BT-Drucksache 18/150

Das "Stockholmer Programm" der Europäischen Union und Gespräche über dessen Nachfolge für die Bereiche Inneres und Justiz

Vom 28. November 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 18/150
18. Wahlperiode 28.11.2013
Kleine Anfrage
der Abgeordneten Andrej Hunko, Christine Buchholz, Annette Groth, Dr. André
Hahn, Thomas Nord, Frank Tempel, Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Das „Stockholmer Programm“ der Europäischen Union und Gespräche über
dessen Nachfolge für die Bereiche Inneres und Justiz

Die Europäische Union will nächstes Jahr neue „strategische Richtlinien“ für
den Bereich Justiz und Inneres festlegen. Es geht dabei um die Erneuerung des
„Stockholmer Programms“, das im Jahr 2009 in Kraft getreten ist und den Rah-
men für zahlreiche Maßnahmen der Polizeizusammenarbeit bildet (Ratsdoku-
ment 17024/09). Hierzu gehören die Bekämpfung unerwünschter Migration, der
Ausbau polizeilicher EU-Agenturen, die Einrichtung von Datenbanken und die
polizeiliche Nutzung digitaler Kommunikation. Dem „Stockholmer Programm“
gingen das „Tampere-Programm“ (1999 bis 2004) und das „Haager Programm“
(2005 bis 2009) voraus. Der Name dieser Fünfjahrespläne orientiert sich an den
Hauptstädten jener Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die bei ihrer Ver-
abschiedung die Präsidentschaft innehaben. Demnach könnte im Jahr 2014 das
„Rom Programm“ beschlossen werden.
Allerdings ist unklar, ob das Format des Fünfjahresplans beibehalten wird. Denn
mit dem Vertrag von Lissabon ist das Prinzip der Einstimmigkeit des EG-Vertra-
ges durch ein Mehrheitsverfahren abgelöst worden. Das Initiativrecht auch im
Bereich Inneres und Justiz ging fast ausschließlich auf die Europäische Kom-
mission über. Artikel 68 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen
Union sieht vor, dass der Europäische Rat fortan „strategische Leitlinien“ er-
lässt, die dann für die gesetzgeberische und operative Tätigkeit grundlegend sein
sollen. Dem folgend hat die Europäische Union die „Strategie für die Innere
Sicherheit“ verabschiedet. In Vilna kamen die Innenminister der Europäischen
Union überein, als Nachfolge des „Stockholm Programms“ wieder „strategische
Ziele“ zu formulieren (Pressemitteilung der Ratspräsidentschaft Litauen, 29. Juli
2013). Beispielsweise soll die Kooperation unter den Institutionen der Europä-
ischen Union weiter ausgebaut werden. Hierzu gehören die kriminalpolizeiliche
Agentur Europol (Europäisches Polizeiamt), die Agentur für die justizielle
Zusammenarbeit Eurojust (Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europä-
ischen Union) sowie grenzüberschreitende Polizeieinsätze und Datentausch
über den Vertrag von Prüm. Auch die Finanzierung derartiger Maßnahmen soll
verbessert werden. Angeregt wird der zunehmende Einsatz von Informations-
technologie im Bereich der Justizzusammenarbeit. Auch soll die „Europäische
Ermittlungsanordnung“ zügig verabschiedet werden. Dann könnte das Abhören
von Telekommunikation oder der polizeiliche Einsatz von Trojaner-Program-
men grenzüberschreitend angeordnet werden.
Anlässlich der Verhandlungen um das „Stockholmer Programm“ hatte der da-
malige deutsche Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble, unter deut-
scher Präsidentschaft im Jahr 2007 die sogenannte Zukunftsgruppe (Future

Drucksache 18/150 – 2 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
Group) eingerichtet (Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern,
24. September 2008). Dieser informelle Stammtisch war keinem Gremium
rechenschaftspflichtig und hatte nach Ansicht der Fragesteller zum Ziel, den
kommenden Fünfjahresplan im deutschen Sinne zu beeinflussen. Teilnehmer
waren zwei sogenannte Trio-Präsidentschaften, also jene Regierungen, die in
den Jahren 2007 bis 2009 den EU-Vorsitz innehatten. Die Treffen der Gruppe
waren nicht öffentlich, Protokolle oder Mitschriften von Sitzungen existieren
nicht. Damals veröffentlichte die portugiesische Regierung ein Vorabkonzept
für die „Future Group“. Die Rede war von der polizeilichen Nutzung des „Inter-
nets der Dinge“: „Eine offensichtliche Umsetzung ist die Möglichkeit, den
Standort von jedem aktiven Handy zu verfolgen (und zu wissen, wo sie zuletzt
aus- und eingeschaltet waren). Dies ist nur der Anfang. In den nächsten Jahren
werden Milliarden von Elementen der physischen Welt miteinander verbunden,
darunter Technologien wie Radio Frequency Identification (RFID), drahtloses
Breitband (WiFi, WiMAX), satellitengestützte und kleinere drahtlose Systeme
(Bluetooth, Wireless USB, ZigBee). Dies bedeutet, dass mehr und mehr Objekte
in Echtzeit verfolgt werden können und ihre Bewegung und Aktivität auch nach-
träglich analysiert werden kann“ (Concept paper on the European strategy to
transform Public security organizations in a Connected World, Portugiesische
EU-Ratspräsidentschaft 2007). In dem Papier wird erörtert, auch Fahrzeuge mit
neuer Technologie zu verfolgen. Gemeint sind in Autos fest verbaute SIM-Kar-
ten, deren Daten wie Handys bei den Providern abgefragt werden können. Die
Auswertung solcher Informationen würde laut den Innenministern ermöglichen,
Muster und soziale Netzwerke aufzuspüren. „Experten für die öffentliche
Sicherheit“ könnten daraus sogar zukünftige Ereignisse verhindern – ein klares
Votum für den Einsatz von Data Mining und sogenannter Preventive Analytics.
Im Vorabkonzept der portugiesischen Regierung war auch davon die Rede,
Finanzermittlungen zu intensivieren. Denn ebenso wie Daten aus der digitalen
Kommunikation böten finanzielle Transaktionen die Möglichkeit, in Echtzeit
und im Nachhinein wichtige Informationen über deren Nutzer zu generieren.
Ähnliches gelte für biometrische Anwendungen, die zunehmende Sicherheit an
öffentlichen Orten versprächen.
Im späteren Abschlussbericht der „Future Group“ wurde vom „Digitalen Tsu-
nami“ gesprochen, den sich Polizeien zunutze machen sollten: „Information ist
der Schlüssel zum Schutz der Bürger in einer zunehmend vernetzten Welt, in der
Sicherheitsbehörden Zugang zu schier grenzenlosen Mengen an potenziell nütz-
lichen Informationen haben werden. Dies ist sowohl eine Herausforderung als
auch eine Chance. Sicherheitsbehörden müssen ihre Arbeitsweise ändern, wenn
sie diese Datenflut bewältigen und Erkenntnisse daraus gewinnen wollen“ (Be-
richt der Informellen Hochrangigen Beratenden Gruppe zur Zukunft der Euro-
päischen Innenpolitik, Juni 2008).
Auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit europäischer und US-amerikani-
scher Geheimdienste lohnt ein Blick in das Papier der „Zukunftsgruppe“. Ein
eigenes Kapitel widmet sich einer „Umsetzung der externen Dimension der In-
nenpolitik“. Die Zusammenarbeit mit den USA soll demnach in der „Schaffung
eines gemeinsamen transatlantischen Raums“ zum Datentausch münden. Im
späteren „Stockholmer Programm“ wird gelobt, die Zusammenarbeit mit den
USA sei „in den vergangenen zehn Jahren intensiviert worden, u. a. in sämt-
lichen Fragen des Bereichs Freiheit, Sicherheit und Recht“. Vereinbart wird, dies
unter jedem Vorsitz mit regelmäßigen Treffen „von Ministertroikas und hohen
Beamten“ fortzuführen.
Analog dem damaligen portugiesischen EU-Vorsitz hat jetzt auch Litauen ein
erstes Papier zur Zukunft der europäischen Innenpolitik vorgelegt (http://tinyurl.
com/kbke3t3). In einem Fragebogen sollen die Regierungen aller Mitglied-
staaten der Europäischen Union erklären, wie sie das „Stockholmer Programm“
beurteilen und welche neuen Prioritäten in den Bereichen „Asyl, Migration und

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/150
Sicherheitspolitik“ gewünscht werden. Im Juni 2014 will der Rat der Europäi-
schen Union endgültig über eine Fortführung der früheren Fünfjahrespläne ent-
scheiden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche neueren Überlegungen existieren hinsichtlich der Frage, ob im Jahr

2014 ein neuer Mehrjahresplan als Folge des „Stockholmer Programms“
verabschiedet werden soll?

2. Wie haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union hierzu bislang
positioniert?

3. Ist die Bundesregierung mittlerweile zu einer Positionierung hinsichtlich
eines „Post-Stockholmer Programms“ gelangt, und wie sollte dieses dem-
nach im Hinblick auf thematische und regionale Prioritäten ausgestaltet
werden?

4. Wie hat sich die Bundesregierung „zur Thematik, ob und inwieweit es ein
Nachfolgeprogramm geben soll, frühzeitig auf EU-Ebene“ eingebracht
(Bundestagsdrucksache 17/13442 )?

5. Welche Antworten hat die Bundesregierung auf ein Papier versandt, in dem
die Präsidentschaft Litauens die Strukturierung der Diskussion um ein wei-
teres Mehrjahresprogramm erleichtern wollte (Ratsdokument 14898/13)?
a) Was hat sich im Bereich Justiz seit dem Stockholmer Programm aus ihrer

Sicht geändert, und was sind die besonderen Herausforderungen?
b) Was sind die aus ihrer Sicht wichtigsten drei strategischen Prioritäten im

Bereich Justiz für die Post-Stockholm-Strategie?
c) Welche drei Grundprinzipien sollten der Post-Stockholm-Strategie aus

ihrer Sicht zugrunde gelegt werden?
6. Sofern hierzu (noch) keine Antworten versandt wurden, welche Haltung

vertritt die Bundesregierung zu den Fragen?
7. Welche Positionen des „Stockholmer Programms“ haben aus Sicht der Bun-

desregierung weiterhin Gültigkeit, und welche gelten als erreicht oder über-
holt?

8. Wie hat sich die Bundesregierung gegenüber den Innenministern der Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union auf Ebene des Rates für Justiz und
Inneres (JI-Rat) im zweiten Halbjahr 2013 zur Auswertung des „Stockhol-
mer Programms“ und zur Frage seiner Nachfolge positioniert?

9. Was haben die übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union hierzu nach
Erinnerung bzw. Kenntnis der Bundesregierung zum JI-Rat in Vilnius bzw.
in dessen Vorfeld oder im Nachgang oder zum JI-Rat im Oktober 2013 in
Luxemburg mitgeteilt (bitte jeweils nach Belgien, Bulgarien, Dänemark,
Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lett-
land, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal,
Rumänien, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechische Repu-
blik, Ungarn, Großbritannien, Zypern aufschlüsseln bzw. alternativ entspre-
chende Protokolle beilegen)?

10. Was ist der Bundesregierung zur Haltung der Europäischen Kommission,
der Agenturen FRONTEX (Europäische Agentur für die operative Zusam-
menarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union) und Europol (Europäisches Polizeiamt) sowie des Europäischen
Auswärtigen Dienstes (EAD) bekannt (sofern hierüber keine allgemeinen
Kenntnisse existieren, bitte wenigstens für den Bereich „Externe Beziehun-
gen“ angeben)?

Drucksache 18/150 – 4 – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode
11. Was haben die Bundesregierung, die übrigen Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union sowie die Europäische Kommission, die Agenturen
FRONTEX und Europol sowie der EAD zur Frage der weiteren strate-
gischen und thematischen Leitlinien mitgeteilt, und welche Schwerpunkte
wurden jeweils gesetzt?

12. Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass ein Stockholm-
Nachfolgeprogramm weniger detailreich ausgestaltet werden sollte?

13. Was ist damit konkret gemeint, wenn die Bundesregierung im Nachbericht
(25. Juli 2013) des Bundesministeriums der Justiz über den Informellen Rat
der Europäischen Union am 18. und 19. Juli 2013 in Vilnius davon spricht,
dem EU-Datenschutzpaket „eine volle Dynamik zu verleihen“, und wie soll
dies umgesetzt werden?
a) Welchen Inhalt hat ein gemeinsam mit Frankreich hierzu verfasstes

Papier?
b) Von wem wurde dies mittlerweile mit welchem Inhalt beantwortet?
c) Wie sollte trotz der fehlenden Kompetenz der Europäischen Union für

nachrichtendienstliche Fragen eine „Stärkung der Rechte der Bürgerin-
nen und Bürger durch gemeinsame Standards für Nachrichtendienste“
durch den Rat „im Wege der intergouvernementalen Zusammenarbeit“
nach Ansicht der Bundesregierung konkret ausgestaltet werden?

14. Welche Haltung vertritt die Bundesregierung zur Frage, inwiefern auch die
Ratsformationen COSI, CATS und SCIFA mit der konkreten Ausarbeitung
einer „Post-Stockholm-Strategie“ beauftragt werden sollten?

15. Inwiefern bzw. aus welchem Grund trifft es zu, dass die Behandlung des
Themas zunächst nur als Informationspunkt im kommenden JI-Treffen vor-
gesehen war, nun aber als ordentlicher Tagesordnungspunkt aufgenommen
wurde?

16. Wann und wo wird die Frage der Nachfolge des „Stockholmer Programms“
nach Kenntnis der Bundesregierung weiter beraten, und wann und wo wird
darüber entschieden?

17. Welche Inhalte oder Tagesordnungspunkte sind der Bundesregierung zu
den weiteren Treffen bekannt (bitte insbesondere für das Treffen am 20. Ja-
nuar 2014 in Berlin angeben)?

18. Wann wird nach Kenntnis der Bundesregierung mit entsprechenden Mittei-
lungen der Europäischen Kommission gerechnet, und welche Angaben zum
weiteren Procedere sind ihr diesbezüglich bekannt?

Berlin, den 28. November 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.