbert Behrens, Karin
Binder, Eva Bulling-Schröter, Heike Hänsel, Dr. André Hahn, Inge Höger,
Dr. Alexander S. Neu, Kersten Steinke, Kathrin Vogler, Hubertus Zdebel,
Sabine Zimmermann (Zwickau) und der Fraktion DIE LINKE.

Mobilfunkindustrie und objektiver Strahlenschutz

Mobile Endgeräte haben die Verbreiterung der Internetnutzung rasant vorange-
bracht. Laut einer Studie von ARD und ZDF waren User in Deutschland im Jahr
2013 durchschnittlich 169 Minuten am Tag online, 36 Minuten mehr als im Vor-
jahr. Die mobile Internetnutzung hat sich dabei fast verdoppelt: im Jahr 2012
waren 23 Prozent der Bundesbürger kabellos online, im Jahr 2013 bereits 41 Pro-
zent (vgl. www.ard-zdf-onlinestudie.de/). Daneben erfolgt eine Zunahme elek-
tromagnetischer Strahlung durch die Power-Line-Communication.
Zugleich verdichten sich die Hinweise auf gesundheitsschädigende Auswirkun-
gen elektromagnetischer Strahlung. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation
hochfrequente elektromagnetische Felder als „möglicherweise krebserregend“
eingestuft und ein Gerichtsurteil in Italien Mobilfunkstrahlung als ursächlich für
Gesundheitsschäden benannt hatte (Swiss Re Sonar: Emerging Risks Insights,
S. 11), ordnete der Rückversicherer Swiss Re im Juni 2013 den Mobilfunk in die
höchste Kategorie „potentieller Risiken“ ein: Hohe Schadensersatzforderungen
könnten die Folge sein, wenn zukünftig ein Zusammenhang zwischen Mobil-
funkstrahlung und Gesundheitsbeschwerden nachgewiesen werde (vgl. Swiss
Re Sonar: Emerging Risks Insights, S. 11). Tatsächlich wird mittlerweile laut
der britischen Zeitung „The Independent“ in fast der Hälfte der globalen Studien
zum Thema ein solcher Zusammenhang konstatiert: Hinsichtlich der Frage, ob
Handys ein Gesundheitsrisiko darstellen oder nicht, stehe es in der Forschung
etwa 50:50. Das Verhältnis erschiene jedoch in einem anderen Licht, wenn die
Geldgeber mitberücksichtigt würden, denn etwa drei Viertel der entwarnenden
Studien sind von der Mobilfunkindustrie finanziert (vgl. den Bericht „A close
call: Why the jury is still out on mobile phones“ vom 24. April 2012).
So entsteht der Eindruck, dass die Industrie die Deutungshoheit hat, was die wis-
senschaftliche Forschung und damit auch die politischen Maßnahmen zum
Strahlenschutz angeht. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sehen auch
die bundesdeutschen Strahlenschutzregelungen als unzureichend an und bekla-
gen personelle Verflechtungen zwischen Behörden und Mobilfunkindustrie
(www.diagnose-funk.org/assets/df_bp_dmf_2011-01-12.pdf). Zudem müssten
alternative drahtlose Kommunikationstechniken stärker in den Blick genommen
werden.

Drucksache 18/2054 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche Mittel hat die Bundesregierung in den letzten zehn Jahren für wel-

che Forschungsarbeiten zu den Auswirkungen von Mobilfunkstrahlung auf
Menschen, Tiere und Pflanzen (bitte nach Jahr, Fördersumme und Förder-
zwecke einzeln aufschlüsseln) zur Verfügung gestellt?

2. Welche privaten Geldgeber sind nach Wissen der Bundesregierung mit wel-
chen Anteilen an der Finanzierung dieser öffentlich geförderten For-
schungsarbeiten beteiligt?

3. Welche Mittel stellt die Bundesregierung für die Erhebung und Veröffent-
lichung von Expositionswerten jährlich bereit?

4. Welche privaten Geldgeber sind nach Wissen der Bundesregierung an der
Ermittlung von realen Expositionswerten sowie der Aufklärung der Bevöl-
kerung durch die Bereitstellung von allgemeinen Informationen zum Mobil-
funk beteiligt?

5. Welche Unternehmen, Institutionen oder Einrichtungen wurden nach
Kenntnis der Bundesregierung mit der Durchführung und Auswertung der
Ermittlung von realen Expositionswerten in den letzten fünf Jahren beauf-
tragt?

6. Welche Mittel stellt die Bundesregierung für die Aufklärung der Bevölke-
rung über Risiken der Mobilfunkstrahlung zur Verfügung?

7. Welche Maßnahmen und Veröffentlichungen zur Aufklärung der Bevölke-
rung über die Risiken der Mobilfunkstrahlungen wurden nach Kenntnis der
Bundesregierung in den letzten fünf Jahren konkret durchgeführt?

8. Welche privaten Einrichtungen sind nach Kenntnis der Bundesregierung an
der Durchführung von konkreten Maßnahmen und Veröffentlichungen zur
Aufklärung der Bevölkerung über die Risiken der Mobilfunkstrahlungen
beteiligt?

9. Wie viele Genehmigungen hat die Bundesregierung in den letzten fünf Jah-
ren für Behördenmitarbeiterinnen bzw. Behördenmitarbeiter erteilt, die eine
Nebenbeschäftigung in der Mobilfunkindustrie ausüben (bitte nach Jahr und
Unternehmen aufschlüsseln)?

10. Gerät nach Auffassung der Bundesregierung die Unabhängigkeit der ge-
mischt finanzierten Mobilfunkforschung, die dadurch gewährleistet sein
soll, dass staatliche Behörden die fachliche und administrative Durchfüh-
rung der Studien und Forschungsprogramme übernehmen, in Gefahr, sobald
einzelne Behördenmitarbeiterinnen bzw. Behördenmitarbeiter Doppelfunk-
tionen in Staat und Mobilfunkindustrie ausüben?

11. Sieht die Bundesregierung in der Doppelfunktion von Dr. Christian Born-
kessel, der Mitglied der Strahlenschutzkommission (SSK) ist und zugleich
als Mitarbeiter bei der IMST GmbH geführt wird, die sich laut Internetauf-
tritt als „Systemhaus für Funksysteme“ bezeichnet und jüngst im Auftrag
des Informationszentrums Mobilfunk e. V. (IZMF) eine Pilotstudie zur Mes-
sung der Immissionen an LTE-Basisstationen durchführte (vgl. Vorbemer-
kung der Fragesteller, www.diagnose-funk.org), eine Gefahr für das Neu-
tralitätsprinzip bzw. die wissenschaftlichen Grundprinzipien?

12. Sieht die Bundesregierung in der Doppelfunktion der Leiterin des Referats
RS II 4 „Medizinisch-biologische Angelegenheiten des Strahlenschutzes“
im Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit und zugleich Mitglied im Beirat der IZMF, eine Gefahr für das Neutra-
litätsprinzip bzw. die wissenschaftlichen Grundprinzipien?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/2054
13. Welche weiteren Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter in Bundesbehörden, die
mit Fragen des Strahlenschutzes befasst sind, haben nach Kenntnis der Bun-
desregierung zugleich Funktionen (bezahlte Tätigkeiten, Ehrenämter u. a.)
im IZMF, einer Lobbyorganisation der Mobilfunkbetreiber?

14. Welche weiteren Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter in Bundesbehörden, die
mit Fragen des Strahlenschutzes befasst sind, haben nach Kenntnis der Bun-
desregierung zugleich Funktionen (bezahlte Tätigkeiten, Ehrenämter u. a.)
an anderer Stelle in der Kommunikationsindustrie, ihren Verbänden und
Interessenorganisationen?

15. Wie viele in den letzten zehn Jahren mit Fragen des Strahlenschutzes befass-
ten Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter in Bundesbehörden haben nach
Kenntnis der Bundesregierung vor ihrer Tätigkeit im Staatsdienst in der
Kommunikationsindustrie, ihren Verbänden und Interessenorganisationen
gearbeitet (bitte nach Jahr und Unternehmen aufschlüsseln)?

16. Wie viele mit Fragen des Strahlenschutzes befassten Mitarbeiterinnen bzw.
Mitarbeiter in Bundesbehörden haben nach Kenntnis der Bundesregierung
nach ihrer Tätigkeit im Staatsdienst in Beschäftigungen bei der Kommuni-
kationsindustrie, ihren Verbänden und Interessenorganisationen gewech-
selt?

17. Welche Lobbyorganisationen der Kommunikationsindustrie sind nach
Kenntnis der Bundesregierung in Berlin ansässig?

18. Waren Vertreterinnen bzw. Vertreter der Kommunikationsindustrie an der
Ausarbeitung der Sechsundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes (26. BImSchV) und anderen gesetz-
lichen Regelungen zum Strahlenschutz beteiligt?
Wenn ja, welche, und was war ihre konkrete Beteiligung?

19. Sind an der Ausarbeitung der 26. BImSchV und anderen gesetzlichen Rege-
lungen zum Strahlenschutz mobilfunkkritische NGOs, wie Diagnose-Funk –
Umwelt- und Verbraucherorganisation zum Schutz vor elektromagnetischer
Strahlung e. V., Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V.
(BUND), Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und
Demokratie e. V., beteiligt oder in anderer Weise in den Meinungsbildungs-
prozess der Bundesregierung einbezogen worden?

20. Begrüßt bzw. fördert die Bundesregierung den Kontakt zwischen dem
IZMF einerseits und den Kommunen und Erziehungseinrichtungen anderer-
seits, für die das IZMF bundesweit Beratungsseminare durchführt (www.
izmf.de/de/content/projekte-veranstaltungen)?
Wenn ja,
a) wie stellt die Bundesregierung sicher, dass auch industrieunabhängige

Meinungen gleichberechtigt den Kommunen und Erziehungseinrichtun-
gen zugänglich sind,

b) wie viele Beratungsseminare fanden nach Wissen der Bundesregierung
in den letzten fünf Jahren in Baden-Württemberg und speziell im Boden-
seekreis statt, und in welchen Einrichtungen wurden diese durchgeführt,

c) wer hat nach Wissen der Bundesregierung diese Beratungsseminare fi-
nanziert, und gab es für die Teilnehmenden finanzielle Vergütungen oder
Entschädigungen?

Drucksache 18/2054 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
21. Wird nach Auffassung der Bundesregierung die Strahlenschutzkommission
in ihrer derzeitigen Zusammensetzung dem § 3 Absatz 1 ihrer Satzung („Um
eine ausgewogenen Beratung sicherzustellen, soll die Strahlenschutzkom-
mission so besetzt sein, dass die gesamte Bandbreite der nach dem Stand der
Wissenschaft und Technik vertretbaren Anschauungen repräsentiert ist.“)
gerecht?

22. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung in der Strahlenschutzkommis-
sion Mitglieder, die Positionen der kritischen Mobilfunkforschung teilen
(z. B. dass gesundheitsschädigende Auswirkungen von Mobilfunkstrahlung
auch unterhalb der geltenden Grenzwerte zu befürchten sind, dass zusätz-
liche Maßnahmen zum Schutz von Schwangeren, Kindern, Jugendlichen
und Langzeitnutzern nötig sind, dass nichtthermische Effekte im Niedrig-
dosisbereich berücksichtigt werden müssen etc.), und wenn ja, welche?

23. Welche wirtschaftlichen und technischen Folgen hätte nach Einschätzung
der Bundesregierung eine Absenkung des Grenzwerts für Hochfrequenzim-
missionen auf einen Schutzwert von 100 µW/m2 (0,2 V/m), für die bei-
spielsweise die Umweltorganisation BUND plädiert (www.bund.de „Für
zukunftsfähige Funktechnologien“)?

24. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem Sachverhalt, dass der Rückversicherer Swiss Re im Juni 2013 den
Mobilfunk in die höchste Kategorie „potentieller Risiken“ für Versicherer
eingeordnet hat?

25. Welche Folgen können sich nach Einschätzung der Bundesregierung erge-
ben, wenn Mobilfunkunternehmen sich vor Krankheitsrisiken durch Strah-
lung nicht bei privaten Versicherungsgesellschaften absichern können, v. a.
für den Fall, dass zukünftig ein Zusammenhang zwischen Mobilfunkstrah-
lung und Gesundheitsbeschwerden wissenschaftlich nachgewiesen werden
könnte?
Mit welchen Schadensersatzforderungen wäre zu rechnen, und wer müsste
dafür aufkommen?

26. Was sind die konkreten Grundlagen für die Bewertung der Bundesregie-
rung, dass bei der „Grenzwertfestlegung (…) einer Schutzbedürftigkeit mög-
licherweise empfindlicherer Bevölkerungsgruppen Rechnung getragen“
(Bundestagsdrucksache 17/14646) wurde, wenn sie selbst konstatiert, dass
bezüglich der Gefährdung von Kindern und Jugendlichen sowie von Lang-
zeitnutzern weiterhin wissenschaftliche Unsicherheiten und Forschungsbe-
darf besteht (vgl. auch Bundestagsdrucksachen 16/10085 und 17/6575)?

27. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus der Meldung der Tageszeitung „The Independent“ (siehe Vorbemerkung
der Fragesteller), dass die britische Statistikbehörde zwischen den Jahren
1999 und 2009 eine 50-prozentige Zunahme von Tumoren in den Frontal-
und Temporallappen festgestellt habe, welche die anfälligsten Bereiche im
Gehirn für die von Handys ausgehende elektromagnetische Strahlung seien?
a) Schließt die Bundesregierung aus, dass Handynutzung als eine mögliche

Erklärung für diese Zunahme in Betracht gezogen werden muss?
Wenn nein, welche Maßnahmen hält sie für geboten?

b) Ist auch in Deutschland eine Zunahme solcher Tumore zu verzeichnen
(wenn ja, bitte Zunahmen quantifizieren)?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 5 – Drucksache 18/2054
28. Welche Ergebnisse/Zwischenergebnisse sind der Bundesregierung von dem
Pilotprojekt zur LED-lichtbasierten Visible Light Communication in der
Gemeinde Wüstenrot in Baden-Württemberg bekannt?
a) Sieht die Bundesregierung in der Internetnutzung via LED-Lampe eine

gangbare Alternative zu gängigen Mobilfunktechnologien?
b) Welches Potential haben LED-basierte Kommunikationstechniken im

Vergleich zum Mobilfunk nach Auffassung der Bundesregierung, was
die Möglichkeiten für gesundheitsverträgliche und (wenn auch eng
räumlich begrenzt) abhörsichere Datenübertragung angeht?

29. Wie viele Mobilfunkanlagen gab es nach Kenntnis der Bundesregierung in
Baden-Württemberg und speziell im Bodenseekreis in den Jahren 1993,
2003 und 2013?

30. Da die Kommunen laut § 7a der 26. BImSchV „bei der Auswahl von Stand-
orten für Hochfrequenzanlagen, die nach dem 22. August 2013 errichtet
werden, von den Betreibern gehört“ sowie „Möglichkeiten zur Stellung-
nahme und zur Erörterung der Baumaßnahme“ erhalten müssen, welche
Kommunen in Baden-Württemberg und speziell im Bodenseekreis haben
nach Kenntnis der Bundesregierung bisher von diesen Rechten Gebrauch
gemacht, und mit welchem Ausgang?

31. Wie viele Studien sind der Bundesregierung bekannt, die den Zusammen-
hang von Mobilfunksendeanlagen und Krebserkrankungen bei der im nähe-
ren Umfeld wohnenden Bevölkerung in Deutschland behandeln?
Sieht die Bundesregierung hier zusätzlichen Forschungsbedarf (bitte Auf-
fassung begründen)?

32. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem Sachverhalt, dass LTE-Mobilfunktechnologie zukünftig den ge-
samten Autoverkehr vernetzen soll und Neuwagen heute bereits mit kabel-
loser Technologie auf LTE- und WLAN-Basis ausgerüstet werden?
a) Liegen der Bundesregierung Forschungsstudien darüber vor, welche

Auswirkungen die Dauerbestrahlung im Auto auf die Insassen hat?
b) Hat die Bundesregierung datenschutzrechtliche Bedenken, was die damit

verbundene Erstellung von Bewegungsprofilen, Datensammlung zu
Fahrverhalten etc. angeht?

33. Wie schätzt die Bundesregierung den Stellenwert der aus der Power-Line-
Communication (PLC) stammenden elektromagnetischen Strahlung im
Verhältnis zur Mobilfunkstrahlung in gesundheitlicher und technischer Hin-
sicht zum aktuellen Zeitpunkt und für das Jahr 2050 ein?

34. Welche Studien sind der Bundesregierung zur PLC bekannt, und welche
Studien hat die Bundesregierung in Auftrag gegeben?

35. Sind der Bundesregierung Klagen professioneller Funkdienste und der
Amateurfunker zu Störungen aus der PLC-Technik bekannt, und welchen
Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung?

Berlin, den 24. Juni 2014

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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