BT-Drucksache 18/13435

Rentenrechtliche Würdigung verfolgter deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger polnischer Herkunft sowie polnischer Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter

Vom 25. August 2017


Deutscher Bundestag Drucksache 18/13435
18. Wahlperiode 25.08.2017

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Azize Tank, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W. Birkwald, Andrej Hunko, Niema Movassat, Kathrin Vogler,
Pia Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Rentenrechtliche Würdigung verfolgter deutscher Staatsbürgerinnen und
Staatsbürger polnischer Herkunft sowie polnischer Zivilarbeiterinnen und
Zivilarbeiter

Noch immer erhalten viele Polinnen und Polen, die während des Nationalsozia-
lismus verfolgt, zwangsgermanisiert oder deren Arbeitsleistung von Deutschen
ausgebeutet wurde, keine Rente für die Zeit ihrer damaligen Beschäftigung, ob-
wohl sie Beitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung erworben haben und
diese Arbeit keine Zwangsarbeit war. Dies betrifft insbesondere ehemals deutsche
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger polnischer Herkunft (Polonia). Obwohl viele
Vertreterinnen und Vertreter der Polonia Repressalien des NS-Regimes ausge-
setzt und in deutschen Konzentrationslagern misshandelt und ermordet worden
sind, werden sie bis heute nicht als rassisch NS-Verfolgte anerkannt. Das Bun-
desentschädigungsgesetz hat Polen und Angehörige anderer slawischer Nationen
von Ansprüchen auf Entschädigung wegen rassischer Verfolgung ausgeschlos-
sen. Eine Entschädigung von der Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“
(poln. Fundacja „Polsko-Niemieckie Pojednanie“ – FPNP) ist dabei ausgeschlos-
sen, da diese Personen bis zur Befreiung im Jahre 1945 als deutsche Staatsbürger
betrachtet werden.
Vor diesem Hintergrund wirkt sich insbesondere die Rechtlosstellung zahlreicher
polnischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, darunter auch Juden, Sinti und
Roma in der Sozialversicherung durch die sog. Ostgebiete-Verordnung besonders
gravierend aus. Dabei sollte auch auf die NS-Verfolgung von Polen im Zusam-
menhang mit dem Erlass der sog. Polenstrafrechtsverordnung vom 4. Dezember
1941 hingewiesen werden. Diese richtete sich gleichermaßen gegen Juden und
Polen. Bei den Nürnberger Nachfolgeprozessen wurden deren Bestimmungen als
Verbrechen gegen die Menschlichkeit subsumiert.
Auch die Nachkommen der politisch und rassisch verfolgten Polonia-Mitglieder
wurden oftmals Maßnahmen der Zwangsgermanisierung ausgesetzt. Obwohl ge-
naue Zahlen bis heute fehlen, wird geschätzt, dass bis zu 200 000 Kinder aus Po-
len eingedeutscht wurden. Die ehemals zwangsgermanisierten, polnischen Staats-
bürgerinnen und Staatsbürger haben dabei oft nach der Entführung ins Deutsche
Reich im deutschen Rentenversicherungssystem Beiträge abgeführt und nach der
Befreiung ihren Wohnsitz in Polen genommen.
Ähnlich wie deutsche Staatbürgerinnen und Staatsbürger polnischer Herkunft un-
terlagen dabei grundsätzlich auch polnische Zivilarbeitende, wie alle anderen aus-
ländischen Zivilarbeitenden, der Sozialversicherungspflicht gemäß der Reichs-

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versicherungsordnung (RVO). In einem Schreiben des damaligen Reichsarbeits-
ministers vom 14. November 1939 wird klargestellt, dass polnische Staatsange-
hörige, die keine Kriegsgefangenen sind und „im Inland eine Beschäftigung aus-
üben und Tariflohn beziehen, nach den allgemeinen Vorschriften versicherungs-
pflichtig sind“ (RABl. 1939 IV, S. 517). Polnische Arbeitskräfte, die aus den in
das Deutsche Reich eingegliederten polnischen Gebieten stammen, waren sowohl
beim Einsatz in der Industrie, im Baugewerbe, im Handwerk und im Handel so-
wie auch in der Land- und Forstwirtschaft, ohne dass hier Besonderheiten galten,
in der Rentenversicherung versicherungspflichtig. In der „Anordnung über die
arbeitsrechtliche Behandlung der polnischen Beschäftigten“ vom 5. Oktober
1941 ist geregelt, dass Vereinbarungen über die Altersversorgung neben den ge-
setzlichen Bestimmungen nicht getroffen werden dürfen. Das heißt, es gelten die
gesetzlichen Bestimmungen über die Rentenversicherung auch für polnische Be-
schäftigte, eine Zusatzversicherung/Betriebsrente ist untersagt (§ 6, Deutscher
Rechtsanzeiger Nr. 235 vom 8. Oktober 1941).
Auch sog. Ostarbeiter, also Arbeitskräfte aus dem besetzten Teil der Sowjetunion
waren ab dem 1. April 1944 (bei monatlicher Lohnzahlung) bzw. ab 3. April 1944
(bei wöchentlicher Lohnzahlung) gemäß § 11 der Verordnung über die Einsatz-
bedingungen der Ostarbeiter vom 25. März 1944 (RGBl. I, S. 68) verpflichtet,
„Sozialversicherungsbeiträge nach den Vorschriften der Reichversicherungsge-
setze zu entrichten“.
Ungeachtet des deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens vom 9. Ok-
tober 1975 ermöglicht seit 5. Dezember 2014 das deutsch-polnische „Abkommen
zum Export besonderer Leistungen für berechtigte Personen, die im Hoheitsge-
biet der Republik Polen wohnhaft sind“ auch die Auszahlung von Renten aus ei-
ner Beschäftigung im nationalsozialistischen Einflussbereich an ehemalige NS-
Verfolgte mit Wohnsitz in Polen. Analog könnten die in der deutschen Renten-
versicherung erworbenen Beitragszeiten, die bislang keinerlei rentenrechtliche
Berücksichtigung finden, an die betroffenen Personen mit Wohnsitz in Polen aus-
gezahlt werden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Welche konkreten Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um die in

der deutschen Rentenversicherung während der NS-Zeit erworbenen Bei-
tragszeiten in Form einer Rente gegenüber Personen mit Wohnsitz in Polen
auszuzahlen, die während der NS-Verfolgung als Polen rassisch oder poli-
tisch verfolgt wurden und nachweislich im sog. Deutschen Reich bzw. in ei-
nem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs beschäftigt waren?

2. Welche konkreten Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um die in
der deutschen Rentenversicherung während der NS-Zeit erworbenen Bei-
tragszeiten in Form einer Rente gegenüber Personen mit Wohnsitz in Polen
auszuzahlen, die während der NS-Verfolgung als Zivilarbeiterinnen und Zi-
vilarbeiter nachweislich im sog. Deutschen Reich bzw. in einem Gebiet des
nationalsozialistischen Einflussbereichs beschäftigt waren?

3. Wie oft hat die Deutsche Rentenversicherung seit dem Jahr 2002 die in der
deutschen Rentenversicherung erworbenen Versicherungszeiten von Perso-
nen, die während der NS-Verfolgung als Polen rassisch oder politisch ver-
folgt wurden und im sog. Deutschen Reich bzw. in einem Gebiet des natio-
nalsozialistischen Einflussbereichs beschäftigt waren, festgestellt, damit die
betroffenen Personen mit Wohnsitz in Polen eine Beitragserstattung erhalten
können?

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 3 – Drucksache 18/13435
4. Wie viele polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die ehemals die
deutsche Staatsangehörigkeit besessen haben (Polonia), insbesondere
zwangsgermanisierte Personen, haben seit dem Jahr 2002 einen Antrag auf
Altersrente aus der deutschen Sozialversicherung gestellt (bitte nach Jahr der
Antragstellung, Wohnsitzland, Geburtsjahr und wie der Rentenantrag be-
schieden wurde aufschlüsseln)?

5. Welche Hinweise hat die Bundesregierung betreffend der Zahl der Klagen
polnischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die ehemals die deutsche
Staatsangehörigkeit besessen haben (Polonia), insbesondere zwangsgerma-
nisierte Personen oder deren Nachkommen, auf Entschädigung und Waisen-
rente vor deutschen Gerichten (bitte nach Jahr der Klage, Gerichtsstand, Ge-
burtsjahr und wie die Klage beschieden wurde aufschlüsseln)?

6. Welche Möglichkeiten bestehen, um den ehemals zwangsgermanisierten
polnischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern einen Zugang auf einmalige
oder monatliche Beihilfe auf Grundlage der Richtlinie der Bundesregierung
für die Vergabe von Mitteln an Verfolgte nicht jüdischer Abstammung zur
Abgeltung von Härten in Einzelfällen im Rahmen der Wiedergutmachung
vom 26. August 1981 mit nachfolgenden Änderungen zu gewähren?

7. Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen bzw. wel-
che Überlegungen angestellt bezüglich einer Restitution oder Entschädigung
für die in der NS-Zeit beschlagnahmten Immobilien oder Güter der polni-
schen Minderheit bzw. der damals daraus erzielten Erlöse?

8. Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung zur Ehrung und Re-
habilitierung der polnischen Minderheit, die im NS verfolgt wurde, seit dem
Jahr 2000 ergriffen?

9. Welche konkreten Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um die
Aufarbeitung der Verfolgung und Ermordung polnischer Staatsbürgerinnen
und Staatsbürger und deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger polni-
scher Abstammung während der NS-Zeit in der Gedenkstättenarbeit ange-
messen zu würdigen?

10. Beabsichtigt die Bundesregierung, gesetzliche oder andere Maßnahmen zu
ergreifen, damit der genannte Personenkreis, wie auch seine Familienange-
hörigen neben der moralischen Rehabilitation auch eine materielle Entschä-
digung für die erlittenen Haft- und Verfolgungszeiten erhalten?

Wenn nein, warum nicht?
11. Trifft es nach Einschätzung der Bundesregierung zu, dass Leistungsansprü-

che für Arbeitszeiten aus der Zeit der NS-Verfolgung verjährt sein sollen,
wie dies durch die Deutsche Rentenversicherung u. a. unter Berufung auf die
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ den ehemals Zwangsger-
manisierten als Begründung für die Verweigerung eines Anspruchs auf Al-
tersrente aus dem System der deutschen Sozialversicherung mitgeteilt wird
(vgl. den Fall Arkadiusz Różański, geb. 4. April 1926, der als Zwangsger-
manisierter nachweislich in der Möbelfabrik Wilsmeier in Lemgo vom
6. November 1941 bis 31. März 1945 sozialversichert beschäftigt wurde,
Quelle: Bürgeranfrage)?

12. Wie viele Anträge auf Waisenrente bzw. Witwenrente wurden seit dem Jahr
2002 von Personen wegen der Ermordung der Eltern bzw. der Ehegatten ge-
stellt, die als Polonia-Angehörige während des NS verfolgt wurden (vgl. Fall
Stanisław Michalski, geb. 7. Mai 1936, dessen Vater im KZ Dachau ermor-
det wurde, Quelle: Bürgeranfrage)?

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13. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die sogenannte Ostgebiete-

Verordnung vom 22. Dezember 1941 als fundamentaler Verstoß gegen die
Prinzipien der Gerechtigkeit als von Anfang an nichtig anzusehen ist, da sie
eine besondere Ausprägung rassistischer Rechtsetzung des NS durch Recht-
los-Stellung von Juden, Sinti und Roma sowie Polen darstellt?

14. Was unternimmt die Bundesregierung, um die Folgen der während des NS
staatlich sanktionierten Verdrängung des Sozialversicherungsrechts gegen-
über polnischen Staatsbürgern, deren Arbeitsleistung im Rahmen typischer-
weise sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung durch Deutsche ausge-
beutet wurde, durch einen rentenrechtliche Lösung wiedergutzumachen?

15. Was unternimmt die Bundesregierung, um ehemals zwangsgermanisierte
Kinder bei der Suche nach ihren Familienangehörigen zu unterstützen und
den Zugang zu standesamtlichen Dokumenten zu vereinfachen?

16. Was unternimmt die Bundesregierung, damit Überlebende der Shoah, die
nach der Befreiung während ihrer Zeit in Displaced Persons Camps (DP) in
der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt waren, Beiträge zur deutschen
Rentenversicherung gegebenenfalls rückerstattet bekommen?

Berlin, den 25. August 2017

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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